6 Freya

Am folgenden Tag teilten die Geschwister Siebert dem Rechtsanwalt mit, dass sie ihr Erbe antreten würden. Doktor Schneider schien sich darüber aufrichtig zu freuen. Freya hatte ein mulmiges Gefühl. Ihr Enthusiasmus, der sie am Vorabend absolut überzeugt hatte sein lassen, schien im hellen Tageslicht zu verpuffen. Als sie jetzt nach der Rückkehr von der Kanzlei mit Stift und Papier durch Garten, Gastraum und Küche schritt, um eine Bestandsaufnahme zu machen, nagten Zweifel an ihr. Riskierten sie ein finanzielles Debakel? Wie es aussah, gab es eigentlich nichts, das so bleiben konnte, wie es war. Die Gästetoiletten entsprachen nicht mehr dem vorgeschriebenen Standard. Und nicht nur die Bestuhlung im Garten bedurfte einer Generalüberholung, auch die im Gastraum drinnen sah mitgenommen aus. Dennoch verströmte der Fischerfleck eine Art morbiden bayerischen Zauber. Und den Zauber wollte Freya unbedingt erhalten, darauf standen die Leute aus der Stadt. Aber das Morbide sollte tunlichst verschwinden. Vielleicht durch nostalgischen Charme ersetzt werden? Oder durch eine Mischung aus Vintage und hip? Freya seufzte und setzte den Boden des Eingangsbereichs mit auf ihre Liste. Der war zwar wunderschön mit blau-gelben Kacheln gefliest, aber seine Patina musste in einer umfassenden Putzaktion unbedingt entfernt werden. Und zwar mit einem Hochdruckreiniger. Hatte hier überhaupt mal irgendjemand in den letzten Jahren gewischt? Der Ausdruck Männerwirtschaft kam ihr in den Sinn, aber das war auch keine Entschuldigung.

»Ist Tobias schon wieder zurück nach München gefahren?«, fragte sie Niklas, als er mit einer frischen Ladung Räucherfisch hereinkam – Saiblinge, die an Haken von einer Stange hingen. Niklas trug sie mit ausgestreckten Armen in die Küche. Freya folgte ihm.

»Ja, er muss heute Abend wieder arbeiten.«

»Meinst du, er macht wirklich, was wir besprochen haben?«

Auf Niklas’ Jeans und Pullover prangten Rußflecken vom Räucherofen und auf dem Kopf trug er eine Beaniemütze, die ihm das Haar aus der Stirn hielt.

»Klar.« Er legte die Stange mit dem einen Ende auf der Arbeitsplatte, mit dem anderen auf der Rückenlehne eines Küchenstuhls ab und begann, die Fische abzunehmen. Vorsichtig entfernte er die Räucherhaken. »Unterschätze seine Kontakte nicht. Wenn Tobias sagt, dass er den Münchnern schon mal vom zukünftigen Szenetreff am Walchensee vorschwärmt, der pünktlich zur Sommersaison aufsperrt, dann kannst du dir sicher sein, dass alle Bescheid wissen, wenn es losgeht.«

»Es beruhigt mich sehr, dass Doktor Schneider gemeint hat, es würde nichts dagegensprechen, wenn Tobias und wir beide zusammen Geschäftsführer werden. Also wegen Papas komischer Formulierung im Testament, meine ich.«

»Wir zwei müssen halt Besitzer und Eigentümer der Immobilie bleiben und die Gaststätte betreiben. Tobias kann wie wir Geschäftsführer sein. Aber ihm dürfen keine Anteile vom Fischerfleck gehören.«

»Diese rechtlichen Spitzfindigkeiten …« Freya seufzte. Glücklicherweise hatte der Anwalt ihnen alles erklärt und angeboten, sich um die notwendigen Verträge zu kümmern. Nun sollten sie sich auf das konzentrieren, was sie beeinflussen und ausrichten konnten.

Mit spitzen Fingern zog Niklas einen Zettel aus der Hosentasche.

»Was machst du denn da?« Freya konnte kaum mit ansehen, wie er das Papier beim Versuch, es auseinanderzufalten, voller Ruß schmierte.

»Die Bestellungen vorbereiten.«

»Du meinst, all diese Fische sind schon verkauft?«

»Ja. Die Renken von der letzten Räucherung sind komplett weg und die frischen Saiblinge hier, bis auf zwei oder drei, alle vorbestellt.«

Freya nahm das Blatt Papier und las vor. »Kaiserhof fünfzehn Stück, Hotel Alpenrose zehn Stück, Gasthof Seeblick zwanzig Stück …«

»Halt, nicht so schnell. Hol doch bitte den Stapel alter Zeitungen aus dem Regal in der Speisekammer. Dann wickeln wir die Fische gleich ein, und ich kann sie ausliefern.«

Freya hatte sich beim Durchsehen des Vorratsraums schon gefragt, warum Niklas einen Berg alter Tageszeitungen angehäuft hatte.

»Du lieferst sie aus? Wäre es nicht einfacher, die Leute würden sich ihre Bestellung hier abholen?«

»Das nennt man Service, Freya. Es kommt gut an, dass ich meine Fische direkt zu den Hotels und Gaststätten fahre. Außerdem haben wir es immer schon so gemacht.« Es klang ein wenig schroff, wie er das sagte. Wahrscheinlich nervte es ihn, dass seine Schwester alles hinterfragte und sich überall einmischte. Aber sie wollte sich einen umfassenden Überblick verschaffen, um zu wissen, wo sie standen. Das mulmige Gefühl kehrte zurück. Würden sie es wirklich schaffen, einen richtigen Neuanfang zu machen? Hätten sie sich das doch besser überlegen müssen? Waren sie zu leichtsinnig und rissen den armen Tobias mit ins finanzielle Verderben? So durfte sie nicht denken. Für Zweifel gab es keinen Platz mehr, nun galt es, voller Überzeugung und Entschlossenheit, die Sache voranzutreiben.

»Fährst du morgen früh mit mir hinaus auf den See?«

Niklas’ Frage kam überraschend. Freya zögerte. Eigentlich wollte sie versuchen, eine Bekannte in Stockholm zu erreichen, die ein Café im Bezirk Södermalm betrieb. Mit ihrer ansprechend gestalteten Internetseite und ihren ebenso regelmäßigen wie coolen Instagram-Posts konnte sie sich teure Werbung sparen. Sie sprach gezielt nur das Publikum an, das sie auch in ihrem Lokal haben wollte. Freya wollte sich am nächsten Tag den Internetauftritt genau angucken und die Freundin anrufen, um ihr ein paar Fragen dazu zu stellen. Bestimmt würde ihr das Ideen geben, wenn es um das Marketing für den neuen Fischerfleck ging. Denn sie wollte zur Neueröffnung in den sozialen Medien präsent sein, um den Fischerfleck bewerben zu können. Den Anruf bei ihrer Freundin konnte sie zwar problemlos verschieben, dennoch war Freya von Niklas’ Vorschlag nicht wirklich begeistert.

»Das hat mir, ehrlich gesagt, früher schon keinen großen Spaß gemacht. Papa hat immer gesagt, ich soll still sein, weil ich sonst die Fische vertreibe. Und meistens war es kalt und klamm.«

»Kalt und klamm ist es nach wie vor. Aber wir könnten uns auf dem Boot unterhalten. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn du mitkommst.«

In seinen Worten klang ein Nachdruck, der Freya spüren ließ, wie wichtig es ihm war. Also erklärte sie sich einverstanden und stand tags darauf um kurz nach vier Uhr morgens fertig angezogen im Hausflur bereit. Draußen war es stockdunkel. So würde es auch noch eine Weile bleiben. Nicht einmal die Vögel waren schon wach und bereit, ihr morgendliches Gezwitscher anzustimmen.

Niklas gab Freya einen Rucksack, den sie schicksalsergeben schulterte. Müde trottete sie hinter ihrem Bruder hinunter zum kleinen Bootshaus, wo sie Eimer, Plastikwannen und weitere Gerätschaften einluden. Dann kletterte Freya zögerlich in das wackelnde Boot, das ihr Bruder stabil zu halten versuchte.

»Warum ist das Boot so leise?«, fragte Freya, nachdem sie einige Meter gefahren waren.

»Es hat einen Elektromotor. Hat Papa voriges Jahr gekauft.«

Niklas steuerte weit hinaus aufs offene Wasser. Irgendwie gefiel Freya diese Stille, so ganz ohne den Lärm eines Benzinmotors. Wie Niklas in der Dunkelheit navigierte, war ihr schleierhaft. Lediglich die beiden Stirnlampen, die sie über ihren Mützen trugen, spendeten Licht. Und das nur in einem winzigen Radius. Der Wind pfiff kalt, und Freya war froh, dass Niklas ihr einen Anorak geliehen hatte, nachdem er einen kurzen Blick auf ihre viel zu dünne Jacke geworfen hatte. Freya machte sich auf ihrem Sitz so klein wie möglich und kuschelte sich in das übergroße Kleidungsstück. Stumm glitten sie übers Wasser, und Freya beschlich der Verdacht, dass dieser Ausflug ebenso einsilbig bleiben würde wie die früher mit ihrem Vater. Schließlich erreichten sie das erste Stellnetz, das durch eine Boje gekennzeichnet war.

»Das ist wohl die berühmte Nadel im Heuhaufen«, murmelte sie.

Niklas lachte leise. »Wenn du erst mal mehr Erfahrung hast, wirst du die auch problemlos finden. Außerdem, wenn man die Netze selber gesetzt hat, erinnert man sich meistens an ihre Position. Und falls nicht, gibt es immer noch GPS

»Wie kommst du auf die Idee, ich könnte mehr Erfahrung im Fischen haben wollen?« Nichts lag ihr ferner. Freya fröstelte.

Ihr Bruder ignorierte ihren Einwand. Er brauchte Hilfe beim Einholen. Zumindest behauptete er das, und Freya ging ihm zögerlich zur Hand. Es war nicht einfach, das schwere Netz aus dem Wasser zu hieven, Stück für Stück auf das wackelige Boot zu ziehen und die Fische aus den Maschen zu lösen. Gut, dass die Wannen relativ groß waren. Es wäre ihr dann doch unangenehm gewesen, wenn ein Großteil des Fangs wegen ihrer Ungeschicklichkeit wieder über Bord gegangen wäre. Die Arbeit forderte Freyas volle Konzentration, und schließlich hatten sie das Netz geleert. Niklas nickte anerkennend.

»Das erste haben wir geschafft«, sagte er. »Und weiter geht’s!«

Freya wagte nicht zu fragen, wie viele Netze sie noch abklappern mussten. Verfroren kauerte sie sich wieder auf die Sitzbank. Ihre Finger fühlten sich an wie Eiszapfen.

Doch anstatt sofort zur nächsten Boje zu fahren, stellte Niklas nach einer Weile den Motor mitten auf dem See aus, kletterte über eine mit Fischen gefüllte Wasserwanne und setzte sich neben seine Schwester. Das Boot schwankte dabei bedenklich. Er griff nach dem Rucksack, kramte darin herum und reichte Freya zwei Emaillebecher. Dann zog er eine Thermoskanne heraus und goss ein. Köstlicher Kaffeeduft stieg in Freyas Nase. Es kam ihr so vor, als hätte sie sich noch nie im Leben so sehr über ein Heißgetränk gefreut wie in diesem dunklen, kalten Moment auf dem See. Schulter an Schulter saßen die Geschwister im Boot und wärmten sich die Hände an den Bechern. Nachdem Freya einen Schluck von dem wohltuenden Getränk genommen hatte, fühlte sie sich schon viel besser.

»Und jetzt schau dort hinüber«, flüsterte Niklas und wies in die Ferne, die eben noch schwarz und unheimlich gewesen war. Allmählich tauchte die gezackte Silhouette der Bergkuppen wie aus dem Nichts auf, war erst dunkelgrau und wurde dann zusehends heller. Als die Sonne aufging, gab sie der Welt sachte ihre Farben zurück, bis sie sich mit einem warmen Leuchten die Hänge herunter auf den See ergoss und die Morgenröte Freya ein verzücktes Seufzen entlockte.

»Schön, nicht wahr? Das ist die beste Belohnung fürs frühe Aufstehen. Jedes Mal. Und hier draußen scheinen die Probleme weit weg zu sein.«

Freya verstand, was Niklas meinte. Auch sie musste zugeben, dass dieser Anblick sie zutiefst berührte.

»Ich mag dein neues Konzept. Wirklich! Aber nicht alles, was wir bisher am Fischerfleck gemacht haben, muss geändert werden, weißt du. Manche Dinge will ich beibehalten, wie sie sind.« Seine Stimme klang ernst.

»Hast du Sorge, dass es dann nicht mehr deins ist, wenn wir modernisieren?« Hatte er deshalb mit ihr rausfahren wollen? Damit sie sah, wie schön alles auch so schon war?

»Sorge ist es nicht. Eher Skepsis. Versteh mich nicht falsch, ich bin durchaus für Veränderung und für eine Anpassung an die Gegebenheiten. Der Fischerfleck kann und darf auf keinen Fall weiter vor sich hin dümpeln. Aber die Umstellung sollte irgendwie harmonisch ablaufen, finde ich, nicht erzwungen oder übertrieben sein. Nimm zum Beispiel die Fischerei. Ich beliefere fast alle Restaurants am See. Dazu verkaufe ich viel Räucherfisch. Die anderen Familien mit offizieller Fischereierlaubnis machen das ebenfalls. So ist es immer schon gewesen. Und dann gibt es auch noch die Hobbyangler. Damit die Fischbestände im Walchensee konstant bleiben, kümmere ich mich im Bruthaus um eine nachhaltige Nachzucht. Ich will dafür sorgen, dass das Gleichgewicht erhalten bleibt, und dabei nicht zu sehr in der Natur herumpfuschen.«

»Was sind das für Fische?«, fragte Freya und zeigte auf die Wanne.

»Hauptsächlich Renken, Seeforellen, Saiblinge und ein paar Barsche und Brachsen. Manchmal fange ich auch einen Hecht, den aber dann mit der Angel.«

»Meinst du, das Gleichgewicht könnte gefährdet sein, nur weil wir den Fischerfleck geschäftlich hochfahren?«

»Zumindest sollten wir uns darum bemühen, die Natur weiterhin zu respektieren.«

»Warum denkst du, das könnte schwierig werden?«

Freya zog die Lampe von ihrem Kopf, knipste sie aus und ließ ihren Blick über den See bis zu den Bergen schweifen. Sie war ergriffen von der Schönheit und der Ruhe, die sie umgab. Ein Gefühl von Verbundenheit kam in ihr auf. Sie genoss die Möglichkeit, hier draußen so ungestört mit Niklas reden zu können. Hier schienen die emotionalen Hürden verschwunden, die an Land zwischen ihnen standen. Die friedvolle Stimmung ließ keine Negativität zu.

Niklas sah sie an. »Ich frage mich, ob die Sorte Gäste, die wir uns wünschen, eine negative Wirkung auf uns haben wird. Diese reichen Städter mit Ansprüchen. Es klingt vielleicht albern, aber auch Tobias hat gemeint, er würde es nicht aushalten, immer nur mit diesen Leuten zusammen zu sein, die er aus den Münchner Sternerestaurants kennt. Dafür bin ich nicht der Typ, Freya. Ich geh fischen, wandern und Ski fahren. Klar feiere ich gern. Aber dazu treffe ich mich mit meinen Kumpels auf ein Bier, nicht auf Austern und Champagner. Und wenn es dann so kommen sollte und wir tatsächlich einen höheren Absatz an Fischen haben, werde ich Unterstützung bei der Fischerei und bei der Aufzucht brauchen. Und dann auch bei Verarbeitung und beim Verkauf. Es wird nicht reichen, nur im Gasthaus mehr Personal einzustellen.«

Das waren wichtige Punkte, die Freya bisher nicht bedacht hatte.

»Wir machen einen Schritt nach dem anderen«, versuchte sie ihren Bruder zu beruhigen. »Ich glaube sowieso nicht, dass wir von heute auf morgen total ausgebucht sein werden. Alles braucht seine Zeit.«

»Ich weiß. Tobias kann frühestens in drei Monaten starten, wegen seiner Kündigungsfrist in München.«

»Das passt. Ich glaube, es ist notwendig, dass wir den Fischerfleck zunächst einmal ganz schließen und einen Neuanfang ankündigen. Ich kümmere mich um unseren Internetauftritt und um die Werbung. In der Zwischenzeit renovieren wir den Gasthof und bereiten alles vor.«

Niklas goss sich Kaffee nach. »Wir beide?«

»Um Geld zu sparen, sollten wir so viel wie möglich selber machen. Allerdings wäre etwas Hilfe nicht schlecht.«

»Tobias hilft natürlich an seinen freien Tagen. Und ich könnte Lena fragen.«

Das erstaunte Freya. Ihre Cousine hatte doch sicher einen Beruf, von dem sie sich nicht einfach freimachen konnte. Hier ging es ja nicht nur um ein bisschen Putzen und Streichen am Wochenende. Andererseits würde ihnen jede Unterstützung helfen.

»Lena arbeitet auf dem Hof ihrer Eltern. Sie ist das einzige Kind und wird ihn mal übernehmen. Onkel Georg und Tante Gabi haben die Landwirtschaft mittlerweile reduziert und weniger Milchvieh. Dafür vermieten sie Ferienwohnungen in einem umgebauten Teil des Stalls. Die beiden sind ja noch ziemlich fit und können sicher eine Weile auf Lena verzichten, wenn wir ihnen erklären, weshalb. Ist ja für die Familie.«

»Ob Lena sich dazu bereit erklären wird?«

»Keine Sorge. Ich verstehe mich sehr gut mit ihr. Und wie ich sie kenne, ist sie froh über einen Tapetenwechsel.«

Niklas trank seinen Kaffee aus und räumte Tassen und Thermoskanne zurück in den Rucksack. Es fühlte sich gut an, Dinge mit ihm zu besprechen. Bisher hatte Freya ihre Übersetzungsaufträge online oder am Telefon akquiriert und dann allein zu Hause bearbeitet, die Menschen, mit denen sie beruflich zu tun hatte, nie wirklich getroffen. Das hier war etwas vollkommen anderes. Sie würden richtig zusammenarbeiten, sich gemeinsam die Hände schmutzig machen und all ihre Energie in ein Projekt stecken, das über ihre Zukunft entschied. Freya sah sich um. Die Sonne war vollständig aufgegangen. Leichter Dunst stieg aus dem Schilf am entfernten Ufer. Es versprach ein schöner Tag zu werden. Nicht nur durch das wärmende Getränk fühlte sich Freya belebt.

»Wenn wir den Fischerfleck schließen, müssen wir auch die Zeit bis zur Neueröffnung finanziell überbrücken«, warf Niklas ein. Zwischen seinen Augenbrauen erschien eine steile Falte. »Von der Bank kriegen wir nichts mehr. Im Gegenteil, die werden knallhart darauf bestehen, dass wir den Kredit bedienen.«

Auf der Fahrt zum nächsten Stellnetz dachte Freya nach. Sie hatte gut verdient in den letzten Jahren. Kein Vermögen, aber doch so viel, dass sie einen Teil hatte beiseitelegen können. War sie bereit, ihr Kapital in den Fischerfleck zu investieren? Sie hob den Blick, sah über den See, spürte den Wind auf ihrer Haut und wusste die Antwort. Ja, sie war dazu bereit.

»Dann machen wir das eben«, rief sie Niklas zu. »Oder sollen wir etwa kneifen?«

Er saß am hinteren Ende des Boots und steuerte. »Niemals. Wir ziehen es durch und zeigen allen, wozu wir fähig sind.«

Bis um halb sieben hatten sie sämtliche Stellnetze geleert und als sie den Anlegesteg am Fischerfleck erreichten, wartete eine Überraschung auf die Geschwister.

»Schau an, wer so früh schon unterwegs ist«, bemerkte Niklas und verzog das Gesicht. Laut rief er, »Sportlich, sportlich.«

»Guten Morgen. Ich wollte gerade mit meiner Joggingrunde starten, da habe ich dich reinfahren gesehen und auch, dass Freya mit an Bord ist.«

Jonas Hirschberg stand in Sportkleidung auf dem Steg und streckte die Hand aus, um Freya an Land zu helfen.

»Einen schönen guten Morgen. Ja, ich habe Niklas heute geholfen.« Sie lächelte, fühlte sich gut nach dem Gespräch mit ihrem Bruder, der frischen Luft und dem erfolgreichen Fischzug.

»Du scheinst ja schnell wieder Fuß zu fassen in deiner alten Heimat. Schön.«

»Gibt’s irgendeinen Grund, warum du hier bist?«, ging Niklas schroff dazwischen.

»Ich wollte Freya fragen, ob ich sie nachher zum Frühstück bei uns ins Sporthotel einladen darf. Und da du als großer Bruder gerade anwesend bist, kann ich auch gleich dein Einverständnis einholen.« Schelmisch blickte er zwischen den Geschwistern hin und her.

»Sie ist eine erwachsene Frau und braucht für ihre Entscheidungen nicht meine Zustimmung«, brummte Niklas. Es war mehr als offensichtlich, was er von dieser Einladung hielt.

»Das ist nett, ich komme gerne«, nahm Freya die Einladung an. »Aber erst muss ich Niklas mit dem Fang helfen und mich dann duschen. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich salonfähig bin.«

»Kein Problem. Sagen wir um neun Uhr?«

»Perfekt.«

»Dann drehe ich jetzt meine Runde und freue mich auf dich. Bis später.« Jonas steckte sich Earpods in die Ohren, hob zum Abschied die Hand und trabte locker davon in Richtung Zwergern. Freya sah ihm hinterher.

»Was der wohl wieder plant?«, brummte Niklas. Er sprang zurück ins Boot, nachdem er es festgemacht hatte, und reichte Freya Rucksack, Eimer und Gerätschaften, bevor sie zusammen die schwereren Wannen heraushievten.

»Vielleicht will er einfach Zeit mit mir verbringen, um mich besser kennenzulernen. Mal daran gedacht?«

»Oh, dass er dich besser kennenlernen will, glaube ich auf jeden Fall. Du entsprichst voll und ganz seinem Beuteschema.«

Genervt stemmte Freya die Hände in die Hüfte. »Was möchtest du mir sagen?«

Abwehrend hob Niklas seine Hände. »Nichts, ehrlich. Mach dir ruhig dein eigenes Bild von Jonas.«

»Das habe ich vor.«

»Aber sei nicht enttäuscht, wenn er versucht, dich auszuhorchen. Bestimmt gibt’s schon die ersten Gerüchte über den Fischerfleck . Hier bleibt nichts lang geheim. Und es würde mich sehr wundern, wenn ein Hirschberg etwas ohne Kalkül oder Hintergedanken macht.«

Diese Einschätzung ärgerte Freya und sie beschloss, sich von ihrem Bruder nicht beeinflussen zu lassen. Sie würde Jonas unvoreingenommen begegnen.