7 Freya

Obgleich Freya um neun Uhr bereits seit über fünf Stunden auf den Beinen war, fühlte sie sich kein bisschen müde. Dafür voller Energie und sehr hungrig. Mit einer gewissen Neugier kam sie am Sporthotel an. Was würde sie erwarten? Freya hatte sich für Jeans, ein schlichtes weißes T-Shirt und einen dunkelblauen Blazer entschieden. Die blonden Haare hatte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Ein typisch skandinavisch-minimalistisches Outfit, in dem sie sich immer gut fühlte, und das ihr für ein Frühstück im Hotel angemessen schick, jedoch nicht übertrieben erschien.

Jonas gefiel es offensichtlich, denn er machte ihr gleich ein Kompliment, als er Freya an der Rezeption begrüßte. Das Foyer war geschmackvoll gestaltet. Ein heller Holztresen mit kunstvoll geschnitzten Fronten verströmte in Kombination mit den Bodenholzdielen warmes, traditionelles Flair, das durch einen überdimensionalen Kristalllüster, der von der hohen Decke hing, elegant kontrastiert wurde. Das Personal trug ausnahmslos Tracht. Neben dem Eingang standen Bollerwagen aus rustikalem Korbgeflecht, mit denen das Gepäck der ankommenden Gäste auf die Zimmer transportiert wurde. Von der Rezeption aus konnte man den Barbereich sehen und weiter hinten durch offen stehende Glastüren, einen Teil der Seeterrasse.

»Wollen wir?«, fragte Jonas und führte Freya auf die Terrasse. Seine Hand lag sanft auf ihrem Rücken, als er sie vorbei an den Gästen zu ihrem Tisch geleitete. Ganz offensichtlich hatte auch er nach seiner Joggingrunde geduscht. Sein Haar war feucht, und er duftete dezent nach einem frischen, herben Männerparfüm, das Freya kannte, dessen Name ihr aber in dem Moment nicht einfiel. Das helle Blau seines Poloshirts betonte die Sonnenbräune seiner Haut. Es spannte an den Oberarmen und betonte seine Muskeln. In einer windgeschützten Ecke direkt an der Hauswand hatte Jonas den schönsten Tisch für sie eindecken lassen.

»Was für ein Ausblick«, schwärmte Freya. An die Terrasse schloss der Hotelgarten mit bunten Blumenbeeten und eine Liegewiese für die Gäste an, die direkt bis ans Seeufer reichte. Das Wasser glitzerte in der Morgensonne. An diesem klaren Tag zeichneten sich die Berge scharf gegen den Himmel ab.

»Stimmt, der Ausblick ist nicht zu verachten. Aber der vom Fischerfleck steht unserem in nichts nach.« Jonas rückte ihr den Stuhl zurecht, und sofort erschien ein Angestellter mit einem Tablett.

»Champagner?« Ohne auf ihre Antwort zu warten, nahm er dem Kellner die Gläser ab und reichte Freya eines. »Der gehört zu unserem Gourmetfrühstück. Ich dachte mir, das haben wir uns heute verdient, nachdem du schon beim Fischen warst und ich eine extralange Runde gelaufen bin.«

»Gern.« Sie prosteten einander zu. Zwar hätte Freya lieber zuerst etwas gegessen, Alkohol auf nüchternen Magen vertrug sie nicht so gut, aber sie ließ sich nichts anmerken.

»Ich habe mich ehrlich gefreut, dass du meine Einladung angenommen hast.«

»Nur weil das Verhältnis zwischen den Sieberts und den Hirschbergs nicht gerade das Rosigste ist, muss es zwischen uns beiden ja nicht zwangsweise genauso sein«, sagte Freya mit entwaffnender Direktheit.

Jonas verschluckte sich an seinem Champagner und musste husten. »Ah. Ja, da stimme ich dir zu«, pflichtete er ihr dann bei.

»Ich habe nachgedacht. Über uns. Und ich meine mich zu erinnern, dass wir tatsächlich Freunde waren, damals in der Grundschule.«

»Stimmt. Und unsere Väter waren ebenfalls befreundet. Dein Papa hat dich oft hierher zum Spielen gebracht. Dort unten, wo sich jetzt die Gartenbar befindet, waren eine Rutsche und ein Sandkasten. Und manchmal war auch noch ein Mädchen dabei …« Er stockte.

»Rosalie«, half Freya ihm auf die Sprünge.

»Ja. Stimmt.« Er trank einen Schluck von seinem Champagner und es entstand ein betretenes Schweigen.

»Alles hat ganz anders ausgesehen,«, sagte Freya schließlich und nutzte den Moment, um sich umzuschauen. Die Gäste trugen Markenkleidung, Designerhandtaschen und teure Schuhe. Es schien fast so, als gäbe es einen Dresscode, denn das Erscheinungsbild der Urlauber war recht einheitlich. Beinahe alle Plätze auf der Terrasse waren besetzt, und beim Herausgehen hatte Freya bemerkt, dass auch drinnen gefrühstückt wurde. Es gab ein üppiges Buffet, das keine Wünsche offenließ, aber Jonas hatte dem Angestellten aufgetragen, ihnen direkt am Tisch zu servieren.

»Genau, du kennst noch das alte Hotel, das mein Vater von meinem Großvater übernommen hat. Ein, zwei Jahre, nachdem du weggezogen bist, hat er umfassend renoviert. Er wollte das erste Fünf-Sterne-Haus am See haben, und das hat er geschafft. Freilich musste er in der Zwischenzeit noch mal ordentlich nachinvestieren, um die Konkurrenz auf Abstand zu halten. Dafür ist unser Spa auch der beste weit und breit.«

Er sprach nicht ohne Stolz, aber es kam Freya nicht so vor, als wollte Jonas angeben. »Wenn du magst, zeige ich dir später das Hotel und den neuen Wellnessbereich.«

»Sehr gern.«

»Aber jetzt lassen wir uns erst mal das Frühstück schmecken.«

Ein himmlisches Omelett besänftigte Freyas Magenknurren sofort. Dazu gab es frisches Gebäck, Lachs und verschiedene Aufstriche. Sowohl auf dem Geschirr als auch auf den Stoffservietten prangte das Sporthotel-Logo, ein stilisiertes Wappen mit einem Hirsch und einem Berg darauf, umgeben von fünf Sternen. Sogar auf den Marmeladengläschen war das Logo zu finden mit dem Zusatz »hausgemacht«. Familie Hirschberg betrieb ein konsequentes und einprägsames Marketing. Es schadete nicht, sich umzusehen und Ideen für den Fischerfleck zu sammeln.

»Das war köstlich. Vielen Dank!«, lehnte sich Freya schließlich mit einem Seufzen zurück.

Während des Essens hatten Jonas und sie über Belangloses geplaudert. Doch sobald die Teller abgeräumt waren, beugte sich Jonas vor und wurde sehr persönlich.

»Ich habe gehört, dass du dauerhaft in Walchensee bleiben wirst. Ich finde das sehr gut. Aber was habt ihr eigentlich mit dem Fischerfleck vor? Man munkelt, ihr wollt ihn schließen. Das stimmt sicher nicht, oder?«

Hatte er sie deshalb mit einem Luxusfrühstück verwöhnt? Weil er sie ausfragen wollte? War der Argwohn ihres Bruders berechtigt? Freya sah Jonas lange an. Sie hatte nicht den Eindruck, als würde er ihr etwas vorspielen, er wirkte offen und ehrlich an ihr interessiert. Und er hielt ihrem Blick stand.

»Doch, das stimmt. Der Dorfklatsch, der hier anscheinend in Lichtgeschwindigkeit rumgeht, ist korrekt. Aber Niklas und ich sperren nur für eine Weile zu, um in Ruhe zu überlegen, wie wir weitermachen wollen.«

»Und weitergemacht wird auf jeden Fall?«

Sie lächelte, beugte sich nun ebenfalls vor und kam Jonas jetzt sehr nahe. »Da kannst du dir aber absolut sicher sein.«

Ein Schatten fiel auf den Tisch. »Schon halb elf, und du sitzt immer noch hier rum?«

An diese Stimme erinnerte sich Freya. Sie war kehlig und unangenehm laut. Noch bevor Jonas antworten konnte, sagte Freya: »Daran bin ich schuld, Herr Hirschberg. Ich habe Jonas aufgehalten.«

Die Jahre hatten es gut mit ihm gemeint. Paul Hirschberg musste mittlerweile die sechzig weit überschritten haben, er war ebenso sonnengebräunt wie sein Sohn, schlank und hatte immer noch volles, wenngleich schlohweißes Haar. Früher hatte er einen Schnauzbart getragen, der war inzwischen abrasiert.

»Dass sich eine Siebert noch mal zu uns auf die Terrasse verirrt, hätte ich nicht für möglich gehalten. Siehst aus wie deine Mutter, Freya, grüß dich.« Er hielt ihr die Hand hin. Sein Händedruck war fest.

»Ich habe sie zum Frühstück eingeladen«, erklärte Jonas.

»Du wirst im Wassersportcenter gebraucht.« Während er das sagte, sah Herr Hirschberg noch immer Freya an und nicht seinen Sohn. Sie empfand seinen Blick als unangenehm durchdringend. Er war einer von diesen Erwachsenen gewesen, die Kinder nicht wirklich wahrnahmen und wenn doch, dann nur, um sie als störend zu empfinden. Das hatte sie noch gut in Erinnerung. Und dass sie ihn nicht gemocht hatte. So sehr sie sich um Unvoreingenommenheit bemühte – daran hatte sich nichts geändert.

»Ich muss sowieso gehen«, sagte sie und stand auf. Dabei glitt Paul Hirschbergs Blick ungeniert über ihre Figur. Was für ein Kotzbrocken!

»Dann begleite ich dich hinaus.« Jonas erhob sich ebenfalls.

Sie verabschiedete sich von Paul Hirschberg, und im Hinausgehen flüsterte Jonas ihr zu: »Tut mir leid, ich hätte mich gern noch länger mit dir unterhalten und dir auch den Spa gezeigt. Aber Papa hat natürlich recht, ich muss rüber ins Center.«

Draußen vor dem Hotel unterdrückte Freya den Drang, tief durchzuatmen. Was für einen unangenehmen und dominanten Vater Jonas doch hatte. Dazu diese dröhnende Stimme, als müsste jeder hören, was der große Paul von sich zu geben hatte. Jonas hatte es nicht allzu gut getroffen, was seine Eltern anging. Der Vater wie auch die Mutter waren beide ziemlich eigenartige Typen. Freya konnte sich nicht vorstellen, dass Jonas als Kind viel zärtliche Zuwendung erfahren hatte. Allerdings war sie keine Psychologin, und die Familienstruktur der Hirschbergs ging sie nichts an. Das Treffen hier war jedenfalls interessant gewesen.

Sie warf einen Blick zurück. Hinter der gläsernen Eingangstür des Hotels standen Herr und Frau Hirschberg nebeneinander. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, seine Hände steckten in den Taschen seiner Hose und beide starrten sie ihnen hinterher, in ihren Blicken lag keine Freundlichkeit.

Freya zog ihr Fahrrad aus dem Ständer und schob es neben Jonas her, bis sie das Surfcenter erreichten.

»Vielen Dank für das schöne Frühstück«, sagte sie noch einmal.

»Gibst du mir deine Telefonnummer?«

»Natürlich.«

Er holte sein Handy aus der Tasche, und sie tippte ihre Nummer ein. Zum Abschied küsste Jonas sie wieder auf die Wangen, dabei kam er ihren Lippen so nah, dass sich ihrer beider Mundwinkel trafen. An einer platonischen Freundschaft war er eindeutig nicht interessiert.