14 Freya

Seitdem Freya es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, frühmorgens durch die Natur zu streifen, meisterte sie die Herausforderungen besser. Sie machte ganz bewusst einen Spaziergang, denn im Gegensatz zum Joggen bescherte ihr das langsame Gehen durch die schöne Landschaft ihrer Heimat innere Ausgeglichenheit und Freude. Weder achtete sie auf die zurückgelegten Kilometer und die überwundenen Höhenmeter, noch auf Puls oder Herzfrequenz. Sie trug nicht mal Outdoorkleidung. Und auf die Uhr sah sie ebenfalls nicht. Sie genoss die Zeit allein, nahm ihre Umgebung aufmerksam wahr, blieb oftmals an besonders schönen Stellen stehen und schaute einfach nur. So wie an diesem Morgen am Rand einer Wiese, auf der Klee und Löwenzahn blühten. Die Bienen hatten ihr Tagwerk bereits begonnen und summten über den bunten Blumen. Als Kind hatte Freya mit ihrer Mutter gern Margeriten gepflückt und daraus Kränze gewunden. Damals war ihr die Weite der Almwiesen unendlich erschienen. Mittlerweile wusste sie, wo sie endeten, sah den Horizont, aber schätzte das grüne Sommermeer umso mehr.

Natürlich hatte das Gespräch mit Onkel Georg und Tante Erika sie aufgewühlt. Dazu die überdimensionierte Bautafel, die geradezu wie eine Kampfansage wirkte. Warum mussten die Hirschbergs, die sowieso ein florierendes Unternehmen hatten, nun noch diese Strandlounge bauen? Steckten dahinter alte Animositäten, Neid, Geltungsbedürfnis? Was auch immer. Abgesehen von der Angst um den Fischerfleck , empfand Freya fast ein wenig Mitleid für die Nachmacher, die sich offenbar von einer kleinen Seegaststätte derart bedroht fühlten, dass sie ordentlich nachinvestierten.

Und was Jonas anging – er war eine Enttäuschung. Ärgerlich, dem nicht gleichgültiger begegnen zu können, hatte sie doch auf mehr Charakterstärke gehofft. Aber dass er tatsächlich nur als Familienspion ihre Nähe suchte, konnte sie sich kaum vorstellen. Bei ihren gelegentlichen Treffen waren sie nie über vereinzelte Küsse hinausgekommen. Und das nur, weil Freya nicht mehr Nähe zuließ. Es lag nicht an Schüchternheit ihrerseits oder daran, dass er es nicht versucht hätte, sondern schlichtweg an fehlender Anziehung. Sie spürte nicht das Verlangen nach körperlicher Nähe und schon gar nicht danach, mit Jonas ins Bett zu gehen. Er reizte sie nicht. Das spürte er genau, und Freya konnte ihm seinen Unmut anmerken, dennoch bat er sie immer wieder um ein weiteres Treffen. Mittlerweile war Jonas offener für ernstere Gespräche und ließ mehr zu als nur oberflächliches Geplaudere. Freya dachte an ihre letzte Unterhaltung, als sie ihm von ihrer Mutter erzählt hatte.

»Das kenne ich«, hatte er geantwortet. »Diese ständigen Erwartungen – was ich tun soll, wie ich mich verhalten soll. Und am Ende sind sie doch immer nur enttäuscht.«

»Hast du schon mal daran gedacht, dass es sinnlos ist, sich für ihre Anerkennung abzustrampeln? Weil sie so sehr in ihren eigenen Problemen gefangen sind, dass es ihnen überhaupt nicht in den Sinn kommt, ihrem Sohn Bedeutung beizumessen?«

Jonas hatte kurz nachgedacht, und Freya konnte exakt den Moment bestimmen, in dem er beschloss, sie nicht näher an sich heranzulassen. Jonas’ Augen bekamen einen distanzierten Ausdruck, die kleine Seelenschau war vorüber.

»Ich weiß nicht, was du meinst. Meine Eltern sind erfolgreiche Geschäftsleute. Natürlich erwarten die von ihrem Sohn nicht weniger Leistung, als sie selbst bringen.«

Und was war eigentlich mit ihm? Was erwartete sich Jonas Hirschberg von seinem Leben? War er zufrieden damit, dass Anette und Paul ihn praktisch ins Surfcenter abgeschoben hatten? Ein netter Laden, zweifellos, aber bei weitem nicht so wichtig wie das Sporthotel, in dem sie das Heft nicht aus der Hand gaben und an dessen Management sie den Junior auch mit seinen dreißig Jahren nicht ranließen? War ihm das bewusst? Litt er darunter? Oder begnügte er sich gern mit seinem Nimbus als cooler Surfer, weil er tatsächlich nicht das Zeug für das ganz große Geschäft hatte? Niemals würde Freya mit Jonas offen über dieses Thema reden können. Und eigentlich ging es sie auch nichts an. Sie hatte sich ihre eigene Meinung über Familie Hirschberg und besonders über Jonas gebildet. Ebenso wie ihr Verflossener Oskar schien er jemand zu sein, der mit seinem Leben nie wirklich zufrieden war. Noch ein egozentrischer, dauerfrustrierter Partner kam für sie nicht in Frage, diesen Fehler würde sie kein zweites Mal machen.

Freya lief auf einem schmalen Weg, der durch einen Mischwald steil bergauf führte. Es würde ein heißer Tag werden, aber unter dem schattigen Blätterdach der Bäume schimmerte noch der Tau auf den Gräsern, und es war bedeutend kühler. Schon um vier war Niklas aufgestanden und auf den See hinausgefahren, um die Netze einzuholen. Freya hatte ihn gehört, war aber gleich wieder eingeschlafen. Um sechs Uhr hatte sie dann selbst das Haus verlassen. In Stockholm undenkbar, dort war sie kaum aus den Federn gekommen. Aber am Walchensee war aus ihr eine Frühaufsteherin geworden.

In letzter Zeit besuchte sie am liebsten die Kesselbachfälle. Die waren zwar beileibe kein Geheimtipp, im Gegenteil, schon bald würde es hier von Wanderern nur so wimmeln. Doch um diese Zeit war noch alles friedlich. In dem von Bächen durchzogenen, bergigen Waldstück zwischen Kochel und Walchensee gab es zahlreiche kleine Wasserfälle. Manche davon waren bequem zu erreichen, aber Freya lief gern abseits der Forststraße und bergauf durch das Gehölz. Sie lauschte dem morgendlichen Wald. Vögel zwitscherten, bisweilen knackte ein Zweig unter ihren Füßen, und wenn sie auf Moos trat, verriet kein Laut ihre Anwesenheit. Das Tosen des Wassers wies ihr den Weg. Schnaufend legte sie die letzten Meter zurück, bis der Anblick des über Felsen und Steine hinabstürzenden Kesselbachs ihr wie immer ein glückseliges Lächeln entlockte. Freya trat nahe an das weiß schäumende Wasser heran, bis sie den feinen Sprühnebel auf ihrer Haut spürte. Es gab sicher größere und beeindruckendere Wasserfälle, aber vielleicht keinen, der so harmonisch mit dem Wald verschmolz wie dieser hier. Ein magischer Ort, der Freya mit Frieden und Ruhe erfüllte. Hier bekam sie die Zuversicht, die sie brauchte, um ihren Alltag zu meistern.

Um kurz nach acht war sie wieder daheim. Wahrscheinlich musste sie Niklas beim Ausnehmen der Fische helfen. Mittlerweile machte ihr das nichts mehr aus. Nur an den Geruch, der kaum von den Fingern zu waschen war, würde sie sich nie gewöhnen.

Aber sie fand ihren Bruder nicht. Er war weder hinter dem Haus noch lag sein Boot am Anlegesteg. Seltsam. Eigentlich müsste er längst zurück sein, hatte er doch gestern Abend gesagt, er würde nur ein Stellnetz leeren.

Auch nachdem Freya in der Küche Kaffee gekocht und für sie beide Honigbrote geschmiert hatte, war Niklas noch immer nicht aufgetaucht. Freya trug alles hinaus auf einen Tisch, trank ihre Tasse vorne auf dem Steg und spähte aufs Wasser. Das Elektroboot war kaum zu hören, aber vielleicht könnte sie es schon sehen. Doch da war nichts. Bestimmt kein Grund zur Sorge , dachte sie, vielleicht macht er eine Kaffeepause auf dem See. Sie beschloss, in der Zwischenzeit duschen zu gehen.

Freya beeilte sich, rannte mit nassen Haaren gleich wieder hinaus, schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und sah aufs Wasser. Immer noch nichts. Panik stieg in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu. Der See war unberechenbar, selbst dann, wenn er glatt wie ein Spiegel dalag. Erfolglos versuchte sie, die aufsteigende Angst niederzukämpfen. Ihr Atem beschleunigte sich, und sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Jetzt nur nicht durchdrehen. Vielleicht hatte er heute ausnahmsweise direkt im Bootshaus angelegt? Sie ging hinüber zu dem kleinen Holzgebäude, das sich im Schatten der hohen Bäume ans Ufer schmiegte. Das Elektroboot war auch hier nicht, nur ein verrosteter alter Kahn mit normalem Außenbordmotor lag da. Plötzlich hörte Freya ein Geräusch und lief zurück zum Haus.

»Niklas?«, rief sie, aber es war Tobias, der mit einer großen Kiste voller Gemüse vom Markt kam.

»Wie? Ist er noch nicht wieder da? Seit beinahe fünf Stunden? Das ist außergewöhnlich.« Er klang nicht annähernd so beunruhigt, wie Freya sich fühlte.

»Auf dem Handy habe ich ihn auch nicht erwischt. Na hoffentlich ist ihm nichts passiert.«

»Hat er denn versucht, dich zu erreichen?«, fragte Freya atemlos.

»Nein. Aber mach dir keine Sorgen. Falls etwas nicht in Ordnung wäre, würde er sich melden. Außerdem«, er wies auf das unbewegte Wasser, »was soll an einem Tag wie diesem schon passieren? Alles ist friedlich. Das Einzige wäre vermutlich, dass ihm der Strom seines Elektromotors ausgegangen ist. Oder vielleicht braucht er einfach länger, weil es so viel zu tun gibt?«

Freya schüttelte den Kopf. Sie merkte, wie ihre Handflächen vor Aufregung anfingen, feucht zu werden, und wischte sie an ihrer Hose ab. »Es war heute nur ein Netz draußen. Wir müssen ihn suchen, Tobias, bitte.«

»In Ordnung. Ich kann mir gut denken, dass du dem See nicht traust, aber glaub mir, er wird dir deinen Bruder nicht nehmen. Es gibt bestimmt einen vollkommen banalen Grund, warum Niklas noch nicht zurück ist. Unglück wiederholt sich nicht.«

»Ich hoffe, du hast recht.«

Sie liefen zum Bootshaus, und gemeinsam hoben sie das kleine alte Boot ins Wasser. Glücklicherweise stand ein gefüllter Benzinkanister bereit, und nach zwei, drei Versuchen sprang der Motor an.

»Weißt du, in welche Richtung er gefahren ist?«

»So ungefähr.« Freya konzentrierte sich. Sie war mittlerweile ein paarmal mit Niklas auf dem See gewesen. Gestern hatte er ihr erzählt, welches der Netze er einholen wollte. Hätte sie doch nur besser aufgepasst. Sie orientierte sich am Ufer, um Tobias zu sagen, wohin er steuern sollte. Am Himmel stand kein einziges Wölkchen, die Sonne gewann an Intensität und Freyas Befürchtungen stiegen mit jeder Minute, die sie erfolglos auf dem See herumfuhren. Falls ihrem Bruder etwas passiert war, würde sie das nicht verkraften. Es durfte einfach nicht sein. Sie mussten Niklas finden. Das gleiche wohlbekannte und verhasste Grauen wie damals bei Rosalie überkam Freya, und sie meinte, keine Luft mehr zu bekommen.

»Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht«, flüsterte sie wieder und wieder.

»Dort!«, rief Tobias plötzlich und wies auf einen Punkt in der Ferne. »Ich glaube, das ist sein Boot.«

Im Näherkommen bestätigte sich seine Vermutung. Doch wo war Niklas? Das Elektroboot trieb leer auf dem See. Ein Schluchzen entfuhr Freyas Kehle. Tobias drückte kurz ihre Hand.

»Warte ab«, sagte er leise. »Lass die Angst nicht gewinnen.«

Wie sollte sie sich dagegen wehren? Die Panik war übermächtig, ihr wurde schlecht.

Als sie das Boot beinahe erreicht hatten, rief Tobias: »Ich kann ihn sehen! Er liegt auf dem Boden.«

Freya schossen Tränen in die Augen. Ihr Bruder war nicht ertrunken. Nicht in jenen dunklen Tiefen verschwunden, die ihn womöglich nie wieder freigaben und Freya seit zwanzig Jahren mit Albträumen quälten. Die schrecklichste aller Möglichkeiten war nicht eingetreten.

Tobias steuerte den alten Kahn parallel und zog Niklas’ Boot heran. Er hielt es fest, damit Freya hinüberklettern konnte. Ihr Bruder lag bewusstlos auf dem Boden, seine Füße hatten sich im Netz verheddert, das er eingeholt hatte, und er blutete aus einer Platzwunde am Kopf.

»Er ist ohnmächtig, hat aber Gott sei Dank noch Puls.« Vorsichtig wischte Freya das Blut ab. »Die Wunde muss bestimmt genäht werden. Wir brauchen einen Krankenwagen.« Während sie telefonierte, vertäute Tobias die beiden Boote miteinander, dann machten sie sich auf den Rückweg. Freya kauerte neben ihrem Bruder, unter dessen Kopf sie vorsichtig eine Jacke geschoben hatte. Seine Augenlider flatterten.

»Niklas«, flüsterte sie, »hörst du mich?«

»Freya?« Er klang benommen. »Was ist passiert?«

»Das wollte ich dich fragen.«

Er versuchte sich aufzusetzen, sah Tobias und sank mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber erleichtert zurück. »Dieses verdammte Netz«, stieß er hervor. »Ich hab nicht aufgepasst, war in Gedanken, und irgendwie bin ich gestolpert. Dann ging das Licht aus.«

Am Ufer hörten sie schon die Sirene des Krankenwagens und sahen ihn zum Fischerfleck einbiegen. Tobias machte die Boote am Anlegesteg fest, zwei Sanitäter näherten sich im Laufschritt.

»Mir geht es gut, ich will nicht ins Krankenhaus«, brummte Niklas, als man ihn auf eine Trage hievte.

Tobias widersprach vehement. »Darüber wird nicht diskutiert. Falls du es nicht bemerkt hast, du bist verletzt, und außerdem warst du wer weiß wie lange ohne Bewusstsein.«

»Natürlich fährst du in die Klinik«, pflichtete Freya bei. »Und ich komme gleich hinterher.«

»Wir bringen ihn nach Garmisch«, erklärte ihr der ältere der beiden Sanitäter.

Er nannte Freya die Adresse, und schon stieg er ein und der Krankenwagen fuhr ab.

»Ich hole den Autoschlüssel«, sagte Freya und wollte ins Haus laufen.

»Moment«, Tobias hielt sie sanft an den Schultern fest und blickte ihr forschend ins Gesicht. »Du bist kreidebleich und zitterst. So setzt du dich nicht hinters Steuer. Wir fahren gleich gemeinsam hin. Aber zuerst kommst du mit rein, und ich bringe deinen Kreislauf in Schwung, bevor du auch noch umkippst.«

»Aber Niklas …«

»… ist in den besten Händen. Der wird im Krankenhaus erst mal aufgenommen und medizinisch versorgt. Das dauert. Ich vermute, sie werden ihn auf jeden Fall mindestens eine Nacht dabehalten. Wir müssen uns also nicht beeilen, du kannst gerade überhaupt nichts für deinen Bruder tun.«

Auf wackligen Beinen stakste Freya in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Tobias schnitt eine Scheibe Brot ab und bestrich sie dick mit dem Honig, der immer noch auf dem Tisch stand. »Alles aufessen. Dann hört dein Zittern auf.«

Dankbar biss Freya ins Brot und stellte beim Kauen fest, dass sie tatsächlich hungrig war. Wortlos schob Tobias ihr ein Glas seiner hausgemachten Limonade hin, das sie in einem Zug leerte. Ein paar Minuten später merkte sie, wie sich ihre verkrampften Muskeln langsam entspannten.

»Nach unserem Besuch bei Onkel Georg war Niklas total beunruhigt. Wir wissen, wie viel für den Fischerfleck auf dem Spiel steht, und nachdem alles reibungslos angelaufen ist, haben wir ehrlich gesagt nicht mit Gegenwind gerechnet. Die Pläne der Hirschbergs haben ihn einfach geschockt, glaube ich«, sagte Freya. »Ich wette, er war draußen auf dem See nicht bei der Sache, weil ihm das im Kopf herumspukt. Und dann passiert so was. Dabei hat er eigentlich noch Glück gehabt. Stell dir vor, er wäre ohnmächtig über Bord gegangen …« Mit erstickter Stimme brach sie ab. Schon wieder kamen ihr die Tränen.

Tobias setzte sich neben sie und reichte Freya ein Taschentuch. »Ist er aber nicht.«

Mit einem Mal spürte sie, wie erschöpft sie war.

»Ich weiß, dass das ein großer Schock für dich ist. Sicher hat dich das an das Unglück von damals erinnert«, sagte Tobias leise.

»Immer wenn ich glaube, meinen Frieden mit dem See machen zu können, schlägt er wieder zu.«

»Das stimmt nicht. Er ist nicht dein Feind. Niklas hat genug Erfahrung, um zu wissen, dass er da draußen nicht unaufmerksam sein darf. Er hat einen Fehler gemacht. Und der See hat auf ihn Acht gegeben, er hätte friedlicher nicht sein können. Es war überhaupt kein Wellengang.«

Warum sagte Tobias immer genau das Richtige?

Im Krankenhaus erfuhren sie, dass Niklas eine schwere Gehirnerschütterung hatte und auf jeden Fall dortbleiben musste.

»Drei, vier Tage hat der Arzt gesagt. Wenn’s schlecht läuft, sogar eine Woche. Aber das kommt für mich natürlich nicht in Frage«, informierte er seine Schwester. Mit einem dicken Verband um den Kopf lag er im Bett.

»Du machst, was die hier sagen.«

»Ich kann nicht so lang ausfallen. Wie wollt ihr das ohne mich schaffen?«

»Das wird schon gehen. Mach dir bitte keine Gedanken.« Sie setzte sich auf den Bettrand und streichelte ihrem Bruder über die Wange. »Wichtig ist, dass du gesund wirst. Ich war außer mir vor Sorge um dich. In Zukunft fährst du lieber nicht mehr allein raus.«

»Sobald die beiden Lehrlinge anfangen, ist das sowieso kein Thema mehr«, versuchte er, sie zu beruhigen.

Tobias stand am Fußende des Bettes. »Solange du hier bist, übernehmen Freya und ich deine Aufgaben, das schaffen wir locker.« Das war die Übertreibung des Tages, das wussten sie alle drei, aber nickten dennoch zustimmend.

Der Arzt betrat das Krankenzimmer und meinte, der Patient bräuchte Ruhe. Freya küsste Niklas auf die Stirn, und sie verabschiedeten sich.

Die Fahrt von Garmisch-Partenkirchen zurück nach Hause dauerte etwa eine halbe Stunde, während der Freya und Tobias zumeist schweigend ihren Gedanken nachhingen. Freya musterte Tobias unauffällig von der Seite. Er konzentrierte sich aufs Fahren, die Strecke war in diesem Abschnitt besonders kurvig. Mittlerweile kannte Freya ihn gut genug, um das leichte, aber sorgenvolle Runzeln seiner dunklen Brauen zu bemerken.

»Sollen wir den Fischerfleck heute geschlossen lassen?«, fragte sie.

»Das Mittagsgeschäft ist durch, aber später machen wir wie geplant auf. Ich habe lauter frisches Zeug auf dem Markt gekauft, und für abends sind wir ausgebucht. Bekommst du das mit dem Service hin ohne Niklas? Lena hat heute frei, es wären nur wir beide. Soll ich sie anrufen und bitten einzuspringen?«

»Nein, ich schaff das schon.«

»Gut, wenn du meinst. Was ist mit der Fischerei?«

Freya sah wieder nach vorne und seufzte. »Die beiden Auszubildenden fangen erst im September an. Bis dahin wollte Niklas es noch alleine machen. Während er im Krankenhaus ist, werde ich seine Aufgaben übernehmen.«

»Du?«

Das klang wenig überzeugt.

»Traust du mir das nicht zu?«

»Du willst Fische fangen, vorbereiten und räuchern, dich um das Bruthaus kümmern und auch noch die Ware ausfahren? Zusätzlich zu deinen eigentlichen Aufgaben?«

Das war keine Antwort auf ihre Frage.

»Klar.«

Er bog auf das Grundstück der Sieberts ein, parkte den Wagen, und sie stiegen beide aus. »Ich helfe dir dabei.«

Das ist nicht nötig , schrien Stolz und Trotz in Freya. Ich kann das gut allein machen.

Aber das stimmte nicht. Sie brauchte seine Hilfe dringend.

Am Abend strengte sich Freya ordentlich an, um den Ansturm der Gäste zu bewältigen. Eine sechsköpfige Gruppe aus München bestellte Fischplatten vom Feinsten und gab sich bei der Getränkewahl pingelig. Es war offensichtlich, dass die drei Herren unbedingt ihre Damen beeindrucken wollten.

»Also aus einer Magnumflasche schmeckt ein und derselbe Champagner vollkommen anders als aus einer normal großen Flasche«, behauptete einer von ihnen voller Überzeugung. Freya glaubte ihm sofort, dass er sich mit teurem Alkohol auskannte. Es war ihm nämlich anzusehen, dass er finanziell ausgesorgt hatte. Die Uhr am Handgelenk war aus Massivgold und von einer namhaften Manufaktur, seine Schuhe eine teure Maßanfertigung, so wie sie aussahen. Gerne servierte Freya ihm die gewünschte größere Flasche, und alle waren sich einig, dass man eigentlich nur noch die Magnumgröße bestellen sollte.

Nach dem Champagner ließ sich die Gruppe verschiedene Weißweine zur Verkostung bringen und entschied sich schließlich für den teuersten auf der Karte. Davon tranken sie reichlich. Freya sagte nichts, auch wenn sie lauter und raumgreifender waren als die restlichen Gäste. Zum Dessert bestellten sie eine weitere Magnumflasche Champagner.

Vier ältere Herren mit dezenteren, wenngleich ebenso teuren Uhren fühlten sich dadurch anscheinend animiert und orderten ebenfalls eine. So durfte es ruhig weitergehen!

Es war ein sternenklarer, lauer Abend im Garten und alle fühlten sich sichtlich wohl. Den Sieberts war es gelungen, durch individuelle Möbel und geschmackvolle Dekoration eine Stimmung im Fischerfleck zu erzeugen, die irgendwo zwischen Lagerfeuerromantik und schicker Beach-Club-Atmosphäre lag. Als niemand mehr aß, stellte sich Freya hinter die Loungbar und legte Musik auf. Es dauerte nicht lang, bis sich die Gäste von den Tischen zu ihr gesellten und nach Cocktails fragten und einige fingen sogar an zu tanzen.

Einer der älteren Herren meinte, Zigarre paffend und mit einem Ellenbogen auf den Tresen gestützt: »Wissen Sie, genau so was hat hier gefehlt. Ein Ort, an dem es Essen auf Sternekochniveau gibt, aber das Ambiente entspannt ist. Das nenne ich Erholung. Der Walchensee ist einer der schönsten Orte, die ich kenne. Und ich bin weit herumgekommen in der Welt. Ich hätte nicht gedacht, dass man noch einen draufsetzen kann, aber der Fischerfleck hat das geschafft, der ist einmalig.«

Genau das soll er auch bleiben, egal was die Hirschbergs anstellten, dachte Freya. »Danke sehr. Dann hoffe ich, Sie hier häufiger begrüßen zu dürfen.«

»Sicher doch. Sie sind die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen, was ganz Besonderes. Und wissen Sie, weshalb? Weil es hier authentisch ist, unverstellt und ehrlich. Nicht gespreizt, wie sich manche Hoteliers hier am See gern geben – ich nenne keine Namen«, dabei deutete er mit seiner Zigarre über den See in Richtung Sporthotel. »Die großtun, aber Kleingeister sind.«

Anscheinend handelte es sich bei dem Herrn um einen Menschenkenner. Freya konnte sich nicht verkneifen zu fragen: »Sie wohnen bei den Hirschbergs?«

Dröhnendes Lachen war die Antwort. Er streckte ihr seine Hand hin und sie schüttelte sie. »Darf ich mich vorstellen, Rainer Limbach. Meine Freunde und ich kommen mehrmals im Jahr an den Walchensee. Wir spielen Golf auf den Plätzen hier in der Gegend und machen dazu ein wenig Wellness. Mit Wandern oder Surfen haben wir nix im Sinn. Im Großen und Ganzen lassen wir es uns einfach nur gut gehen.«

»Sie sind zu beneiden.«

»Nö, Kindchen, wir haben alle unsere Frauen daheim, zu denen es immer wieder zurückgeht.« Er lachte über seinen eigenen Witz, und Freya schmunzelte höflich.

»Stellen Sie sich vor, was der alte Hirschberg heute zu uns gesagt hat. ›Herr Limbach‹, hat er gemeint, ›es ist wohl besser, ich storniere Ihre Reservierung im Fischerfleck . Bei denen geht es drunter und drüber, das wird Sie nicht zufriedenstellen. Aber das war abzusehen, die Sieberts sind Chaoten. Heute musste sogar schon der Sanka anrücken, wahrscheinlich hat sich der Koch einen Finger abgeschnitten.‹ Das fand der alte Hirschberg witzig.«

Freya schnaufte tief durch, um sich nicht aufzuregen. Die klare Seeluft wirkte wie Balsam – das redete sie sich zumindest ein. Kurz tätschelte sie die Hand des Gastes. »Sehen Sie, Herr Limbach, wie gut, dass Sie nicht abgesagt haben. Es ist ein wirklich schöner Abend geworden. Und zum Beweis …«, Tobias kam gerade aus dem Haus, sie zog ihn zu sich hinter die Bar und legte einen Arm um seine Schultern, um ihren Zusammenhalt zu demonstrieren, »… stelle ich Ihnen hier unseren Küchenchef Tobias Wolf vor, der übrigens tatsächlich aus der Sternegastronomie kommt – und keinen Finger vermisst.« Freya griff nach Tobias’ Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen.

»Na, das will ich wohl hoffen«, sagte der.

»Der Herr hier wohnt bei Hirschbergs im Sporthotel, wo heute gemutmaßt wurde, du hättest dir einen Finger abgeschnitten. Wegen des Krankenwagens.«

»Ach so«, nun lachte auch Tobias. »Nein, nein, hier hat niemand einen Finger verloren, keine Sorge.«

Tobias und Freya gingen beide nicht auf die Erwähnung des Krankenwagens ein und taten so, als würden sie die als dummen Scherz abtun. In Wirklichkeit war ihnen gerade noch einmal in aller Klarheit bewusst geworden, dass die Konkurrenz nicht davor zurückschrecken würde, alles zu nutzen, um den Fischerfleck kleinzukriegen.

»Wir lächeln einfach alles weg«, sagte sie später zu Tobias, als sie gemeinsam aufräumten. »Etwas anderes bleibt uns nicht übrig, wenn wir uns nicht auf das Niveau der Hirschbergs begeben wollen und ebenfalls blöd daherreden.«

Er pflichtete ihr bei. »Das ist nicht unser Stil. Außerdem wird sie Gleichgültigkeit sicherlich am meisten ärgern. Heute haben wir es gut hingekriegt, was meinst du?«

»Auf jeden Fall. Auch wenn ich jeden Muskel im Körper spüre und mir der Schädel brummt von den ganzen Bestellungen und Gesprächen.«

»Morgen ist Lena wieder dabei, dann wird es einfacher. Komisch, eigentlich kenn ich den Fischerfleck gar nicht ohne Niklas. Das ist schon eigenartig.«

Freya seufzte. »Mir fehlt er auch.«

»Also gut, ich fahre jetzt. Schließt du hinter mir ab?«, Tobias fuhr sich erschöpft durch die Haare.

Freya nickte und folgte ihm zur Tür. Tobias zögerte, blieb stehen. »Kommst du zurecht?«, fragte er.

Geh nicht , wollte Freya sagen. Bleib bei mir. War das, weil sie nicht allein sein wollte? Oder weil sie sich nach Tobias’ Gesellschaft sehnte? Diese Frage würde sie zuerst einmal für sich selbst beantworten müssen. »Ja, klar. Alles in Ordnung. Bis morgen.«

Weder sah er ihr tief in die Augen, noch machte er Anstalten, sie in den Arm nehmen zu wollen. Freya ertappte sich dabei, wie sie hoffte, dass er es gern getan hätte. Aber er lächelte nur und ging.

Nur wenig später fiel Freya todmüde ins Bett. Die Aufregung des Tages und der lange und betriebsame Abend hatten sie ausgelaugt, sie konnte kaum die Augen offen halten. Ohne Niklas war das Haus still und leer. Noch nie hatte sie sich derart allein gefühlt.