17 Freya

Freya hatte keine Zeit für Herzensangelegenheiten. Das stand unerschütterlich fest. Ihre Arbeit beanspruchte sie fast vollständig, und darüber hinaus ging sie nun endlich ihrer Vergangenheit auf den Grund. Da gab es keinen Raum für Tobias. Zumal eine Beziehung mit ihm nur Probleme mit sich bringen würde. Es war absolut indiskutabel, etwas mit dem Kompagnon anzufangen. Sollte die Sache in die Brüche gehen, würde das womöglich geschäftliche Folgen nach sich ziehen, die den Fischerfleck zerstören könnten. Dieses Risiko durfte sie nicht eingehen. Nach dem Abebben der ersten Verliebtheit würden sie womöglich feststellen, dass sie doch nicht zueinanderpassten, und dann würde Tobias zurück nach München gehen, weil er nicht weiter mit Freya arbeiten wollte. Sie und Niklas würden ohne Spitzenkoch dastehen und auch keinen gleichwertigen Ersatz finden. Sie würden also den Hirschbergs das Feld überlassen müssen, Pleite machen und alles verlieren.

Schweißgebadet setzte sich Freya im Bett auf. Die ganze Nacht hatte sie sich dieses Horrorszenario ausgemalt.

So ging es nicht weiter. Sie würde für sich einen klaren Schlussstrich ziehen und sich jeden weiteren Gedanken an Tobias verbieten. Das Beste würde es sein, sich abzulenken.

Um eine Begegnung mit Tobias zu vermeiden, verließ sie das Haus, bevor er eintraf und fuhr in den Ort. Ihr Ziel war der Souvenirladen an der Hauptstraße. Als sie ankam, öffnete er gerade.

»Guten Morgen«, sagte Freya zu dem jungen Mädchen, das einen Drehständer mit Postkarten durch die Tür ins Freie schob. Sie stellte ihn neben eine Bank, die ein der Länge nach zersägter Baumstamm war, und auf zwei dicken Holzklötzen lag. Das äußerst massive Stück stand direkt unter dem Schaufenster des Ladens. Wer sich drinnen ein Eis gekauft hatte, konnte sich hier hinsetzen und es in Ruhe verspeisen.

»Servus.« Das Mädchen griff hinter sich ins Ladeninnere und brachte einen roten Mülleimer mit Schwingdeckel zum Vorschein, auf dem eine Eiswerbung prangte. Den stellte sie zwischen Bank und Postkartenständer, dann richtete sie sich auf und betrachtete Freya neugierig, die immer noch vor ihr stand.

»Ich würde gerne mit Frau Bachmann sprechen, Adelheid Bachmann. Ist sie da?«

»Das ist meine Oma. Die arbeitet schon lang nicht mehr im Geschäft.«

Freya war enttäuscht.

»Aber sie wohnt oben im ersten Stock und sitzt sicher grad mit ihrem Kaffee auf dem Balkon. Ich frage sie gern, ob sie Zeit hat.«

»Das wäre sehr nett. Mein Name ist Freya Siebert. Frau Bachmann kannte meine Eltern, Kirsten und Johannes.«

»Verstehe. Warten Sie hier, ich komme gleich wieder.«

Das Mädchen ging hinein, schloss die Tür und sperrte gewissenhaft hinter sich ab.

»Dann sehe ich also so wenig vertrauenswürdig aus«, murmelte Freya belustigt und harrte geduldig aus, bis der Schlüssel wieder im Schloss gedreht wurde.

»Ist gut. Sie können reinkommen, ich zeig Ihnen den Weg.«

Im Souvenirladen hatte sich wenig verändert. Hölzerne Regale beherbergten Kühlschrankmagneten, Schlüsselanhänger, Frühstücksbrettchen mit Walchensee-Aufschrift und allerlei anderen Nippes, der im Urlaub gern gekauft wurde. Die Stirnseite des Verkaufsraums füllte ein Zeitungsregal mit großer Auswahl vollständig aus und sogar die Eistruhe stand noch an derselben Stelle wie früher. Neben dem Kassentresen. Ihre Mutter hatte Freya immer ein Eis gekauft und dabei mit Frau Bachmann geplaudert. Manchmal hatte sie auch einen Schokoriegel oder Brausepulver bekommen.

Freya folgte dem Mädchen durch einen Makramee-Türvorhang in den Hausflur.

»Die Treppe rauf, den Gang runter, letzte Tür.«

»Danke.«

Hölzerne Stufen knarzten unter Freyas Schritten. Angekommen klopfte sie und wartete. Als niemand antwortete, öffnete sie die Tür und trat einfach in die gemütliche Wohnküche ein. Eindeutig das Zuhause einer Seniorin – mit Herrgottswinkel über der Eckbank und einem altertümlichen Herd, der sicher seit vierzig Jahren so nicht mehr hergestellt wurde. Hinter dem geschnitzten Kruzifix klemmte ein vertrockneter Palmzweig mit bunten Bändchen.

»Ich bin auf dem Balkon«, ertönte eine Stimme.

Das Haus stand direkt am Seeufer und hatte zur Straßenseite hin eine schlichte Fassade, die lediglich durch Kästen mit üppigen Geranien aufgehübscht wurde. Auf der Rückseite zog sich ein Holzbalkon entlang der gesamten Hauswand und bot eine Aussicht vom Feinsten.

An dem einen Ende des Balkons saß Frau Bachmann neben einem Tisch mit geblümtem Wachstuch, an dem anderen Ende stand ein Klappständer mit frisch gewaschener Wäsche. Dazwischen waren entlang der Hauswand zahlreiche Kräutertöpfe und Tomatenstauden aufgereiht, die prächtig gediehen. Noch lag alles in angenehmem Schatten.

»So, so, Freya Siebert«, sagte die alte Dame. Sie erhob sich nicht, wendete sich aber ihrem Gast zu und deutete auf den zweiten, freien Stuhl. »Hab mich schon gefragt, wann du hier auftauchst. Ich darf doch noch du sagen, oder? Auch wenn das kleine Mädchen von damals erwachsen geworden ist.«

»Natürlich. Grüß Gott, Frau Bachmann. Ihre Enkelin war so nett, mich zu Ihnen zu bringen.«

»Ja, die Emily. Was täten wir nur ohne sie. In den Ferien hilft sie immer im Laden aus. Sonst ist sie im Internat und macht kommendes Jahr Abitur. Kaffee?«

Ohne Freyas Antwort abzuwarten, griff sie nach der silbernen Thermoskanne, goss eine zweite Tasse ein, gab auch gleich Milch und Zucker dazu und rührte um, bevor sie sie herüberschob.

»Oh, gern, danke.« Freya nahm einen Schluck. »Schön haben Sie es hier.« Gemeinsam blickten sie auf den See hinaus.

»Ich weiß. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass mir diese makellose Aussicht nach fast acht Jahrzehnten langsam zum Hals raushängt? Und ruhig ist es. Manchmal zu ruhig. Nachmittags sitze ich lieber drüben im Wohnzimmer, das geht auf die Straße raus. Da gibt es mehr zu sehen. Aber seit ich in Rente bin, kriege ich wenig mit.«

Unauffällig studierte Freya ihr Gegenüber. Graue Locken waren am Hinterkopf zu einem Dutt gesteckt. Die alte Dame trug weite Leinenhosen, darüber eine hellgraue Bluse und als einzigen Schmuck eine auffällige Kette aus dicken, würfelförmigen Türkisen.

»Frau Bachmann, Sie waren doch früher mit meiner Mutter gut bekannt.«

»Mit der verrückten Schwedin?« Schnell tätschelte sie beruhigend Freyas Hand, als diese aufgeschreckt die Stirn runzelte. »So wurde sie von vielen hier im Ort genannt. Und Kirsten wusste davon. Wir beide haben oft über die Engstirnigkeit der Leute gelacht. Aber manchmal hat sie uns auch betrübt. Ich würde meinen, deine Mutter und ich waren Freundinnen, nicht nur Bekannte.«

»Warum ›verrückte Schwedin‹?« Davon hatte Freya noch nie gehört, es machte sie betroffen.

»Na, weil sie anders war als der durchschnittliche Walchenseer. Lebenslustig, ein Freigeist. Sie ist zum Beispiel gern nackt schwimmen gegangen und hat sich nie verbogen, sondern ihr Temperament voll ausgelebt. Man könnte vielleicht sagen, sie war eine Art Hippie. Sie hat schon Yoga gemacht, als hier der einzige Sport noch Fischen und Maßkrugstemmen war. Und sie und dein Vater haben aus dem Fischerfleck einen ganz besonderen Treffpunkt gemacht. Dort herrschte eine offene Herzlichkeit wie nirgendwo sonst. Das kollidierte natürlich mit der bayerischen Seele, die von Haus aus eher wortkarg und konservativ geprägt ist.«

Obwohl das Gesicht der alten Frau von Falten durchzogen und sie sicher um die achtzig war, sprühte ihr Blick vor Wachheit. Freya konnte sich gut vorstellen, dass sie und ihre Mutter vieles miteinander geteilt hatten.

»Als lebenslustigen Freigeist kenne ich Mama gar nicht«, gestand sie. »Eher als verbittert, und später hat die Krankheit nicht mehr viel von ihr übrig gelassen.«

Frau Bachmann griff über den Tisch nach Freyas Hand und drückte sie kurz. »Ich war sehr traurig, als ich von Kirstens Tod erfahren habe. Und deinen Vater hat es ebenfalls mitgenommen.«

»Wirklich? Obwohl sie schon so lang getrennt waren?«

»Ich glaube, er hat immer darauf gehofft, dass ihr wieder zurückkommt. Und dass sie ihm verzeiht.«

Freya horchte auf. »Was verzeiht? Wissen Sie, deshalb bin ich heute hier – ich will endlich Antworten auf meine Fragen finden.«

»Ich kann mir vorstellen, worauf du anspielst. Aber so einfach ist die Sache nicht. Wenn ein Kind stirbt, gerät alles aus den Fugen. Und im Chaos verschieben sich die Wahrheiten, bis am Ende keiner mehr weiß, was eigentlich geschehen ist.«

»Wissen Sie es denn?«, flüsterte Freya.

Mit einem tiefen Seufzen richtete Frau Bachmann den Blick hinaus auf den See. »Leider nein. Aber ich werde dir alles erzählen, woran ich mich noch erinnere.«

Freya mahnte sich innerlich zur Ruhe. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und auf dem Balkon hin und her gelaufen, doch sie zwang sich, sitzen zu bleiben, auch wenn sie kaum wusste, wohin mit sich vor lauter Aufregung.

»In den Anfangsjahren waren deine Eltern wahnsinnig verliebt. Johannes mit dem kleinen Niklas aus erster Ehe hatte es verdient, endlich sein Glück gefunden zu haben, und als du auf die Welt gekommen bist, war eure Familie perfekt. Damals waren dein Papa und Paul Hirschberg eng befreundet. Ich weiß nicht, wie gut du den Paul kennst, aber unter uns gesagt, er war schon immer der faule Apfel im Korb. Alles um sich herum hat er verdorben mit seiner Missgunst und seinem Egoismus. Leider hat Johannes viel zu lang gebraucht, um das zu begreifen. Schon bevor er Anette geheiratet hat, war Paul ein Schwerenöter und auch nach der Hochzeit ließ er nix anbrennen. Er stellte seinen Zimmermädchen nach, den Touristinnen und überhaupt jeder, die dafür auch nur ein bisschen empfänglich war.« Die alte Dame tippte sich an die Stirn. »Ich persönlich bin der Meinung, dass irgendwas in seinem Oberstübchen nicht stimmt. Der Johannes war viel zu nett für ihn, seinem Freund gegenüber immer loyal, hat sogar bei Anette für Paul gelogen.«

Eine hässliche Ahnung kam in Freya auf. Die Gutmütigkeit ihres Vaters war ausgenutzt worden. Und wenn ihre Mutter irgendwas verabscheut hatte, waren das Lügen gewesen. Freya konnte sich vorstellen, dass diese Männerfreundschaft ihre Mutter nicht glücklich gemacht hatte. »Mama hat das nicht gefallen, oder?«

»O nein. Sie durchschaute Paul. Vor allem, als er dann sein Hotel groß umgebaut und aktiv Gäste vom Fischerfleck abgeworben hat, wusste sie, was los war. Zerfressen von Neid, hat er Johannes den Erfolg nicht gegönnt und ihn absichtlich kaputt gemacht. Dein Vater wollte das nicht sehen, er hat immer noch mehr gearbeitet, aber das Geschäft lief zusehends schlechter. Und deine Eltern haben angefangen, sich zu zanken. Ich erinnere mich an einen ganz schlimmen Streit, als er Kirsten vorgeworfen hat, sie würde seine Freundschaft aus Kindertagen zerstören wollen, nur weil sie eifersüchtig auf Paul wäre. Und sie keine Ahnung hätte, was Freundschaft hier bedeuten würde, wo sie ja zugereist wäre und nicht richtig dazugehörte.«

»Das muss sie schwer getroffen haben.«

Frau Bachmann wiegte ihren Kopf hin und her. »Sagen wir so – irgendwann hat Kirsten beschlossen, sich auszuklinken. ›Wenn er sagt, ich gehöre nicht dazu, dann muss ich mir auch nicht weiter Mühe geben, so zu tun‹, hat sie zu mir gesagt. Und ab diesem Zeitpunkt hat sie ihr eigenes Ding gemacht, hat Johannes vor sich hin werkeln lassen, und sie haben immer weniger miteinander geredet.«

Diese, wenn auch schleichende, Veränderung hatte Freya in schmerzlicher Erinnerung. Die Ursache dafür hatte sie damals nicht begriffen. Aus dem Hause Siebert war das Lachen verschwunden und einer Verkniffenheit gewichen, gegen die sie und Niklas machtlos gewesen waren. Sie hatten die Schuld für den ständigen Streit der Eltern bei sich gesucht und sich immer stärker zurückgenommen, in der Hoffnung, dass es wieder werden würde wie früher.

»Was hat das mit Rosalies Ertrinken zu tun?« Allein diese Frage auszusprechen bereitete Freya körperlichen Schmerz.

»Womöglich alles. Vielleicht aber auch nichts.«

Freya wollte schreien. Konnte bitte einfach mal jemand eine klare Antwort geben?

»Du und Niklas habt die Aufmerksamkeit eurer Eltern verloren, die viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Das hat zu einer Katastrophe geführt. Warum denkst du, haben sie einander hinterher gegenseitig beschuldigt? Sie konnten sich nicht mehr in die Augen sehen. Es war klar, dass Kirsten gehen würde.«

»Wer hat denn nun Schuld an Rosalies Tod?« Freya konnte nicht verhindern, flehentlich zu klingen, aber sie schämte sich vor Adelheid Bachmann nicht dafür. Irgendwie spürte sie eine Verbundenheit mit der wesentlich älteren Frau.

»Das war damals die große Frage. Dein Vater musste sich wegen Verletzung der Aufsichtspflicht vor Gericht verantworten. Das Verfahren wurde eingestellt. Niemand weiß, warum. Trotzdem hat es ihn gebrochen. Kirsten und ich waren an dem Tag, als das Unglück geschah, zusammen in München. Die beiden hatten sich wieder gezankt, und Kirsten wollte einfach raus. Aber dieses Mal war etwas anders gewesen, sie hat vermutet, dass dein Vater eine Affäre hätte.«

Diese Eröffnung fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Freya war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie tatsächlich alles wissen wollte. War sie dabei, die Büchse der Pandora zu öffnen? Machte sie mit ihren Nachforschungen mehr kaputt als wieder gut?

Frau Bachmann konnte sich denken, was in Freya vorging.

»Weißt du, für den inneren Seelenfrieden kann es unter Umständen besser sein, etwas nicht zu wissen und Dinge auf sich beruhen zu lassen, die in der Vergangenheit geschehen sind.«

»Zu spät«, murmelte Freya. »Jetzt kann ich nicht mehr zurück.« Sie erhob sich. »Vielen Dank, Frau Bachmann. Sie sind die Erste, die offen mit mir spricht und mich nicht als gestörte Kindsmörderin abtut.«

»Ich weiß, dass du keine Schuld an dem Unglück trägst, meine Liebe. Und ich weiß auch, dass dein Vater dich und Rosalie nie im Leben allein ins Wasser gelassen hätte.«

»Dann war er tatsächlich bei uns?«

»Wie gesagt, deine Mutter vermutete, dass er sich mit seiner Geliebten getroffen hat.«

Ein Gedanke keimte in Freya auf, und sie sog scharf die Luft ein. »Meinen Sie, er war an dem Tag zusammen mit ihr am Wasser?«

Ein Schulterzucken war die Antwort. Nun stand Frau Bachmann auf, und Freya sah, wie klein und zerbrechlich sie war. Sie umarmten einander, weil es sich richtig anfühlte, und eine Träne rollte über Freyas Wange.