Als alle weg waren, zog Niklas sich ins Bruthaus zurück. Voller Wut kickte er einen leeren Futtereimer mit dem Fuß gegen die Wand, so dass dieser in gleich mehrere Teile zersprang. Er stellte sich dabei Paul Hirschbergs Gesicht vor, aber das half auch nichts. Der Mann war die Pest. Was hatte er nicht schon alles kaputt gemacht, und immer war er damit durchgekommen.
Niklas hatte es Freya nie erzählt, weil es ihm widerstrebte, seiner Erinnerung Raum zu geben und seiner Schwester damit denselben Schmerz zuzufügen, den er selbst spürte. Als Kind hatte er einmal beobachtet, wie Paul Hirschberg versucht hatte, ihre Mutter zu küssen. Die Frau seines besten Freundes! Bei einer Grillparty im Garten. Eigentlich hätte Niklas längst schlafen sollen, aber er hatte sich auf den Balkon geschlichen, weil von unten Musik und die ausgelassenen Stimmen der Gäste zu ihm hinaufdrangen und ihn wach hielten. Da hatte er die beiden gesehen. Kirsten hatte eine Wanne voll mit schmutzigem Geschirr getragen und Paul hatte sie einfach im Vorbeigehen gepackt und geküsst. So manche Frau hätte in der Situation das Geschirr zu Boden fallen lassen, aber nicht seine Mutter. Mit dem Absatz ihres Schuhs hatte sie mit voller Wucht auf Pauls Fuß gestampft, bis dieser aufjaulend von ihr abgelassen hatte. Dann hatte sie die Wanne abgestellt und ihm eine geknallt. In diesem Moment war seine Stiefmutter für Niklas zur coolsten Frau der Welt geworden.
Aber Paul Hirschberg hatte sie nur ausgelacht.
»Wenn du es ihm sagst, streite ich alles ab. Und behaupte, du hättest dich an mich rangeschmissen. Ich kenne Johannes, seitdem wir auf der Welt sind. Wem denkst du, wird er eher glauben?«
»Mir natürlich«, hatte sie geantwortet. »Weil er weiß, was für ein Scheißkerl du bist.«
Aber sein Vater hatte anders reagiert. Niklas erinnerte sich an einen fürchterlichen Streit in der Nacht, den er bruchstückhaft durch geschlossene Türen mit angehört hatte. Für Johannes war es schlichtweg unvorstellbar gewesen, dass sein bester Freund ihn hintergehen würde. Er unterstellte seiner Frau, eifersüchtig auf die enge Männerfreundschaft zu sein und sie auseinanderbringen zu wollen.
Und so war Paul Hirschberg immer und immer wieder davongekommen. Aber zur Polizei zu gehen und einen Haufen Lügen über Freya zu erzählen, das ging endgültig zu weit. Ihre Existenz stand auf dem Spiel. Das würde Niklas nicht hinnehmen.
Aber irgendwie hatte er das Gefühl, etwas zu übersehen. Einen wichtigen Punkt, nur kam er nicht drauf, was es war, zu sehr wütete der Zorn in ihm. Er stieß einen Fluch aus und holte den Autoschlüssel.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragte Jessica Freitag, als sie ihm die Tür öffnete.
»Keine Ahnung. Soll ich besser wieder gehen?« Er hatte sie noch nie in ihrer Wohnung besucht. Wortlos trat sie beiseite, um ihn einzulassen.
»Ich bin so sauer«, sagte er, »und fühle mich gleichzeitig absolut machtlos.«
Sie holte zwei Flaschen Pils aus dem Kühlschrank, öffnete sie und trug sie ins Wohnzimmer. Niklas hatte sie bisher für eine typische Weintrinkerin gehalten. Dass sie Bier daheim hatte, fand er gut. Offensichtlich hatte sie schon geschlafen, denn ihr Haar war zerzaust und sie trug ein zerknittertes T-Shirt und ebensolche Shorts. Kein Spitzennachthemd. Kein Seidenmorgenmantel. War das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte, ganz falsch?
»Setz dich doch.« Sie drückte ihm eine Flasche in die Hand und deutete auf die Couch, ehe sie ebenfalls Platz nahm.
»Es geht um die Sache mit der Polizei, oder? Unfassbar, wie wichtig ihr in diesem Kaff euren Klatsch nehmt. Ich glaube, das werde ich nie verstehen.«
»Wie bitte?«
»Mal daran gedacht, dass es scheißegal ist, was die Leute reden? Dass sie so oder so tratschen. Und dass es dir auch, gelinde gesagt, am Popo vorbeigehen könnte?«
»Freya und ich sind auf unseren guten Ruf angewiesen.«
»Blödsinn. Ihr seid kein Mädchenpensionat, sondern ein Szenetreff. Mein Gott, dann war halt mal die Polizei da. Und dann werden eben irgendwelche Gerüchte rumerzählt. Wahr oder falsch, wen interessiert’s? Das macht dieser Hirschberg doch nur, weil er vor Neid fast platzt. So was muss man erst mal hinkriegen. Außerdem – es gibt keine schlechte Publicity. Heißt es doch immer, oder? Jede PR ist gute PR . Ich habe von niemandem gehört, der deswegen nicht mehr in den Fischerfleck gehen würde. Im Gegenteil. Plötzlich seid ihr doch noch interessanter.« Sie nahm einen großen Schluck Bier, und Niklas nutzte die Redepause, um nachzudenken.
Hatte er sich in etwas verrannt? War in Jessicas Worten womöglich ein Körnchen Wahrheit? Auch er trank aus seiner Flasche, und als das kühle Bier seine Kehle hinunterlief, war es, als würde ein Teil seiner Wut fortgespült.
»Abgesehen davon scheint dieser Herr Hirschberg natürlich ein inakzeptabler Mistkerl zu sein«, sagte Jessica leise.
»Was würdest du an meiner Stelle machen?«
Sie seufzte. »Ehrlich? Dafür kenne ich dich noch zu wenig, Niklas. Aber vermutlich trifft es einen Typen wie Hirschberg am härtesten, wenn er mit Nichtbeachtung gestraft wird.«
Niklas stellte die Flasche auf den Couchtisch und fuhr sich durchs Haar. »Du meinst, wir sollen also einfach nicht auf die Gerüchte reagieren und so tun, als ginge uns das alles nichts an? Wie soll man das denn aushalten?«
»Hm. Das glaubst du jetzt wahrscheinlich nicht – aber es gibt Schlimmeres. Irgendwann erzähle ich dir vielleicht mal, weshalb ich meine Heimat in Wirklichkeit so schnell verlassen habe und ans andere Ende der Republik gezogen bin.«
»Warum nicht jetzt?«
Sie gähnte. »Weil ich müde bin und schlafen muss.« Sie stand auf, beugte sich zu ihm und küsste ihn auf den Mund. »Gute Nacht, Niklas.«
Er erhob sich ebenfalls und zog Jessica zu sich heran. Sein Kuss war fordernder als der ihre und ließ keinen Zweifel an seinen Absichten. Als er sie fragend ansah, meinte sie: »Du kannst gerne bei mir übernachten, Niklas Siebert. Wenn du wegen mir hier bist. Aber nicht, wenn du stinksauer auf irgendwelche Leute hier aufgetaucht bist, um Dampf abzulassen. Dann geh joggen. Oder mach Liegestütze.«
Verdutzt fand er sich wenig später draußen in seinem Wagen wieder. Was war mit der aufreizenden Jessica vom Musikfestival passiert? Mit der, die sich ihm am liebsten sofort an den Hals geworfen hätte? Niklas hätte schwören können, dass sie es darauf angelegt hatte, ihn ins Bett zu bekommen, und bisher war er es doch gewesen, der nicht ganz so überzeugt war.
Dieser kurze und beeindruckende Besuch veränderte das Bild, das Niklas sich von Jessica Freitag gemacht hatte. Und was hatte sie angedeutet? Warum war sie nach Walchensee gekommen? Was war in ihrem Leben vorgefallen?
Verärgert über sich selbst schüttelte er den Kopf. Wenn er so dachte, war er auch nicht besser als all die anderen, die sich ihre Mäuler zerrissen.
Und noch etwas, das sie gesagt hatte, stimmte ihn nachdenklich. Es gab wahrhaftig Schlimmeres. Niklas musste nachdenken. Er wollte allein sein und grübeln. Also fuhr er eine Weile ziellos durch die Gegend, bis er sich vollkommen beruhigt hatte. Aber so sehr er sich auch bemühte und in sich hineinhorchte, fand er nicht die Nachsicht, diese Verleumdung auf sich beruhen zu lassen. Zumal es um seine Schwester ging, was ihn noch mehr aufbrachte, als wenn er selbst angefeindet worden wäre. Damit durfte Hirschberg nicht davonkommen. Dieses Mal nicht. Kurz vor Sonnenaufgang kam Niklas zurück an den Fischerfleck . Er schlich sich leise in sein Schlafzimmer, um Freya nicht zu wecken. Todmüde fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Erst durch Tobias’ Stimme wurde er wieder geweckt.
»Niklas. Niklas! Wach auf!«
Verwirrt öffnete er die Augen und blinzelte gegen helles Sonnenlicht an.
»Was ist los?«
Tobias kam ins Zimmer und riss das Fenster auf. Augenblicklich strömte frische Morgenluft herein, klar und köstlich, wie es sie nur in den Bergen gab. »Es ist kurz nach zehn.«
»Mist.« Niklas setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. »Ich hab verschlafen.«
»Fast ein Wunder nach dem Wirbel gestern. Ehrlich gesagt, habe ich kaum ein Auge zugetan, weil ich mich nicht beruhigen konnte.«
»Ich war die ganze Nacht unterwegs, aber jetzt muss ich mich beeilen und die Fische ausliefern. Lass uns später zusammensetzen und ein Krisengespräch machen. Nur wir drei, ja?«
Tobias nickte. »Gut. Aber ich glaube, Freya ist bereits unterwegs mit den Räucherfischen.«
»Ist sie nicht hier?«
»Nein, ich hab sie noch nicht gesehen.«
Niklas’ Blick fiel auf seinen Autoschlüssel, der auf dem Nachttisch lag, wo er ihn gestern Nacht achtlos hingeworfen hatte.
»Aber ohne Wagen kann sie die Auslieferung nicht machen.«
Hastig schlüpfte Niklas in seine Jeans und warf sich einen Pullover über.
»Dann ist sie vielleicht mit dem Fahrrad zum Einkaufen gefahren. Oder sonst irgendwo unterwegs. Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte Tobias, weil er Niklas seine augenblickliche Unruhe anmerkte.
Es sah zu, wie sein Freund zur Tür hinausstürzte und, ohne anzuklopfen, ins Zimmer seiner Schwester lief.
»Sie ist weg!«, rief Niklas. »Schau! Ihr Schrank ist leer, der Koffer fehlt. Freya ist fort!«
Er hätte sie gestern nicht mehr alleine lassen dürfen. Warum hatte er auch unbedingt zu Jessica fahren müssen? Und sich dann auch noch die halbe Nacht rumtreiben? Seine Schwester konnte seit Stunden fort sein.
»Hey!« Mit strenger Stimme stellte sich ihm Tobias in den Weg. »Hör auf rumzurennen. Denk nach. Was hat sie gestern noch gemacht?«
»Sich verkrochen. Sie wollte niemanden sehen und mit niemandem reden. Freya war schon immer der Typ, der sich zurückzieht, wenn ihr alles über den Kopf wächst. Daher habe ich auch gar nicht erst versucht, ihr ein Gespräch aufzudrängen.«
»Okay. Anscheinend hat sie sich irgendwann entschlossen, zu packen und abzuhauen. Wohin könnte sie gegangen sein?«
»Nirgendwohin. Außer vielleicht zu Onkel Georg und Tante Erika, aber dafür bräuchte sie keinen Koffer.«
»Dann befürchte ich …« Mit besorgtem Gesichtsausdruck zückte Tobias sein Smartphone und tippte darauf herum.
»Heute geht um halb eins ein Flug von München nach Stockholm.«
Niklas rannte die Treppe hinunter. »Schick mir die Daten«, rief er seinem Freund zu. »Das schaffe ich noch. Ich hole sie zurück!«
»Ich komme mit!«
»Nein, bleib du hier und halt die Stellung. Ich melde mich von unterwegs.«
Ungeduscht und in denselben Sachen wie am Vortag startete Niklas in Richtung München. Er fühlte sich schrecklich, hatte aber keinen Zweifel daran, dass er seine Schwester dort, am Flughafen, suchen musste. Sie war dabei, wieder davonzulaufen. Letztendlich nur wegen ein paar ungerechtfertigten Gerüchten. Aber für sie musste es sich absolut vernichtend und hoffnungslos anfühlen. Genau vor diesen Anfeindungen hatte sie schon einmal kapituliert. Auch damals waren die Hirschbergs die Wortführer gewesen, als es darum gegangen war, Mutmaßungen über Rosalies Tod anzustellen.
Die Fahrt über Wolfratshausen, Starnberg und durch ganz München hindurch, bis er endlich den Franz-Josef-Strauß-Flughafen erreichte, schien ewig zu dauern und strengte ihn an. Von unterwegs rief Niklas Tobias an, um nach dem richtigen Terminal zu fragen. Aber wie sollte er Freya finden? Ihr Handy hatte sie ausgeschaltet. Immer wieder landete er auf ihrer Mailbox. Falls sie schon durch die Sicherheitskontrolle war, bestand keine Hoffnung mehr, sie zu stoppen. Klar, er konnte sie ausrufen lassen. Aber wer sein Telefon abstellte, würde auch auf eine Lautsprecherdurchsage nicht reagieren. Insbesondere nicht seine Schwester. Wenn Freya sich etwas in den Kopf gesetzt hatte … Fluchend drehte er eine Extrarunde auf dem vollen Kurzzeitparkplatz und musste dann doch ins Parkhaus fahren. Das dauerte alles viel zu lange! Niklas sprang aus dem Wagen, rannte ins Flughafengebäude hinein, warf einen schnellen Blick auf die Abflugtafel, lief weiter, vorbei an den Check-in-Schaltern und Shops bis hin zur Sicherheitskontrolle – dort war Schluss.
Hektisch beäugte er die Wartenden in der Schlange, einen nach dem anderen, aber seine Schwester befand sich nicht unter ihnen.
»Mist!«, stieß Niklas laut aus und drehte sich einmal um die eigene Achse.
Da sah er sie. Freya saß alleine auf einer Bank, der Koffer stand neben ihr. Sie hielt den Kopf gesenkt und wirkte in einem Maße am Boden zerstört, dass er sofort voller Mitgefühl zu ihr eilte.
»Freya!« Erleichtert zog Niklas seine Schwester in die Arme und drückte sie. Er hatte sie gefunden. Sie war nicht weg. Auf keinen Fall würde er sie gehen lassen. »Du darfst nicht abhauen. Bleib bei mir.«
Er spürte, wie sie die Arme um ihn schlang und seine Umarmung erwiderte.
»Warum?«, schluchzte sie.
»Weil ich dich lieb habe, du Dummkopf. Und dich brauche. Wir beide sind ein super Team, eine Familie. Wir gehören zusammen. Das lassen wir uns von niemandem kaputt machen.«
»Wenn es wegen des Erbes ist …«
»Quatsch«, unterbrach er sie. »Dass du so was überhaupt denken magst. Mir geht es schon lang nicht mehr um irgendeine Testamentsklausel. Seitdem du wieder da bist, ist das Leben in den Fischerfleck zurückgekehrt, Freya. Weißt du das nicht? Du hast mich aus meiner Junggesellenlethargie geholt, mir macht sogar das Fischen mehr Spaß, wenn du mitkommst. Oben in der Wohnung riecht alles nach dem Waschmittel, auf das du so stehst, das Bad ist voll mit tausend Fläschchen und Tuben. Auf der Couch liegen deine Kuschelsocken. Und das Buch, in dem du seit einem halben Jahr liest, aber nie umblätterst, weil du gleich einschläfst, sobald du es aufschlägst. Selbst wenn wir das Lokal nicht hätten, würde ich dich nie und nimmer zurück nach Schweden lassen. Der Walchensee ist dein Zuhause.«
»Aber alle hassen mich!«
»Blödsinn. Das stimmt nicht.« Er schob Freya auf Armlänge von sich. Ein bisschen Selbstmitleid wollte er ihr zugestehen. »Eigentlich ist es nur Paul Hirschberg. Und der hasst mich ebenso wie dich. Und jeden anderen, den er als Bedrohung empfindet. Bisweilen sogar den eigenen Sohn, fürchte ich. Der einzige Mensch, den er gut findet, ist er selber. Das, was der sagt, darfst du echt nicht persönlich nehmen.«
Sie stieß ein wütendes Schnauben aus. »Am liebsten würde ich ihm den Hals umdrehen!«
»Ah! Lass das nur keinen hören.«
»Ist doch wahr.«
Sie erinnerte ihn in ihrem Trotz an das kleine Mädchen von früher, und Niklas’ Herz war erfüllt von geschwisterlicher Liebe. Und Erleichterung. »Komm. Wir fahren heim.«
Er nahm Freyas Koffer und rollte ihn neben sich her, den anderen Arm hatte er um ihre Schultern gelegt und führte sie in Richtung Parkhaus.
»Hat irgendjemand mitbekommen, dass ich weg bin?«
»Nur Tobias.«
»Das ist mir peinlich.«
Niklas blieb stehen. »Du musst aufhören, dir ständig einen Kopf darüber zu machen, was andere über dich denken. Erstens ist hier überhaupt nichts peinlich, Tobias hat sich auch große Sorgen um dich gemacht, und ich werde ihn gleich aus dem Auto anrufen, um ihn zu beruhigen. Und zweitens, selbst falls hier irgendwas peinlich wäre, dann ginge es nur dich was an und sonst niemanden. Verstehst du mich?«
Sie nickte. »Bist du über Nacht weise geworden, Niklas?«
»Vielleicht ein bisschen.«
Mit einem schiefen Grinsen öffnete er ihr die Autotür.
Tobias hatte bereits die Räucherfische ausgeliefert, als sie daheim ankamen. Und irgendwie hatte er den Mitarbeitern auch plausibel machen können, weshalb sie das Mittagsgeschäft, vollkommen unterbesetzt, ohne die Geschwister Siebert stemmen mussten. Jetzt saß auf der Bank neben der Haustür und wartete auf Freya und Niklas.
Als Freya ihn sah, breitete sich ein derart glückseliges Lächeln auf ihren Lippen aus, dass ihr Bruder sich zum ersten Mal fragte, ob womöglich etwas zwischen den beiden lief, von dem er nichts mitbekommen hatte.
Allerdings ließ ihn Tobias’ mürrisches Gesicht diese Idee augenblicklich wieder verwerfen.
»Dann stimmt es also. Du wolltest dich tatsächlich verdrücken und uns im Stich lassen«, sagte er, stand auf und schüttelte traurig den Kopf.
Freyas Lächeln gefror. »Ich habe keinen anderen Ausweg gesehen.«
Weil Niklas den Koffer nicht über den Kiesweg schieben konnte, hob er ihn hoch und trug ihn zum Haus. Zwischen den beiden herrschte eine verdammt angespannte Stimmung. Besser, er begab sich aus der Schusslinie.
Tobias blieb vor Freya stehen und starrte sie an. »Irgendjemand, der für dich völlig unwichtig ist, wenn wir mal ehrlich sind … also irgendein irrelevanter Idiot ärgert dich – und du packst deinen Koffer, buchst einen Flug und willst das Land verlassen? Ohne ein Wort?«
»Ich habe keinen anderen Ausweg gesehen«, sagte Freya noch einmal erschöpft und nur mühsam beherrscht zugleich. Ein schlechtes Zeichen, wusste Niklas. Er hielt sich weiterhin raus und stellte den Koffer im Eingang neben der Garderobe ab. Hinter sich konnte er sie weiterhin reden hören.
»Wie konnte ich mich nur so in dir täuschen.« Tobias’ Schritte entfernten sich, eine Autotür wurde geöffnet und wieder geschlossen, ein Motor heulte auf. Offenbar fuhr er davon. Freya stürmte herein und die Treppe hinauf. »Sag nichts!«, schluchzte sie.
Müdigkeit überfiel Niklas. Mit einem Mal spürte er den mangelnden Schlaf in jeder Faser seines Körpers. Und die Arbeit der vergangenen Monate. Sie hatten alle drei viel geleistet. Ihre Nerven waren angespannt, möglicherweise sogar überstrapaziert.
Eine Pause würde ihnen guttun. Doch die war ihnen nicht vergönnt. Den Gast interessierten die persönlichen Befindlichkeiten seines Wirts nicht. Er wollte eine schöne Zeit haben, umsorgt werden, gut essen und trinken und sich wichtig fühlen. Und Niklas gedachte genau diese Wünsche zu erfüllen. Dafür musste er auf seine Schwester und seinen Geschäftspartner zählen können.