An Allerheiligen fand der Gottesdienst in Sankt Jakob statt. Schon Tage vorher hatten die Einwohner von Walchensee die Gräber von alten Blättern, Zweigen und welken Sommerblumen gesäubert und anschließend frische Gestecke abgelegt. Neue Kerzen brannten überall. Der Gottesacker sah ordentlich aus, so wie es sich gehörte. Es galt als gesellschaftlicher Fauxpas, an Allerheiligen nicht »aufs Grab« zu gehen, daher war die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt. Und hinterher, draußen auf dem Friedhof, als der Pfarrer seine Segnung vornahm, achtete jeder ganz genau darauf, wer erschienen war und an welchem Grab keiner stand.
Freya hielt den Kopf gesenkt und starrte auf die dunkelbraune Erde zu ihren Füßen. Sie überlegte, die Urne ihrer Mutter hierher überführen zu lassen. Warum sollte sie allein in Stockholm liegen? Die örtliche Floristin, eine fröhliche Frau namens Babsi, eigentlich Barbara, hatte für Freya ein herzförmiges Gesteck aus Zapfen, Moos und lila Heidekraut gefertigt, das sich gut neben dem Rosenstrauch machte, den Niklas im Frühherbst gepflanzt hatte. Freya betrachtete jedes einzelne Blatt, jede einzelne Blüte eingehend, die Rede des Pfarrers wollte kein Ende nehmen. Sie unterdrückte ein Seufzen, hob den Blick und begegnete dem von Tobias, der zwei Reihen entfernt stand. Rasch sah er wieder weg. Seit ihrer Rückkehr vom Flughafen war er wie ausgewechselt. Keine sanften Berührungen mehr im Vorbeigehen. Kein Lächeln. Und Gespräche privater Natur vermied er ganz. Na schön, wenn er es so wollte! Wenigstens bekamen sie es hin zusammenzuarbeiten.
Freya ließ ihren Blick in die Richtung der kleinen Aussegnungshalle schweifen. Familie Hirschberg war geschlossen erschienen. Natürlich. Paul in einem dunkelgrauen Lodenmantel, Jonas trug statt Jeans und Sweatshirt einen Anzug. Anette Hirschberg sah aus wie ein Schatten ihrer selbst. Sie schien innerhalb kurzer Zeit deutlich an Gewicht verloren zu haben. Zwar stand sie aufrecht wie immer, aber Freya fielen die angespannten Schultern deutlich auf.
»Was ist mit Frau Hirschberg los?«, flüsterte sie Niklas zu.
»Antonia vom Dorfcafé sagt, sie und Paul haben mal wieder Probleme. Dieses Mal betrügt er sie zwar nicht mit einer anderen, aber er fährt bei jeder Gelegenheit aus der Haut und terrorisiert sie und Jonas. Antonia meint, scheiden lässt sich Anette in ihrem Alter auch nicht mehr, egal was kommt, weil sie sonst nicht weiter die Frau Hoteldirektorin wär und auch nicht wüsste, wohin.«
»Ich dachte, Antonia und Anette wären befreundet?«
Ihr Bruder hob die Augenbrauen. »Sind sie doch auch«, flüsterte er zurück.
»Na dann.«
Eine ältere Dame warf ihnen einen missbilligenden Blick zu. Besser, sie hielten den Mund.
Als endlich das Totengedenken und die Gräbersegnung vorüber war, leerte sich der Friedhof schnell. Nur Anette Hirschberg blieb, um mit Pfarrer Talhofer zu sprechen. Zuerst tuschelten sie leise, dann entwickelte sich eine hitzige Diskussion. Freya bemühte sich gar nicht erst, diskret zu tun, sondern starrte unverhohlen zu den beiden hinüber und wünschte sich, ihre Worte zu verstehen. Als die beiden merkten, dass sie beobachtet wurden, verstummte der Pfarrer und führte Frau Hirschberg hinüber zum Kirchenportal. Dabei kamen sie an den Geschwistern Siebert vorbei.
»Es wird Zeit, dass wie vier uns einmal zusammensetzen und uns unterhalten«, sagte Niklas da vernehmlich. »Aber erst einmal wünsche ich einen schönen Tag.«
Frau Hirschbergs Reaktion auf diese unerwartete und eigenartige Ansage war heftig. Sie presste sich ein Taschentuch vor den Mund, als müsste sie ein Schluchzen unterdrücken, und eilte davon.
Pfarrer Talhofer rügte: »Musste das sein?«
»Ich denke schon. Oder etwa nicht? Verraten Sie es mir.« Woraufhin auch der Geistliche sich schnell entfernte, und Niklas ihm hinterherrief: »Das hab ich nicht anders erwartet.«
»Jetzt kannst du mir doch mal sagen, was das bitte auf dem Friedhof sollte?«, fragte Freya. Die Geschwister waren auf den Herzogstand gefahren, gleich nachdem die ihre Feiertagspflicht erfüllt hatten. Schweigend hatten sie nebeneinander in der Kabine gestanden und nach draußen geschaut. Die Bahn würde bald wegen saisonaler Wartungsarbeiten geschlossen werden, und den Sommer über hatten sie kaum Gelegenheit gehabt, ihren heimischen Berg zu genießen. Daher steuerten Freya und Niklas nicht sofort das Gasthaus an, sondern den leicht zu begehenden Panorama-Naturlehrpfad. Obwohl das Wetter trocken und sonnig war, herrschten hier oben deutlich frischere Temperaturen als unten im Ort und es waren kaum Wanderer unterwegs.
»Das will ich gerne machen. Genau wie dir ist auch mir aufgefallen, dass mit Frau Hirschberg irgendwas nicht stimmt. Sie hatte sich doch bei eurer Begegnung im Wald den Knöchel verstaucht und musste ein paar Wochen lang eine Schiene tragen. In der Zeit konnte sie nicht voll im Hotel arbeiten und hat wohl viel mit Pfarrer Talhofer unternommen.«
Auf Freyas fragenden Blick sagte er lakonisch: »Siehst du, das ganze Gerede im Dorf ist nicht immer nur schlecht, man kann auch bis zu einem gewissen Grad Informationen daraus ziehen.«
Freya lachte auf. »Besonders seitdem du dich oft mit Jessica Freitag triffst. Ihr Wartezimmer stellt jede Klatschzeitung in den Schatten.«
»Dafür kann sie nichts. Aber sie hält die Ohren offen. Jedenfalls bin ich der Meinung, dass Anette Hirschbergs Gewichtsverlust und ihre schlechte psychische Verfassung mit Pauls Versuch, dir eine Straftat anzulasten, zusammenhängen. Es scheint mir, als ob das bei seiner Gattin, die bisher jahrzehntelang alles brav geschluckt hat, das Fass zum Überlaufen gebracht hat.«
»Puh. Vermutungen, Vermutungen.«
»Nicht ganz.«
Der Weg führte steil bergauf zur Fahrenberg-Kapelle. Freya schnaufte heftig.
»Anette Hirschberg hat zu dir gesagt, die Berwinkels wären aus Köln gewesen. Ich habe herausgefunden, dass Loredana sich vor etwa fünfzehn Jahren hat scheiden lassen. Sie wohnt jetzt in der Oberpfalz auf dem Land, mit ihrem zweiten Mann und drei Kindern.«
»Du hast sie gefunden!« Atemlos blieb Freya stehen. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Weil eh alles drunter und drüber ging, und ich dich nicht noch mehr aufregen wollte. Außerdem wusste ich nicht, ob überhaupt etwas Interessantes dabei rumkommen würde.«
»Und? Herrgott, Niklas, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!« Sie hatten nach dem Friedhof ihre Mäntel gegen Funktionsjacken getauscht und einen Rucksack mitgenommen. Als ihr Bruder jetzt umständlich nach der Wasserflasche kramte, verlor Freya fast die Geduld.
»Ich habe mit Loredana telefoniert. Und obwohl sie erst sehr reserviert war, hat sie mir, nachdem ich ihr die Hintergründe erklärt hatte, Auskunft gegeben. Und es war anders, als wir gedacht haben. Sie hatte keine Affäre mit Papa, sondern mit Paul Hirschberg. Überraschung! Damit dessen Frau keinen Verdacht schöpfte, musste Papa oft als Alibi herhalten und die beiden bei diversen Ausflügen begleiten. Gutmütig, wie er war, konnte er seinem Freund diesen Gefallen nicht abschlagen. Und so kam es, dass die Leute ihm ein Verhältnis mit Loredana andichteten. Genährt wurden solche Gerüchte natürlich von Paul, der seinen eigenen Vorteil daraus zog.«
»Und Mama kam das Gerede zu Ohren, sie wurde eifersüchtig und die beiden hatten eine Ehekrise.«
»Ja, so war es wahrscheinlich.«
»Aber dann kann Loredana nicht die Frau gewesen sein, mit der Papa sich am See getroffen hat. Wenn er sich überhaupt mit jemandem getroffen hat.«
Mittlerweile waren sie an der Kapelle am Fahrenbergkopf angekommen, einem altertümlich anmutenden kleinen Gebäude aus Bruchsteinen.
Der Blick hinunter auf den See entschädigte wie immer für den Aufstieg. Sattes Sommergrün war Orange- und Brauntönen gewichen, die einen starken Kontrast zum türkisenen Wasser boten. Ein malerischer Anblick! Die Bergspitzen in der Ferne waren bereits weiß überzuckert, und auch auf dem Herzogstand würde der erste Schnee nicht mehr lange auf sich warten lassen. Alles veränderte sich.
»Und was hat das nun mit deiner provokanten Bemerkung auf dem Friedhof zu tun?«
Niklas blickte nachdenklich in die Ferne, der Wind zerzauste sein Haar. »Ja weißt du, ich glaube nicht, dass sich Anette Hirschberg hat täuschen lassen. Sie ist eine intelligente Frau mit einer enormen Selbstbeherrschung. Sonst wäre sie bei den ständigen Eskapaden ihres Mannes längst ausgeflippt. Außerdem ist sie zutiefst religiös. Sie lässt sich vermutlich auch deshalb nicht von Paul scheiden, weil das in der katholischen Kirche verboten ist. Aber ich bin der Meinung, sie weiß mehr, als sie zugibt. Und nach all den Jahren drückt sie das Gewissen.«
»Warum bist du dir da so sicher?«
»Mir ist wieder etwas eingefallen. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, irgendwas übersehen zu haben. Wenn Pfarrer Talhofer dir sagt, dass du mit Rosalie gestritten hast, und das stimmt, dann kann er das nur von der Person wissen, die es beobachtet hat. Und das wiederum kann nur Anette Hirschberg gewesen sein, die seit zwanzig Jahren jede Woche zur Beichte rennt, als hätte sie ein Schwerverbrechen begangen.«
Im kalten Wind fröstelte Freya plötzlich, und sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch bis unters Kinn. Diesen Verdacht hatte auch sie schon gehabt. Und das würde zumindest erklären, weshalb sich Frau Hirschberg ihr gegenüber derart seltsam verhielt. Die Geschwister machten sich auf den Rückweg und kehrten im Berggasthaus ein. Um sich aufzuwärmen, setzten sie sich in die Nähe des Kachelofens, der nun mollig beheizt war. Freya dachte an ihren Besuch mit Tobias im Sommer und daran, wie entspannt die Stimmung damals zwischen ihnen gewesen war. Von Anfang an hatte sie ihn gut gefunden, und jetzt fiel es ihr leicht, sich das einzugestehen. Denn der Zauber war verflogen. Nein, das stimmte nicht. Freya hatte ihn mutwillig zerstört. Was hatte sie auch erwartet, wenn sie einfach davonlief? Sicher nicht die Art von Verständnis, die Niklas in seiner brüderlichen Zuneigung und Sorge aufbrachte. Tobias hatte sich im Stich gelassen gefühlt. Weil sie nicht nachgedacht und in ihrer Verletztheit einfach impulsiv gehandelt hatte, glaubte er nun, ihr läge nichts an ihm. Dabei war sie ja nicht mal ins Flugzeug gestiegen! Ihr Flug war schon längst aufgerufen worden, als Niklas sie gefunden hatte. Sie war ohnehin bereits zur Vernunft gekommen. Aber das konnte Tobias nicht sehen. Er betrachtete die Sache nur von seinem eigenen Standpunkt. Und es war nicht Freyas Aufgabe, ihm schönzutun.
»Einen Obstler, bitte«, sagte sie nachdrücklich, als der Wirt zum Bestellen kam. »Und einen Kaffee, einen Apfelstrudel und vorher eine Leberknödelsuppe mit einem kleinen Bier.«
»Alles klar, da hat jemand Appetit. Muss an der frischen Luft liegen.« Niklas zwinkerte Karl Hauner zu.
»Darin seid ihr euch ähnlich. Du langst auch immer ordentlich zu, wenn du hier oben bist. Was darf ich dir bringen, Niklas?«
»Ich nehme ebenfalls ein Bier, aber ein normales, kein kleines. Und falls noch was vom Schweinebraten da ist, der draußen auf der Tafel steht, dazu würde ich nicht nein sagen.«
Der Wirt lachte. »Alles klar. Schweinsbraten mit Knödeln und Kraut für den Herrn und Suppe und Strudel für die Dame. Kommt sofort.«
»Der ist immer gut drauf, oder?«, fragte Freya.
»Karl? Klar. Weil er hier oben tun und lassen kann, was er will. Sagt er selber. Sein Sohn ist übrigens der Besitzer vom Dorfcafé, Karl junior. Also der Charly.«
»Echt? Das nette Muskelpaket mit der patzigen Gattin? Wusste ich gar nicht.«
»Auch mit ein Grund, warum er so selten runterfährt. Er ist von seiner Schwiegertochter nicht begeistert, und hier im Berggasthof sieht er sie kaum.«
In vielen Familien war der Wurm drin.
Eigentlich hatten sie vorgehabt, nach dem Essen noch ein Stück zu gehen, aber mit vollen Bäuchen beschlossen die Geschwister, sich stattdessen einfach mal daheim auf die Couch zu legen und gar nichts zu machen. Das Wetter gab ihnen recht. Auf dem Parkplatz der Bergbahn schafften sie es gerade noch ins Auto, schon setzte Regen ein.
»Glück gehabt.« Niklas schaltete den Scheibenwischer an. »Siehst du, sie haben die Bahn abgestellt wegen des Windes. Da fährt heute keine Gondel mehr.«