25 Freya

Die Sonne ließ den Schnee in der Jachenau glitzern wie ein riesiges Meer von Diamanten. Über Freya, Niklas und Lena spannte sich ein königsblauer Himmel. Wie gut, dass sie dunkel getönte Sportbrillen trugen, sonst wären sie vermutlich schon geblendet.

Links und rechts der Langlaufloipe, wo im Sommer Wiesen blühten, erstreckte sich weißes Zauberland. Freya liebte Langlaufen, auch in Schweden, aber nirgendwo so sehr wie hier in ihren heimischen Bergen. Mit routinierten Bewegungen glitten die drei durch den Schnee, vorbei an prächtigen Höfen, entlang der Bäche und über kleine Brücken.

»Mein Gott, ist das herrlich!«, rief Freya nach vorne.

Lena drehte sich zu ihr um. »Wahnsinn, ich weiß. Immer wieder unfassbar schön.«

Dankbarkeit erfüllte Freya, dafür, dass sie ihre Chance ergriffen und zurück in die Heimat gefunden hatte.

Aber sogar in der märchenhaften Winterlandschaft der Jachenau gab es Schattenseiten – wortwörtlich. Umkränzt von hohen Bergkämmen, verwöhnte die Sonne lediglich ein Teil des Tals. Der andere Teil musste von November bis Ende Januar ohne sie auskommen, und auch danach zeigte sie sich erst mal nur minutenweise. Schattenhöfe wurden die Bauernhäuser genannt, denen der Wilfertsberg im Winter das Licht raubte. Es musste schrecklich sein, nicht nur in sibirischer Kälte, sondern gänzlich ohne Sonnenlicht auszuharren, bis die Tage endlich wieder länger wurden und die Sonne es über den Berg schaffte. Freya fröstelte bei diesem Gedanken und konzentrierte sich lieber auf die funkelnde Landschaft. Mit Cousine und Bruder Sport zu machen, sich fröhlich auszupowern und gleichzeitig dabei Kraft zu tanken – vor einem Jahr noch eine undenkbare Vorstellung. Mittlerweile empfand sie in ihrem Herzen aufrichtige Dankbarkeit für ihren Vater. Das half Freya in ihrem Bemühen um Nachsicht für die Fehler, die ihre Eltern damals gemacht hatten. Bei allem hatten sie Niklas und Freya geliebt und das war es, was zählte, daran wollte sie festhalten.

Freya hatte einen Neuanfang gemacht und sich ihre Familie zurückerobert. Mit der Hilfe ihres Bruders und ja – durch das Testament von Johannes Siebert.

Lächelnd stieß sie die Stöcke in den Schnee, schob sich vorwärts und ließ die Skier gleiten.

Ihr Ziel lag vor ihnen, der Hof von Kilian Reiter, ein Bekannter von Lena.

Üppige Lüftlmalereien schmückten die Fassade des großen Haupthauses, daneben gab es einen Stall für Milchvieh und einen Misthaufen, der in der kalten Winterluft dampfte.

Sie schnallten die Skier ab.

»Hab euch schon gesehen!« Ein blonder Mann, etwa in ihrem Alter, trat aus der Tür. Er hatte die Ärmel seines karierten Hemds hochgekrempelt und begrüßte sie mit einem festen Handschlag, nachdem Lena sie einander vorgestellt hatte. »Kommt rein und sucht euch was zu essen aus. Wenn ihr wollt, setzen wir uns dann draußen in die Sonne, es ist ja wirklich klasse heut.«

Sie folgten ihm ins Bauernhaus mit seinem traditionellen breiten, gefliesten Flur, von dem beiderseits Türen zu verschiedenen Räumen abgingen. Kilian lotste sie gleich durch die erste links in eine gemütliche Stube mit quadratischen Holztischen, einer Theke und einem Ausschank. Hier bewirtete er seine Feriengäste ebenso wie Wanderer und Wintersportler, die auf eine Stärkung vorbeikamen. Helles Licht fiel durch die Sprossenfenster herein.

»Wollt ihr eine Brotzeit? Dann richte ich euch ein großes Brett mit Käse und Geselchtem. Frisches Brot hab ich auch. Dazu Bier?« Kilian betrieb neben dem Gastgewerbe eine Käserei auf seinem Hof. Das Handwerk hatte er sich selbst angelernt, und mittlerweile stellte er verschiedene Käsesorten her. Er ließ sie von allen probieren, und Freya, Niklas und Lena wählten jeweils ihren Favoriten. Den Käse verkaufte er nicht nur an seine Gäste, sondern auch auf dem Viktualienmarkt in München. Das war neben dem Tourismus sein zweites Standbein.

»Schön, dass ihr mich besucht«, meinte er später, als sie in der Sonne an der Hauswand saßen. Auf der Bank lagen Schaffelle, damit es von unten nicht kalt wurde, und er hatte ihnen zusätzlich noch Decken gebracht. Aber es war windgeschützt und so warm, dass sie darauf verzichten konnten. Freya musterte ihren Gastgeber. An seiner Hand glänzte ein Ehering, und von Lena wusste sie, dass Kilian verheiratet und Vater einer kleinen Tochter war. Seine Familie lebte schon ewig hier, und im vergangenen Jahr waren Kilians Eltern ins Austragshaus nebenan gezogen und hatten den Hof offiziell übergeben. Er hatte noch zwei jüngere Brüder, die arbeiteten beide in München. Natürlich.

»Wie läuft das Geschäft?«, fragte Niklas.

»Ganz gut. Heute ist allerdings Ruhetag. Im Winter ist eh weniger los als im Sommer. Das wird im Fischerfleck bestimmt auch nicht anders sein. Ich beschwer mich nicht, wir brauchen ein paar entspanntere Monate, sonst würden wir wahrscheinlich durchdrehen. Wobei ich mich allen Ernstes frage, wie es langfristig zur Hochsaison hier weitergehen soll. Ich habe das Gefühl, es kommen immer mehr Menschen an den Walchensee und in die Jachenau, und den meisten ist es wurscht, wo sie ihr Auto abstellen und welche Regeln hier gelten.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Freya. »Beim Spazierengehen im Sommer habe ich viele wilde Feuerstellen gesehen. Vom Müll ganz zu schweigen. Und ich glaube, wenn es ginge, würden manche sogar gleich am See parken, nur damit sie nicht weit laufen müssen.«

Sie lamentierten eine Weile über diese Zustände, die tatsächlich von Jahr zu Jahr dramatischer wurden, dem Walchensee seinen Zauber raubten und ihn zeitweise in einen vollgestopften Münchner Großparkplatz verwandelten. Dagegen unternehmen konnten sie als Einzelpersonen freilich nichts. Und auch für die Behörden war es ein schmaler Grat. Man war angewiesen auf die Touristen, durfte sich aber gleichzeitig von ihnen die Natur nicht kaputt machen lassen, derentwegen sie schließlich alle kamen. Das Thema wurde derzeit allenthalben an Stammtischen diskutiert und überall sonst, wo die Einheimischen zusammenkamen. Vor zwanzig Jahren, als Freya Walchensee verlassen hatte, waren die Sommer deutlich weniger überlaufen gewesen.

Niklas lobte den Käse. Auch seine Schwester und Lena ließen ihn sich schmecken. Doch nicht ohne Hintergedanken hatten sie Kilian aufgesucht und um eine Brotzeit gebeten.

»Wir wollten dich was fragen«, begann Niklas schließlich. »Wie du weißt, haben wir im Fischerfleck ziemlich viel umstrukturiert.«

»Eigentlich alles«, warf Lena trocken ein.

»Jedenfalls sammeln wir gerade Ideen und wollten dich fragen, ob du an einer Zusammenarbeit interessiert wärst.«

»Meint ihr, was meinen Käse angeht?«

Niklas führte das Ganze näher aus. »Genau. Besonders in den Monaten, in denen die Berufsfischerei ruht und ich keinen Nachschub an Seefischen habe, sei es für das Restaurant oder zum Räuchern, wollen wir andere Spezialitäten auf die Karte bringen. Wenn unser Geschäftspartner Tobias morgen aus dem Urlaub zurück ist, wird er bei seinem Lieferanten Meeresfische bestellen. Als Kontrast dazu würden wir gern etwas richtig Heimatliches, Bodenständiges von hervorragender Qualität anbieten. Und dabei dachten wir an deinen Käse.«

»Das ehrt mich. Also falls ihr einen Fischerfleck -Heumilchkäse oder so was in der Art wollt, den mache ich euch gern.«

Freya horchte auf. »Fischerfleck -Heumilchkäse? Eine Spezialproduktion? Mensch, das klingt toll! Da lass ich mir eine schöne Werbung für unsere Webseite einfallen, mit Link zu deinem Hof, Kilian.«

Eine lebhafte Diskussion brach los. Alle warfen Ideen ein, und sie tüftelten und planten. Kilian machte einen patenten Eindruck, war auf jeden Fall begeisterungsfähig, und am Ende vereinbarten sie ein nächstes Treffen im Fischerfleck , sobald sie sich mit Tobias besprochen hätten. Dann würden Nägel mit Köpfen gemacht.

»Na, was hab ich euch gesagt? Ist Kilian nicht super?«, fragte Lena auf dem Rückweg. Noch immer schien die Sonne, und Freyas Haut im Gesicht spannte schon ordentlich. Bestimmt hatte sie sich einen Sonnenbrand geholt.

»Ja, er ist sehr nett. Aber wichtiger ist, dass sein Käse spitzenmäßig ist. Und er scheint interessiert, was Neues zu wagen.«

»Seine Frau ist wieder schwanger, und neben seiner Familie hier gibt es noch die beiden Brüder in München, die er auszahlen muss, weil er den Hof gekriegt hat. Das mit der Käserei läuft gut. Meistens fährt seine Frau auf den Viktualienmarkt, aber wenn das neue Baby da ist, müssen sie sich da was anderes überlegen. Ein zweiter Absatzmarkt hier vor Ort käme ihm sicher gelegen.«

Während Niklas sportlich vorausfuhr, glitten sie und Lena gemütlich in der Loipe und unterhielten sich.

»Dieses Kalkulierende – das liegt bei uns in der Familie, oder?«

»Ich weiß nicht, was du meinst!« Lena lachte auf. »Es gibt einige Käsereien hier in der Gegend. Nicht alle werden von jemandem geleitet, der so offen und ehrgeizig ist. Wie gut, dass ich Kilian kenne, bei dem sind wir gleich an der richtigen Adresse. Freust du dich, wenn der Tobias morgen heimkommt?« Das war ein abrupter Themawechsel. Freya kam aus dem Tritt und wäre beinahe gestürzt, fing sich aber im letzten Moment.

»Äh, ja, klar, es gibt viel zu besprechen, bevor wir wieder aufsperren.«

Lena warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Das habe ich nicht gemeint.«

»Er ist sicher gut erholt nach zwei Wochen Costa Rica.«

»Auch das meine ich nicht. Habt ihr eure Unstimmigkeiten beigelegt?«

Freya wurde langsamer, um die Distanz zu Niklas zu vergrößern, der weiterhin voller Elan vorneweg fuhr. Sie senkte die Stimme. »Nein. Und ich sehe nicht ein, dass immer alles von mir ausgehen muss. Tobias wusste, wie wahnsinnig mich diese üble Nachrede von Paul Hirschberg belastet hat. Ich konnte damit nicht umgehen. Meine Güte, da handelt man halt mal überstürzt! Niklas hat verstanden, warum ich abhauen wollte und hat kein großes Ding draus gemacht. Tobias hingegen tut so, als hätte ich ihn verraten und verkauft. Seitdem ist er beleidigt.«

»Ich würde eher sagen, er ist enttäuscht.«

»Kann ich nicht ändern.«

»Weißt du, Freya, in unserer Familie gibt’s nicht nur ausgefuchstes Kalkül, sondern auch verdammt hartnäckige Borniertheit.«

»Lena! Wie kannst du so was sagen?« Halb entsetzt, halb lachend wäre Freya beinahe ein zweites Mal gestürzt.

»Was ist bei euch dahinten los? Alber nicht rum, Freya, du hast es fast bis zum Auto geschafft, ohne hinzufallen. Mit nasser Hose lass ich dich nicht einsteigen.«

Niklas wartete, damit sie zu ihm aufschlossen.

»Gott bewahre«, flüstere Lena. »In seinem gepflegten Wagen sind nur Fischernetze und Futtersäcke erlaubt.«

Die wohlverdienten und ebenso dringend notwendigen Ferien taten Freya gut. Sie schlief besser. Und die Wintersonne streichelte ihr Gemüt. Gelegentlich überfiel sie die alte Schwermut, wenn sie an ihre Eltern dachte, oder an Anette Hirschberg. Freya ging bewusst unter Leute, insbesondere ins Dorfcafé, trank dort eine heiße Schokolade und aß ein Stück Kuchen dazu. Jedes Mal verwickelte sie die Besitzerin in einen Plausch, gegen den diese sich anfangs sträubte. Aber Freya betrachtete es als ihre persönliche Herausforderung, die harte Nuss zu knacken.

Als sie an diesem Tag das Café betrat, war auch Anette Hirschberg da. Seit ihrem Gespräch bei Frau Bachmann hatten sie sich nicht mehr gesehen.

Freya grüßte höflich, setzte sich an einen Tisch in der Nähe der Tür, und bestellte einen Cappuccino. Der Ort Walchensee zog sich entlang des Sees und hatte keinen eigentlichen Ortskern. Fast schon eine Tragödie für ein bayerisches Dorf, wo sich das Leben doch zumeist zwischen Kirchplatz und Kirchenwirt abspielte. Oben neben der Grundschule sollte deshalb das neue HdB, das Haus der Begegnung, Abhilfe schaffen und den Walchenseern eine Art Zentrum schenken. Alt und Jung konnten sich dort treffen, und der Großteil der Bevölkerung nahm es auch dankbar an. Aber einen natürlich gewachsenen Dorfplatz konnte das nicht ersetzen, den würde es nie geben. Allerdings gab es die etwas breitere Kreuzung, an der das Café und der Dorfladen standen und wo die Ortsansässigen gerne mal vorbeikamen. Von ihrem Platz aus hatte Freya die Gäste an den anderen Tischen im Blick und konnte gleichzeitig sehen, was draußen auf der Straße los war.

Zum Beispiel, dass Paul Hirschberg mit seinem Wagen vorfuhr, nicht ausstieg, sondern hupte. Woraufhin sich seine Gattin von Antonia verabschiedete, aber im Hinauseilen an Freyas Tisch abrupt innehielt. Es war nicht klar, ob das Hupen ihres Gatten sie erschreckt hatte oder Freyas Anblick. »Wie geht es dir?«, fragte sie jetzt leise.

Ernsthaft? Freyas Augenbrauen hoben sich erstaunt und bevor sie antworten konnte, beugte sich Anette Hirschberg zu ihr hinunter. »Tut mir leid. Wir müssen keinen Smalltalk machen. Was ich eigentlich sagen möchte, ist danke.«

»Wofür?«

»Du hättest es mir mit gleicher Münze heimzahlen und die Gerüchteküche anheizen können.«

»Zuerst wollte ich das auch«, gab Freya unumwunden zu. »Aber dann wusste ich, Sie sind es nicht wert, dass ich mich auch nur noch ein einziges Mal über Sie aufrege.«

Als hätte sie einen Stromschlag bekommen, zuckte Frau Hirschberg zurück. Sie presste die Lippen aufeinander, nickte kurz und verließ das Café.

Antonia hatte die Szene beobachtet. Sie kam mit dem Cappuccino herüber und stellte ihn vor Freya auf den Tisch. »Ihr redet miteinander?«

»Warum nicht? Es ist dumm, endlos auf der Vergangenheit herumzukauen wie auf einem alten Kaugummi. Dadurch wird es doch nur immer geschmackloser.«

Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, sah Freya Antonia herzhaft lachen. »Alle Achtung«, sagte sie. »Da sagst du was. Du bist vielleicht doch nicht so ganz ohne, Freya Siebert.«

Das ließ Freya am besten einfach mal so stehen. Als sie ging, nahm sie noch ein Stück Apfelstrudel mit und brachte ihn rüber zu Frau Bachmann.

»Wie nett! Gerade heute habe ich nichts zum Kaffee, da freue ich mich aber. Man mag ja über diese Kratzbürste vom Dorfcafé sagen, was man will, aber Apfelstrudel gibt es in ganz Walchensee keinen besseren – den kann sie.«

Ein neuer Gedanke keimte in Freya auf. Sie zückte ihr Handy und machte sich rasch eine Notiz, darüber wollte sie gleich mit Niklas sprechen.

Adelheid Bachmann wies einladend auf die Eckbank in ihrer Küche.

»Leider kann ich heute nicht bleiben«, sagte Freya. »Ich wollte Ihnen nur den Kuchen bringen und mich dafür bedanken, dass Sie nichts von dem Gespräch mit Frau Hirschberg rumerzählt haben.«

»Über die ist eh schon viel zu viel geredet worden«, brummte die alte Dame.

Freya gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Sie sind schwer in Ordnung, Frau Bachmann.«

»Herrgott, lass doch endlich das Gesieze. Deine Mutter hat mich immer Heidi genannt.«

»Dann mache ich das auch gern. Bis bald, Heidi.«

Freya fuhr zurück zum Fischerfleck . Vom Parkplatz aus bemerkte sie, dass hinter dem Haus Rauch aufstieg. Hoffentlich war das nicht die nächste Katastrophe!

Alarmiert rannte Freya durch den verschneiten Gastgarten, bog um die Ecke – und blieb wie angewurzelt stehen.

Es brannte nicht, der Rauch kam aus dem Rohr des neuen Badezubers. Jemand hatte ihn angeheizt.

»Tobias!«, rief sie laut und kam sich sofort blöd vor. Deshalb setzte sie, kaum intelligenter, nach: »Du bist wieder da.« Offensichtlich. Braungebrannt und mit einem Glas Weißbier in der Hand saß er neben Niklas in der dampfenden Wanne.

»Hallo, Freya.« Er prostete ihr zu.

Als sie stumm blieb, sagte Niklas: »Tobias hat den Hot Tub ja noch nicht ausprobiert. Daher dachten wir, anheizen und reinspringen. Dafür haben wir ihn schließlich, stimmt’s? Kommst du auch?«

Sie merkte, wie ihre Wangen heiß und vermutlich rot wurden. »Nein. Wenn ihr später fertig seid, können wir ja ein paar Punkte besprechen.«

»Lass uns das sofort machen. Gib mir bitte das Handtuch«, sagte Tobias und stand auf. Freya reagierte nicht gleich, sie konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Er trug zwar eine Badehose, aber die klebte eng an seinen gut trainierten Oberschenkeln und überließ nicht viel der Phantasie. Sein restlicher Körper war wie sein Gesicht sanft gebräunt und ebenso hübsch anzusehen. Nur widerwillig riss Freya sich von seinem Anblick los und warf ihm das Handtuch zu. Niklas bekam ebenfalls eins, auch wenn er sich beschwerte, dass er noch nicht mal sein Bier ausgetrunken hätte.

»Dann nimm es halt mit«, murmelte Freya. »Ich gehe schon mal rein.«

Warum reagierte sie nur so derart heftig auf Tobias? Auch wenn sie die Antwort kannte – es durfte nicht sein. Außerdem hatte er ja sowieso kein Interesse mehr an ihr.

Bis Niklas und Tobias hereinkamen, hatte sich Freya wieder im Griff. Statt in die Küche setzten sie sich oben im Wohnbereich auf die Couch. Durch die großen Balkontüren hatten sie einen perfekten Blick über den See und die Berge.

Niklas berichtete von ihrem Treffen mit Kilian Reiter und Tobias zeigte sich angetan. Sofort überlegte er, was er alles mit Käse kreieren könnte.

»Gerade im Winter kommt das sicher gut an, Comfort Food, kräftiger Käse, vielleicht kombiniert mit was Neuem, Spannendem … Da fällt mir was ein.« Er hielt einen Daumen hoch.

»Mir kam heute noch eine Idee, als ich im Dorfcafé Apfelstrudel gekauft habe«, sagte Freya. »Was haltet ihr davon, wenn wir wochenweise Kooperationen machen, jeweils mit einem anderen Betrieb aus der Gegend? Wir könnten mit Kilian starten, weil wir den Käse ja dauerhaft auf die Karte nehmen wollen. Und danach zum Beispiel eine Woche lang Dessert-Specials aus dem Dorfcafé. Antonia und Charly sind doch bekannt für ihren Apfelstrudel. Dann denke ich an Brotspezialitäten von einem Bäcker oder besondere Wurst von einem Bio-Metzger. Wir könnten auch eine Wildbretwoche mit dem Forstbetrieb Bad Tölz machen. Und dann gibt’s ja noch die Bauern mit den Hofläden. Wir könnten Menüfolgen planen, bei denen wir ihre Produkte einbringen. Natürlich immer im Fischerfleck -Stil, und unsere beliebten Gerichte bleiben natürlich im Repertoire. Was denkt ihr?«

»Wir sollen für andere Werbung machen?« Niklas klang skeptisch.

Aber Tobias verstand mal wieder sofort: »Das liefe in beide Richtungen. Die würden auch für uns werben, indem sie Flyer auslegen, Plakate aufhängen und uns Gäste schicken.«

Freya nickte zustimmend. »Genau. Über die Weihnachtsferien werden wieder mehr Urlauber hier sein, die würden wir mit so was garantiert ansprechen, die stehen sowieso auf regional und saisonal und so. Vermutlich würden auch noch mehr Einheimische kommen, wenn wir Produkte von Leuten anbieten, die sie kennen. Und sollte sich das Konzept bewähren, könnten wir es während der Saison wiederholen. Es würde uns mit den anderen Betrieben näher zusammenbringen.«

»Aber es gibt viele, die uns zu exklusiv finden und darüber die Nase rümpfen. Hör ich leider immer wieder.«

»Niklas, was glaubst du, wie schnell sich das ändert, wenn sie kapieren, dass wir ihre Produkte wertschätzen und auf eine Stufe mit Kaviar und Champagner stellen?«

Er kratzte sich am Kinn. »Hm. Vielleicht hast du recht.«

Freya fuhr fort. »Wisst ihr, ich habe während des Urlaubs viel über unsere Situation nachgedacht. Auch über die Abneigung, die uns die Hirschbergs entgegenbringen. Mit denen werden wir nie befreundet sein, das ist schon klar, doch warum sollten wir nicht versuchen, mit den anderen Betrieben hier an einem Strang zu ziehen?«

»Dann müssen wir uns aber ranhalten. Es ist nicht mehr lang hin bis Weihnachten. Ich würde zunächst das Menü für eine Käsewoche aufsetzen, und wenn Kilian vorbeikommt, sprechen wir das mit ihm ab.«

»In Ordnung, Tobias. So machen wir’s.« Niklas sah auf die Uhr. »Leute, letzter Urlaubstag, ich hab noch was anderes vor, als mit euch hier rumzuhängen. Bis später.« Er winkte ihnen grinsend zu und verschwand.

»Ist Jessica nach wie vor im Rennen?«, fragte Tobias.

Er trug nun einen dunkelblauen Wollpullover, aber Freya wusste, wie sein Oberkörper darunter aussah. Sie starrte ihn unverwandt an.

»Das ist nicht leicht zu beantworten. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie nahe sich die beiden stehen. Entweder ist mein Bruder der unromantischste Mensch auf Erden, oder er lässt keine Frau wirklich an sich ran.«

»Vielleicht will er nicht verletzt werden? Wie hieß das Mädchen noch, das ihm damals das Herz gebrochen hat?«

Freya zuckte mit den Schultern. Auch Tobias fiel der Name nicht ein. Er stand auf.

»Na ja, wenigstens freut es mich, dass ich mit meiner Einschätzung danebenlag und Jessica sich länger an Niklas’ Seite hält als viele andere vorher.« Er machte einen Schritt in Richtung Tür. »Ach übrigens, morgen früh kommt die Fischlieferung mit dem Kühllaster.«

»Alles klar.«

»Und dann geht’s wieder los. Servus.« Er hob die Hand zu einem beiläufigen Gruß.

Freya zögerte kurz. »Tobias, warte.« Er war schon auf der Treppe, sie lief ihm hinterher.

»Was ist?«

»Als du in Costa Rica warst, habe ich rausgefunden, was damals wirklich passiert ist, als Rosalie ertrunken ist.«

»Ich weiß, Niklas hat es mir erzählt. Und auch, dass du gut damit zurechtkommst. Das freut mich für dich.«

Freya nahm innerlich Anlauf und sprang über ihren Schatten. Einer von ihnen beiden musste den ersten Schritt ja tun. »Hättest du vielleicht Lust, dass wir …«

Doch Tobias hinderte sie am Weiterreden. »Warte. Nicht dass zwischen uns Missverständnisse entstehen. Ich wünsche dir wirklich von Herzen, dass du deinen Frieden mit der Vergangenheit machst. Aber was uns beide angeht – ich denke, ich hatte dir meine Gefühle deutlich genug gezeigt. Zuerst hast du halbherzig mit Jonas Hirschberg rumgemacht, und als dir die Dinge über den Kopf gewachsen sind, wolltest du davonrennen. Du hättest zu mir kommen können. Wenigstens nur, um dich zu verabschieden. Aber ein ums andere Mal hast du mir gezeigt, dass ich dir nichts bedeute und wir beide nur Geschäftspartner sind. Das respektiere ich. Verschone mich also mit weiteren Dramen, okay?«

Seine Worte trafen sie hart. »Oh. Natürlich, ich verstehe.«

»Außerdem habe ich in Costa Rica jemanden kennengelernt.«

Freya rang um Fassung. Damit hatte sie nicht gerechnet. Er wandte sich zum Gehen.

»Wir sehen uns also morgen. Bis dann, Freya.«

Als er weg war, blieb sie wie paralysiert stehen und starrte ihm hinterher. Schließlich sank sie langsam auf die unterste Treppenstufe und stützte den Kopf in die Hände. Halbherzig mit Jonas Hirschberg rumgemacht. Das klang, als wäre sie ein unentschlossener Teenager. Andererseits – besonders erwachsen hatte sie sich wirklich nicht verhalten. Wenn sie ehrlich mit sich selbst gewesen wäre, hätte sie sich viel früher eingestehen müssen, dass sie nicht das Geringste für Jonas empfand. Du hättest zu mir kommen können. Aber sie hatte nicht gewollt, dass Tobias merkte, wie verzweifelt und schwach sie war. Na ja, das hatte er dann ja sowieso mit ihrer kindischen Weglaufaktion. Aber hatte er ihr seine Gefühle wirklich deutlich genug gezeigt? Ja!, schrie alles in Freya, das hatte er. Wie konnte sie nur solchen Mist bauen? Tobias wollte sie nicht mehr, daran trug allein sie die Schuld. Und nun hatte er im Urlaub eine andere Frau kennengelernt. Freya konnte nicht mal heulen, so absolut miserabel fühlte sie sich. Warum hatte sie Tobias vor seiner Abreise nicht gesagt, wie leid es ihr tat? Dass sie einfach nicht nachgedacht und einen Fehler gemacht hatte. Natürlich hätte sie ihm dann auch ihre Gefühle gestehen müssen – etwas, das viel schwerer war, als einen Koffer zu packen und sich davonzustehlen.

»Fehler, Freya Siebert! Dummer, dummer Fehler!«, sagte sie laut.