Noch nie hatte es eine Zeit gegeben, in der sich Freya derart unbeschwert gefühlt hatte wie in diesem Winter.
Nichts lastete auf ihrer Seele, keine Ängste, die ihr den Schlaf raubten, keine Probleme, die sie bedrückten. Natürlich lag das an der Liebe. Nicht nur an der zu Tobias, die sicherlich die überwältigendste war. Sondern auch an der zu ihrem Bruder, ihrer Familie und zu ihrer Heimat. Wie Zahnräder griffen die einzelnen Aspekte ihres Lebens endlich ineinander und liefen reibungslos. Weil Freya sich dafür entschieden hatte, glücklich zu sein.
Sie war mit Tobias Ski fahren am Brauneck. Daheim auf dem Herzogstand gab es auch ein paar Lifte, aber hier, gleich bei Lenggries, lockten zahlreiche Pistenkilometer, breite Abfahrten und ideale Schneeverhältnisse.
»Besser kann’s kaum werden«, meinte sie mit einem glücklichen Rundumblick, der am Ende auf Tobias zu ruhen kam. Sie rutschte nach vorne, bis ihre Skier zwischen denen seinen steckten und sie nahe genug an ihn heranreichte, um ihn zu umarmen.
»Bist du zufrieden, ja?« Er nahm seine Sonnenbrille ab und küsste Freya.
»Wunschlos glücklich.«
»Hm. Dann wird es eine ziemliche Herausforderung werden, dir zu deinem Geburtstag eine Freude zu machen.«
»Der ist ja noch ewig hin«, wiegelte sie ab. »Bis dahin fällt euch sicher was ein.«
Tobias lachte. »Ende Februar? Ewig hin? Eher so in zwei Wochen, kann das sein? Die dreißig naht unaufhaltsam, auch wenn du es nicht wahrhaben willst.«
»Aber noch bin ich jung und knackig.« Sie schob sich wieder weg von ihm, um die Skier freizubekommen. »Wer zuerst an der Hütte ist.«
Obwohl Freya den Sommer und die Wärme liebte, musste sie zugeben, dass das Glücksgefühl einer rasanten Abfahrt auf einer beinahe menschenleeren Piste mit nichts zu vergleichen war. Fast wie fliegen fühlte es sich an. Besonders da sie diese Freude mit Tobias teilen durfte, der ein mindestens ebenso begeisterter Skifahrer war wie sie selbst.
Zwar hatte er damals, vor seinem Einstieg im Fischerfleck, gesagt, er wäre für das Stadtleben nicht geeignet und würde sich nach den Bergen sehnen. Aber bevor sie sich nähergekommen waren, hatte Freya eigentlich keine Idee davon gehabt, was er in seiner Freizeit gern machte. Denn bis dahin hatten sie einander hauptsächlich bei der Arbeit gesehen, beziehungsweise versucht, sich dort aus dem Weg zu gehen. Nun konnte sie darüber lachen, wie zickig sie gewesen war. Täglich entdeckten sie neue Gemeinsamkeiten. Am allermeisten schätzte sie jedoch seine entspannte Weltsicht.
Freya wünschte sich, ihren Geburtstag nicht groß zu feiern. Nur im engsten Kreis, also mit Tobias, Niklas und Lena. Überraschenderweise wollte ihr Bruder auch Jessica dabeihaben. Das waren ja ganz neue Anwandlungen. Und die schrien förmlich nach einer festen Beziehung.
»Schmarrn.« Immer die gleiche Entgegnung, wenn sie ihn darauf ansprach. »Wir verstehen uns einfach nur gut.«
»Also von mir aus ist sie herzlich eingeladen. Du weißt ja, ich wünsche mir ein gemütliches Käsefondue mit Kilians Käse. Und an diesem Tag und am darauffolgenden einen Ruhetag, um der Schwere des Anlasses gebührend zu begegnen.«
Niklas zwinkerte ihr schelmisch zu. »Wie kapriziös. Das ist beinahe geschäftsschädigend. Aber ich versteh dich. Auf diese Weise können wir gemeinsam feiern und uns am nächsten Tag davon erholen. Du merkst eben auch schon, dass man das Partymachen nicht mehr so leicht wegsteckt wie früher, stimmt’s?«
An ihrem Geburtstagsmorgen weckte Niklas seine Schwester um vier Uhr in der Frühe auf. Er legte ihr eine gefütterte Neoprenhose, Mütze, Stiefel und Anorak hin – alles in knalligem Neonorange.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schwesterchen. Das hier ist ein Teil deines Geburtstagsgeschenks. In den Sachen sieht man dich auch bei schlechtem Wetter.« Er drückte und herzte sie, und weil er dabei schon seine eigenen Fischsachen trug, umfing Freya gleich das wohlbekannte Walchensee-Aroma, wie sie es nannte.
»Danke.« Schlaftrunken rieb sie sich die Augen. »Warum weckst du mich? Ich wollte doch ausschlafen.«
»Damit du mit mir zu den Netzen rausfährst.«
»Heute?«
»Gerade heute. Komm, zieh dich an. Ich hab schon alles vorbereitet, das wird super.«
»Du spinnst.«
Dennoch rollte sie sich folgsam aus dem Bett und stakste wenig später, wie ein Astronaut im Raumanzug, in der steifen Neoprenhose über den Steg und hinein ins Boot.
Sie gähnte. »Du hast nur keine Lust, allein zum Fischen zu fahren, deshalb muss ich mit.«
»Nein. Ich wollte der Erste sein, der dir gratuliert und hochwertige Familienzeit mit dir verbringen, bevor ich dich mit den anderen teilen muss. Und ich hab dich gern auf dem Boot dabei. Du bist viel geschickter als Greta und Leon.« Das waren die zwei Lehrlinge, die im September ihre Ausbildung bei Niklas begonnen hatten. Und von denen Freya wusste, dass sie mit Feuer und Flamme bei der Sache waren und sicher schon viel mehr konnten als sie. Aber zurzeit waren beide in der Berufsschule.
Der kalte Fahrtwind vertrieb den letzten Rest Bettschwere aus Freyas Körper.
»Stehen dir toll, die neuen Sachen«, schmeichelte Niklas.
»Wenn du meinst, ich fahre ab jetzt immer mit, weil ich ein professionelles Fischeroutfit besitze, dann irrst du dich. Dafür schlafe ich einfach zu gern.«
»Wir werden ja sehen.« Er reichte ihr ein dickes Paar ebenfalls gefütterter Neoprenhandschuhe. »Schau, da ist das erste Netz. Kommst du dran?«
»Mann, ist das kalt!« Tapfer griff Freya ins eisige Wasser. Fischen im Winter war schon noch mal eine andere Sache als an lauen Sommermorgen. Vor allem blieb es die ganze Zeit über stockfinster.
Trotzdem bestand Niklas nach einer Weile auf einer Kaffeepause, und dafür war sie ihm dankbar.
»Augen zu«, sagte er. Er hantierte auf dem wackligen Boot herum, dass Freya sich links und rechts an der Sitzbank festhielt, weil sie befürchtete, sonst ins Wasser zu kippen. »Fertig. Jetzt kannst du sie wieder öffnen.«
»Niklas!« Tränen der Rührung stiegen in ihr auf. Auf der zweiten Bank hatte ihr Bruder ein Spitzendeckchen ausgebreitet, auf dem ein Teller mit einem kleinen Schokoladenkuchen und einer brennenden Kerze darauf stand. Und daneben eine zierliche Vase mit einer weißen Rose darin, die es hier draußen nicht lange aushalten würde. Aber er hatte sie extra besorgt und mitgebracht. Zwei Teller hatte er auch dabei. Und statt der üblichen Emaillebecher richtige Tassen mit Untertassen, in die er nun dampfenden Kaffee eingoss und aus einem Flachmann einen Schuss Schnaps dazugab. Morgens um sechs. Aber Freya protestierte nicht gegen den Alkohol. Himmel, man wurde nur einmal dreißig. Außerdem würde der verstärkte Kaffee sicher besser wärmen.
»Das ist so schön!«, stieß sie gerührt hervor.
»Blas die Kerze aus, bevor der Wind es tut. Und wünsch dir was. Dann essen wir den Kuchen. Tobias hat ihn gestern extra noch in einer kleinen Form gebacken, damit er in den Rucksack passt.«
Er schmeckte köstlich. Daher blieb auch nichts davon übrig, als die Geschwister schließlich das Geschirr wieder wegräumten. Niklas setzte sich neben Freya, legte einen Arm um ihre Schultern, und sie kuschelten sich aneinander.
»Ich bin unserem Papa dankbar für diese zweite Chance, die er uns aufgezwungen hat. Das wollte ich dir schon lange sagen.«
»Mir geht es genauso, Niklas.«
»Wollen wir zurückfahren? Es ist echt fürchterlich kalt.«
Freya lachte. »Bitte.«
Er stellte den Motor an. »Und weil du Geburtstag hast, musst du mir nicht beim Fischeausnehmen helfen, sondern darfst dich noch mal ins Bett legen, wenn du willst.«
»Könnte durchaus sein, dass ich das mache.«
Allerdings wurde nichts daraus, weil Tobias zum Frühstück vorbeikam und Freya ihn nicht nach Fisch stinkend empfangen wollte.
Frisch geduscht und gut gelaunt erwartete sie ihn am hübsch gedeckten Tisch in der Küche.
Sie hörte sein Auto vorfahren. Und dann noch ein zweites, dann Türenknallen.
»Freya!«, hörte sie jetzt Tobias rufen. »Kannst du mal eben vor die Tür kommen?«
»Warum denn?« Sie zündete das Teelicht im Stövchen an und stellte die Kanne darauf.
»Damit ich dir dein Geschenk geben kann.«
Niklas sah zur Tür herein. »Komm schon, ich hab dir doch gesagt, dass ein Teil deiner Überraschung erst später kommt. Jetzt ist sie da.«
»Krieg ich ein eigenes Fischernetz? Passend zu den Klamotten in Orange?«
»Sehr witzig, Freya. Mach schon, sie warten.«
»Sie?«
Neugierig folgte sie ihrem Bruder vors Haus und stellte fest, dass das andere Auto Jessica gehörte.
Tobias kam auf Freya zu, schloss sie in seine Arme, hob sie hoch und küsste sie.
»Alles Liebe, mein Schatz«, raunte er ihr mit seiner tiefen Stimme ins Ohr, die ihr einen wohligen Schauer bescherte.
»Ich hoffe wirklich, du freust dich.« Er wies auf Jessica, die die Beifahrertür ihres Wagens öffnete, hineingriff, etwas heraushob und auf den Boden setzte. Dann trat sie beiseite.
»Ein Hund?« Freyas Stimme war eher ein Quietschen.
Leicht verunsichert meinte Tobias: »Du redest doch seit dem Sommer davon, wie gern du einen hättest.«
»Mein Gott, ist der süß!« Sie ging in die Knie und wartete, bis der Welpe zu ihr hintapste. Er war dunkelbraun, fast schwarz, mit Schlappohren und einem weißen Fleck auf der Brust. Vorsichtig schnupperte er an Freyas Fingern und ließ sich dann streicheln. Bestimmt war es ihm auf dem Schnee zu kalt. Als sie nach ihm griff, hielt er still und kuschelte sich sofort in Freyas Arm. Das war exakt der Moment, in dem sie das Fellbündel in ihr Herz schloss.
»Dann magst du ihn?«, fragte Tobias.
Weiterhin den kleinen Hund streichelnd, nickte sie selig und ging ins Haus, wo er es wärmer hatte. Die anderen folgten ihr.
»Es ist eine ungeplante Dackel-Labrador-Mischung«, erklärte Jessica. »Ein Rüde.«
»Wie heißt er denn?« Freya blickte zwischen Jessica und Tobias hin und her.
»Er hat noch keinen Namen. Wir dachten, du willst ihm einen geben.«
Sie setzte sich mit dem Hund auf dem Schoß an den Tisch.
»Der darf aber nicht in die Küche«, protestierte Niklas.
Sofort widersprach seine Schwester. »Klar, er ist schließlich noch ein Baby.«
Und Jessica meinte lakonisch zu Tobias: »Wir wissen beide, dass dein Geschenk sicherlich für Diskussionen sorgen wird, nicht wahr?«
Bisher hatte sich Niklas nämlich stets gegen einen Hund ausgesprochen. Zu viel Arbeit, zu viel Aufmerksamkeit, nicht praktikabel mit dem Gasthaus, wohin mit ihm den ganzen Tag über, und fischen konnte er auch nicht – unendlich viele Argumente fand er gegen ein Haustier. Aber anscheinend hatte er sich erweichen lassen, Tobias hätte das niemals über seinen Kopf hinweg entschieden. Freya jedenfalls war glücklich.
Der kleine Hund rollte sich auf ihrem Schoß zusammen und schlief ein.
»Danke«, Freya küsste Tobias, der neben ihr saß. »Das ist die allergrößte Freude für mich. Ich hab ihn jetzt schon lieb.«
Sie frühstückten gemeinsam, dann musste Jessica in die Praxis, weil sie Sprechstunde hatte.
»Ich bringe dir später ein Geschirr und eine Leine mit, das habe ich vorhin in der Eile vergessen. Aber du kannst ihn ruhig einfach so zum Pipi machen rauslassen. Der rennt nicht weg. Stubenrein ist er übrigens noch nicht, ich sag’s nur …«
Alle drei begleiteten Jessica zu ihrem Wagen. »Dann bis nachher. Ich freue mich schon auf heute Abend.« Sie öffnete die Autotür.
Niklas küsste sie und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie zum Kichern brachte. Aus ihrem Bruder würde noch ein Romantiker werden, dachte Freya, wenn er sich endlich mal gestattete, sich voll und ganz auf Jessica einzulassen.
»Ach wie schön. Ein Familientreffen. Ich hoffe, ich störe nicht.«
Eine weibliche Stimme ließ alle herumfahren. Nie würde Freya den Wandel vergessen, der sich in Niklas’ Gesicht vollzog. Sein Lächeln gefror sprichwörtlich und wurde ersetzt durch einen Ausdruck höchsten Entsetzens.
Vor ihnen stand, wie aus dem Boden gewachsen, eine junge Frau mit schwarzem Haar, blasser Haut und großen grauen Augen. Sie trug einen eisblauen Mantel mit farblich passendem Schal. An ihren Ohren funkelten Diamantohrringe. Eine elegante Erscheinung, ein wenig wie eine Eisprinzessin, kam es Freya in den Sinn. Weil niemand etwas sagte, ergriff sie das Wort.
»Aber nein, Sie stören nicht. Allerdings ist der Fischerfleck heute und morgen geschlossen. Falls Sie also zum Essen gekommen wären …«
»O nein, ich bin nicht wegen des Essens hier.« Ihr Blick wanderte langsam von Freya über Tobias zu Jessica und verharrte dann auf Niklas. Der stand nach wie vor wie erstarrt.
»Ich wollte nur kurz guten Tag sagen. Ich bin Pia Kaufmann. Niklas und ich waren mal verlobt.«