Heute
»
I
ch setze mich jetzt in den Jet und hole sie verdammt nochmal nach Hause. Jetzt sofort!« Sam schreit dermaßen laut über die Dachterrasse, dass wahrscheinlich jeder Passant – etliche Stockwerke tiefer – ihn hören kann. Dabei liegt das Mothers, ein altes Hotel und später Kinderheim, in dem wir seit unserer Kindheit zusammenleben, schon recht separiert, selbst dafür, dass wir uns eigentlich mitten in der City befinden.
»Und ich komme mit!«, poltert Jared los, während die anderen Boys
zustimmend nicken. »Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass Zuzanna tatsächlich freiwillig dortgeblieben ist!«
Meine ganze Wahlfamilie schreit Lucien, Shane und Raul an, die eben erst von einem Job, in Kooperation mit den Neos
, aus Neapel zurückgekommen sind.
Alle. Sie alle schreien wild durcheinander und können es nicht fassen, dass Zuzanna in Italien bleiben will. Nur ich, ich sitze stumm auf einem der Sessel und beobachte das alles, während meine Finger fest um den Anhänger meiner Kette geschlossen sind. Ich beobachte immer. Bin meist der Ruhige
und bringe die anderen zur Vernunft. Leider bin ich diesmal selbst nicht davon überzeugt, dass Sam und Jared falschliegen. Und auch das Ruhigbleiben ist mir in der letzten Zeit abhandengekommen.
»Sie liebt ihn«, erklärt Lucien bereits zum zehnten Mal. »Und sie ist vollkommen freiwillig im Cilento geblieben.«
»Cilento«, zischt Derrik verachtend. »Mir hat es schon gereicht, dass der Typ uns nicht mal an ihr Bett lassen wollte, als sie im Koma lag. Was glaubt der eigentlich wer er ist?«
Vor einigen Wochen hat Alessio, der Anführer der Neos
aus Neapel, einen Trupp von uns angefordert. Zuzanna ist mit Shane, Raul und Lucien nach Neapel zu unserer verbündeten Truppe geflogen. Mit dem Ziel, unsere Leute als Spitzel in der gegnerischen Gruppierung der Neos
unterzubringen. La Morta
nennt sich die Sippe, unter der Führung von Alessios verhasstem Bruder Lorenzo.
Lorenzo ist mittlerweile Geschichte. In Zusammenarbeit mit den Neos
ist es Zuzanna, Shane, Raul und Lucien gelungen, Lorenzo auszuschalten. Oder eher ist es nur Zuzanna zu verdanken, allerdings wäre sie auch fast dabei draufgegangen.
Im Wechsel sind wir danach gruppenweise nach Neapel geflogen, wo sie im Hauptquartier der Neos
, von Raillys verflossener Liebschaft Giulia, der Ärztin, versorgt worden ist. Allerdings hat Alessio fast niemanden von uns nah genug an sie herangelassen. Wir sollten also froh sein, dass sie wieder bei Bewusstsein ist und scheinbar auch glücklich.
Meine Halbschwester Sarah kommt aus Richtung der Sauna und steckt sich ihr Handy in die Hosentasche. »Es stimmt«, sagt sie. »Sobald wir können, sollen wir sie wieder besuchen kommen, dann erklärt sie uns alles.« Sarah hatte nach den Neuigkeiten der drei Jungs direkt zum Telefon gegriffen, um Zuzanna anzurufen.
»Was soll stimmen?«, keift Sam. »Dass sie dort einer Gehirnwäsche unterzogen wurde?«
»Sie lieben sich«, äußert Sarah und lächelt dabei wie ein Honigkuchenpferd.
Sams Halsschlagader allerdings schwillt immer mehr an. »Du verstehst es nicht, oder? Zuzanna gibt nichts auf Beziehungen. Ich dachte, Fire, so gut kennst du sie inzwischen.«
»Das hast du vor nicht allzu langer Zeit auch noch nicht getan«, sage ich, stehe auf und alle glotzen mich an, als hätte ich gerade zum ersten Mal in meinem Leben, meine Stimme benutzt. »Was?«
»Als ob du …«, setzt Jared an.
»Wisst ihr was? Denkt doch was ihr wollt. Schreit euch an, geht euch gegenseitig an die Kehle. Nur weil eine erwachsene Frau sich dazu entschlossen hat, in einem anderen Land zu leben. Weil sie sich entschieden hat, ihre Familie zu verlassen. Und weil sie plötzlich denkt, den scheiß Anführer einer anderen Gang zu lieben, rastet ihr alle aus!« Ich balle meine Hände zu Fäusten, und es ist mir sowas von egal, dass ich jetzt noch lauter rumbrülle als alle anderen zusammen. »Und jetzt gafft mich nicht so bescheuert an. Jeder sollte für sich entscheiden können, was er aus seinem Leben macht und vor allem: was er machen will. Niemand sollte das verurteilen.« Ich gehe um meine Familie herum und steuere den Aufzug an. Ich muss weg hier. Die letzten Wochen und Monate sind einfach zu viel gewesen. »Und übrigens«, rufe ich den anderen über die Schulter zu, »ab morgen steht für drei Tage meine Auszeit an.« Bevor noch irgendwer etwas erwidern kann, steige ich in den Aufzug und drücke für die erste Etage. Meine und Jareds Etage. Wobei Mila seit einigen Wochen den Teil von Jared mitbewohnt.
Als ich in mein Wohnzimmer komme, gehe ich rüber zum Laptop, wähle eine meiner unzähligen Playlisten aus und starte Oliver Koletzki feat. Jan Blomqvist mit The Devil in Me.
Dann stelle ich den Lautstärkeregler so hoch, dass ich beinahe meine
eigenen Gedanken nicht mehr hören kann. Denn die machen mich so fertig, holen mich so weit runter, dass ich gar nicht anders kann, als mich auch über Zuzanna aufzuregen. Wie kann sie uns verlassen? Und wie könnte sie es nicht, wenn sie den Neo
-Anführer wirklich liebt? Wie ich verkraften soll, dass sie mit ihrem vorlauten Mundwerk nicht mehr hier bei uns ist, dass weiß ich noch nicht. Aber wie auch immer, werden wir alle damit leben müssen.
Man muss immer damit leben, mit den Entscheidungen, die andere treffen. Oder mit denen, die man selbst trifft. Und diese Entscheidungen müssen wir akzeptieren. Vielleicht nicht verstehen, aber respektieren, das müssen wir sie.
Ich werfe mich auf meine Couch, lege die Füße auf die Lehne und starre an die Decke, auf die mein Projektor die gesamte Galaxie projiziert. Manchmal wünsche ich mich auch dort hoch, in die Galaxis – ins Universum. Wie unendlich frei muss man dort sein? Dort gibt es keine Enge, Verurteilung oder Ausgrenzung. Wenn die Boys
wüssten, mit wem sie hier wirklich unter einem Dach leben, würde mich die Verurteilung und Ausgrenzung gleichermaßen treffen.
Sie alle haben ihre Macken und keiner von uns ist frei von Schuld. Aber das, was in mir schlummert, das, was ich wirklich bin, das könnten selbst sie nicht akzeptieren. Ich bin ein Tier, ein verdammt krankes, und ich kann es bloß unter meiner schönen Schale verstecken. Und dieses Tier hat nur noch ein Ziel. Wie automatisch greift meine Hand nach der silbernen Panzerkette um meinen Hals. Immer wenn ich an sie
denke, wird es schlimmer. Brauche ich noch mehr. Ich öffne den USB-Stick, der als Tarnung an meiner Kette hängt, und lasse eine der Kapseln in meinen Mund fallen.
Seit ich sie wiedergesehen habe, brauche ich fast die doppelte Menge, da mein Kopf sonst nicht klarkommt. Wochenlang habe ich meine Auszeit jetzt schon hinausgezögert, den anderen zuliebe. Dabei brauche ich diese
Zeiten, um nicht komplett am Rad zu drehen. Nur einmal die Woche rauf nach Massachusetts zu fahren, um Shiva neues Futter zu bringen und dreißig Minuten später wieder zu verduften, reicht nicht aus. Aber in den letzten Wochen war hier so viel los, dass es einfach nicht drin war, volle drei Tage dortzubleiben. Erst ging es um Sid, dann um den King … Ich kann jetzt nicht mehr warten. Schon alleine zu wissen, dass der King ständig unter diesem Dach lebt, bringt mich an meine Grenzen. Ihr Vater …
Eigentlich ist der King nur einer unserer Jobs gewesen. Sids Job. Doch statt ihn zu beseitigen, hat sie ihn bei uns aufgenommen, weil sie Mitleid mit ihm hat. Sich ihm irgendwie verbunden fühlt. Und dann haben wir auch noch herausgefunden, dass er ihr
Vater ist. Und Zuzanna, die hat mir nun den letzten Rest gegeben. Also springe ich auf – es ist mittlerweile neunzehn Uhr –, schnappe mir meinen Rucksack, meinen Laptop, die Jacke und verpisse mich runter in die Tiefgarage. Die anderen werden erst morgen Früh bemerken, dass ich schon weg bin. Dafür sind sie jetzt alle viel zu sehr mit dem Zuzanna-Thema beschäftigt. Aber sie kennen es nicht anders von mir. Ich brauche das jetzt. Wenn ich mir diese Auszeit nicht sofort nehme, habe ich Angst, hier etwas anzustellen. Etwas, das alles verändern würde. Und dann würden sie nicht mehr ihre Späße machen und Vermutungen anstellen, was ich seit Jahren in diesen drei Tagen alle paar Wochen treibe.
Ich nehme den Jeep, da er am besten für das Gelände im Walden Pond State Reservation geeignet ist. Die Fahrt jedes Mal da hoch ist lang, fast dreihundert Kilometer, aber mir macht es nichts aus. Und es ist weit genug weg, von meinem eigentlichen Leben. Gekauft hatte ich einen großen Teil der Fläche, als ich gerade achtzehn Jahre alt war. Und für kein Geld der Welt würde ich dieses Fleckchen Erde wieder hergeben. Die anderen wissen nichts davon und so soll es auch bleiben.
Der Verkehr ist wie immer viel zu dicht, und um schneller an mein Ziel zu kommen, müsste ich jetzt eigentlich weiter geradeaus, auf die CT-15 fahren. Aber wie so oft in den letzten Wochen, mache ich einen Schlenker nach links und biege auf die 684 ab. Und keine halbe Stunde später stehe ich vor dem einsamen, verlassenen Anwesen des Kings. Ähnlich wie mein Gelände in Massachusetts liegt auch dieses hier ziemlich außerhalb und ist von einem hohen Zaun umgeben. Ich muss aber nicht wirklich einbrechen, da ich mir einen Zweitschlüssel – heimlich – vom Bund des Kings nachgemacht habe. Immer wieder treibt es mich hierher. In ihr Gefängnis. Irgendwie fühle ich mich ihr hier nahe. Doch auch heute, als ich den Wald hinter dem Anwesen betrete und dann in das Waldhaus hineingehe, das hinter dem eigentlichen Haupthaus liegt, ist alles still und verlassen. Die ganzen Räume hier in der oberen Etage interessieren mich nicht, selbst wenn ich ein schlechtes Gewissen bekomme, als ich an der Psycho-Zelle vorbeigehe, in der auch Sid einige Tage verbracht hat, während ihres letzten Jobs. Eine Zelle, in der der drogenabhängige King sie gefangen gehalten hat. Aber irgendwie scheint ein Teil der Jungs ihm mittlerweile zu vertrauen. Ich kann es nicht. Ich glaube ihm nicht.
Aber wie käme ich dazu, ihn zu verurteilen? Ich bin bestimmt der Letzte, der das Recht dazu hat. Außerdem interessiert mich vielmehr die untere Etage dieses Hauses, das Kellerverlies. Das, in dem ich Sannah wieder begegnet bin. In dem sie jahrelang festgehalten wurde, von ihrer verrückten Tante. Was ein Glück für dich, Sannah, dass es deine Tante war und nicht ich.
So leise wie es geht, schleiche ich mich hinunter, sehe in jeden verwahrlosten Raum, aber wie immer ist sie nicht hier. Ich schalte die Taschenlampe meines Handys an und öffne die kleine versteckte Tür, die zu den Höhlengängen führt. Die Gänge, in denen Sannah an diesem Abend verschwunden ist. Der Abend, an dem wir ihre Tante getötet haben. Einmal
danach noch bin ich mit den Jungs etwas weiter in die Höhlengänge vorgedrungen, aber es sind offensichtlich nichts weiter als Gänge. Und ab einer bestimmten Stelle kommt man einfach nicht mehr weiter, eben weil diese Gänge zu eng werden, um durchzukommen. Wo immer diese Höhlen also hinführen oder wo sie herkommen, sie bleiben ein Rätsel. Im Netz konnte ich absolut nichts darüber finden. Kein altes Bauwerk, das irgendwo verzeichnet ist, kein Stollen, nichts künstlich Angelegtes, einfach nichts. Und wenn ich etwas im Netz finden will, finde ich es normalerweise auch. Nur versinkt bei mir, was Sannah betrifft, genauso wie die Gänge, alles in gähnender Schwärze.
Ich habe nicht nur einmal versucht, Sid davon zu überzeugen, den King nach diesen Höhlen zu befragen. Aber sie schützt diesen Mann wie eine Löwenmutter ihr Junges. Der King weiß noch nicht mal, dass seine Tochter die ganzen Jahre in seiner Nähe gewesen ist und nicht, wie er angenommen hat, verschwunden. Mila sagt, wenn man den King jetzt darüber aufklären würde, dass Sannah die ganze Zeit in seiner Nähe gewesen ist, wären all die kleinen Fortschritte sofort zunichtegemacht. Er müsse erst stabiler sein.
Ich betrete nochmal den Raum, in dem Luce, die verrückte Schwester des Kings, Sannah gepackt hatte, als wir sie hier unten fanden. Der Raum, in dem Sannah mir dann ein Messer in den Bauch rammte. Der Raum, aus dem sie dann spurlos, irgendwo in den Höhlen verschwunden ist.
Ein altes verdrecktes Feldbett steht in einer der Ecken und an der Decke ist ein Karabinerhaken angebracht. Ich frage mich nicht zum ersten Mal, wer dort festgeschnallt wurde. Die verrückte alte Luce oder Sannah? Oder jemand ganz anderes?
Missmutig verlasse ich zehn Minuten später das King-Anwesen und fahre auf die I-84 und von dort aus durch Hartford, Manchester und immer in Richtung Walden Pond. Die Musik dröhnt mir dabei um die Ohren und ich tipple nervös
mit meinen Fingern auf dem Lenkrad herum. Als ich zu hektisch werde, ihr Bild zu oft vor mir erscheint, öffne ich mit einer Hand den USB-Stick an meiner Kette und schlucke einen der für mich kleinen Ruhigmacher. Jan Blomqvist mit I Don´t Think About You
läuft in der Dauerschleife, und ich weiß, ich quäle mich wieder mal selbst. Aber wie sollte ich aufhören, an sie zu denken? Sie ist zu präsent in meinem Kopf. Ich habe noch ihren Geruch in der Nase. Jahrelang hatte ich diesen Duft nicht vergessen, nur verdrängt. Doch dann der Moment, als ich sie nur kurz in den Armen hielt, da war alles wieder da. Und dieser Geruch, der hat den Jagdtrieb so vehement in mir geweckt, dass ich seitdem kaum mehr klarkomme. Er lässt mich kaum noch mit meinen Boys
zusammenleben.
Ich glaube nicht, dass sie tot ist. Dass sie in diesen Höhlen gestorben ist. Ich würde es spüren, wenn es so wäre. Könnte fühlen, wenn sie nicht mehr da ist. All die Jahre habe ich sie tief in mir gespürt und sie nur geschickt verdrängt. Mit anderer Beute. Aber jetzt, seitdem sie zurück ist … Ich kann sie nicht gehen lassen. Irgendwo da draußen ist sie, und ich werde sie so lange jagen, bis ich sie habe und dann endlich – nach all den Jahren – erlegen.
Als ich auf Waltham zufahre, werde ich etwas ruhiger. Nur noch knappe dreißig Minuten. Wenn ich hier hochkomme, bin ich immer ruhiger. Vielleicht liegt es daran, dass ich hier ganz ich sein kann. Oder eben diesen anderen Teil meines Ichs ausleben kann.
An einer Tankstelle halte ich, fahre mir kurz durch die Haare und sehe in den Innenspiegel. Fuck! Ich sehe echt scheiße aus. Dicke Ringe unter den Augen und ein Ausdruck, vor dem ich gerne selbst weglaufen möchte. Ich schnappe mir mein Basecap, ziehe es mir tief ins Gesicht und gehe in den Laden, in dem ich der einzige Kunde bin. Zwar will ich seit Wochen schon hier hochkommen, aber jetzt, so quasi unvorbereitet, habe ich nicht mal etwas zum Frühstücken im Dark Souls
. So heißt meine Villa, tief im Walden Pond State Reservation. Es besitzt ebenso eine schwarze Seele wie ich.
»Hey«, ruft die junge Frau, die hinter der Kasse steht, und lächelt mich verschmitzt an.
Ich sehe nur kurz zu ihr rüber, bevor ich mich dem Inhalt des Kühlschranks widme. Sie hat kurzes blondes Haar, eine gute Figur und sie sieht mich an, als wolle sie mich direkt zum Nachtmahl verspeisen. Kätzchen, dabei wäre zum Frühstück nichts mehr von dir übrig.
Ich schnappe mir eine Packung Eier und ein Paket Sandwichscheiben und gehe auf sie zu.
»Das ist alles?«, will sie wissen und strahlt mich an.
»Jep«, antworte ich karg und ziehe einen der Scheine aus meiner Hose. Ich nehme nie dieselben Läden zum Einkaufen. Nicht mal dieselben Tankstellen. Meist kaufe ich für die drei Tage schon in Manhattan ein. Ich kann es nicht gebrauchen, hier aufzufallen. Dabei weiß die ganze Gegend sowieso, dass ein reicher junger Mann, einen Teil des Reservats vor über fünf Jahren gekauft hat. Und dass er monatelang dort mitten im Wald eine Villa hat entstehen lassen.
»Das macht sieben Dollar«, sagt sie, und als ich den Schein auf die Ablage lege, liegt ihre Hand sofort neben meiner.
Mit einem Griff umfasse ich sie, beuge mich vor, sodass ich fast ihre Lippen berühre und öffne meinen Mund leicht. Ich spüre ihren beschleunigten Pulsschlag, und als ich mit meinem Daumen über ihren Finger streiche, weiß ich, dass ich sie jetzt und gleich mitnehmen könnte. »Was würdest du jetzt am liebsten tun?« Meine Stimme hört sich so kratzig an, dass mir selbst etwas warm wird. Aber es liegt nicht an der Kleinen und ganz sicher nicht an mir. Alles hängt mit ihr
zusammen.
»Ich … ich würde dich gerne …«, stottert sie und ihre Wangen laufen rot an.
Ich beuge mich noch weiter vor, berühre eigentlich schon mit meinem Mund den ihren. »Sei froh, dass du es niemals erfahren wirst.«
Ihre Augen sind weit aufgerissen, sie überlegt, ob sie mich einfach küssen oder den Alarmknopf unter ihrem Tresen drücken soll.
»Stimmt so«, flüstere ich, löse mich von ihr und schnappe mir meine Einkäufe. Als ich vom Hof fahre, sieht sie mir durch ihre Scheibe hinterher und ich bin mir sicher, sie wird ab jetzt jeden Abend warten, dass ich zurückkomme.
Es ist wie ein Fluch. Ein für mich guter Fluch. Bin ich mit den Jungs unterwegs, passiert es mir selten, dass ich angequatscht werde. Ich denke, es liegt an meiner Art. Ich bin nicht so extrovertiert wie die anderen. Ich kann mich gut im Hintergrund halten und mit der Dunkelheit verschmelzen. Aber sobald ich mein gewohntes Umfeld verlasse, sobald die Jungs nicht dabei sind, ist es anders. Wenn ich im Jagdmodus bin, gleiche ich eher dem Rattenfänger von Hameln und das, ohne eine Pfeife dafür zu nutzen. Sie alle können von Glück reden, dass ich sie niemals auswählen werde. Ich nehme keine Mädchen von der Straße mit, keine aus Clubs und habe auch keine Dates. Das, was ich will, was ich brauche, hole ich mir über meine eigene Plattform. Und selbst diese Frauen, die sich wissend darauf einlassen, sind nachher froh, wenn sie Dark Souls
nie wieder betreten müssen. Oder lebend davonkommen.
Ich befinde mich jetzt in unmittelbarer Nähe zum Walden Pond. Der Walden Pond ist ein etwa 26 Hektar großer See und liegt im Gebiet des 100 Hektar großen Walden Pond State Reservation. Und ganz tief drin, da liegt Dark Souls.
Mit einer bedeutend geringen Fläche von 24 Hektar kann ich dort tun und lassen, was ich will. Niemand beobachtet mich, niemand interessiert sich und niemand hört, was ich ab und an dort treibe. Für die Einheimischen, die von mir wissen, bin ich ein versnobter, junger, reicher Jäger aus Manhattan, der auf seinem Land Wildtiere jagt. Deshalb schert sich auch niemand darum, wenn ich einmal im Monat eine Lieferung bekomme. Manchmal sind es Bisons oder Hirsche, dann und wann Hasen
und ganz oft Nutzvieh.
Ein Jäger bin ich wirklich, nur das meine Beute eine andere ist.
Ich parke den Jeep unweit des Sees auf dem dafür vorgesehen Parkplatz, ziehe mir meine Jacke über, schnappe mir Rucksack und Laptop und marschiere los. Etwa zwanzig Minuten von hier zu Fuß. Mit dem Auto kommt man ab hier nicht weiter und das ist auch gut so. Schwierig waren zu Anfang nur die Tierlieferungen. Oder vor fünf Jahren, als ich meine Villa habe entstehen lassen, die Bauarbeiten. Es war ein Kampf, die ganzen Bäume fällen lassen zu dürfen, damit die Baufahrzeuge bis zu meinem Land durchkamen. Aber mit der richtigen Summe Geld, an geeignete Stellen verteilt, lässt sich vieles in die Wege leiten. Mittlerweile sind die Hecken, Büsche und Bäume, die nach Fertigstellung von Dark Souls
angepflanzt wurden, wieder hochgewachsen und der reiche Jäger ist fast schon in Vergessenheit geraten. Außer zu den Tierlieferungen, falls sich dann gerade jemand hier am See aufhält. Am Anfang habe ich mir das Schauspiel dann und wann aus der Ferne angesehen. Doch seit Jahren wissen die Fahrer, über welchen Pfad sie die Tiere zu mir zu führen haben, und es schert sich niemand mehr wirklich darum.
Im gesamten Wald knackt es geheimnisvoll und man sieht die Hand vor Augen nicht, aber mir genügt meine kleine Leuchte. Ich mache mir keine Gedanken darum, hier vielleicht von einem Schwarzbären oder Ähnlichem angegriffen zu werden. Das gefährlichste Tier, hier in diesem Wald, das bin ich. Ich kenne den Weg. Den Weg zu meinen Abgründen. Und die sind wesentlich dunkler als jeder Wald. Wo sie herkommen, diese Abgründe, das weiß ich nicht. Aber ich hinterfrage es auch nicht. Sie gehören zu mir wie Sarah zu Sam oder die Sonne zum Mond. Es geht nicht gut mit, aber auch nicht ohne sie.
Kurz bevor ich den vier Meter hohen Sicherheitszaun, der
um mein gesamtes Areal liegt, erreiche, gebe ich leise Zischlaute von mir. Shiva kennt diese Laute, und kaum, dass ich zwei davon ausgestoßen habe, kommt sie wie ein Pfeil auf das Gitter zugeschossen. »Shiva, mein Mädchen«, rufe ich ihr entgegen. Sie fiept, als würde sie nach ihren Jungen rufen, die sie nie hatte oder haben wird, und als ich das Schloss öffne, durch das Tor trete, baut sich mein Gepardenmädchen bereits zu ihrer vollen Größe am zweiten Zaun auf. Auch dieser lässt sich nur durch eine Fernbedienung öffnen, und dann endlich bin ich zu Hause. Dark Souls.