»
D
u musst nach Hause kommen, Frost. Wir brauchen dich wirklich.«
Wie ein Irrer suche ich nach meinen Air Pods, weil ich nicht will, dass Sannah etwas von diesem Gespräch mitbekommt, kann sie aber nicht finden.
»Frost? Was ist denn los? Sprich doch mit mir.«
»Fuck, Fire«, schreie ich durch den Raum, als mir einfällt, dass die Pods irgendwo draußen im Wald liegen. Fire … so nennt normalerweise nur Sam meine Schwester, aber ich bin gerade so wütend – am meisten auf mich selbst –, dass ich es ebenfalls verwende.
»Du machst mir Angst, Frost.«
»Und du glaubst gar nicht, wie viel Angst du mir gerade machst«, knurre ich, ohne nachzudenken. Endlich finde ich zumindest die Fernbedienung, damit ich die Tür zum Schauraum schließen kann. Damit Sannah wenigstens dieses Gespräch nicht mitbekommt. Als die Tür sich endlich vor meiner Nase schließt, fühle ich mich noch beschissener als ohnehin schon. Dabei sollte ich mich überhaupt nicht so fühlen. Vor allem sollte ich nicht so mit ihr mitfühlen. Fuck, verdammte Scheiße!
»Frost?«
Erst die zarte, verängstigte Stimme meiner Schwester holt mich etwas runter. »Tut mir leid, ich habe mich nur gerade am Ofen verbrannt.« Was soll ich sonst sagen …
»Am Ofen?«
Sie klingt verwirrt und aufgeregt. »Du musst nach Hause kommen, Frost. Wir brauchen deine Hilfe.«
»Ich kann jetzt nicht kommen, das habe ich Sam schon gesagt.« Ich bin hin- und hergerissen, zwischen der Dringlichkeit in ihrer Stimme und dem Bewusstsein, dass Sannah dort drüben liegt. Ich sehe sie durch die Scheibe. Sie hat den Arm über ihr Gesicht gedeckt und liegt gekrümmt auf der Liege. Was ist da eben mit ihr passiert? Oder mit mir?
»Du musst, Frost, bitte! Sid ist am Durchdrehen.«
»Was ist denn los?«, frage ich und versuche mich wirklich auf die Stimme meiner Schwester zu konzentrieren, während ich näher an die Scheibe herantrete.
»Mila hat etwas Dummes getan.«
»Mila?« Mila könnte mir gerade nicht egaler sein.
»Sie war mit dem King alleine … Scheiße, Frost, sie ist total fertig und macht sich solche Vorwürfe.«
Meine Faust prallt gegen die Schauscheibe und ich sehe, wie Sannah zusammenzuckt. »Was hat sie getan?«
»Sie hat es sicher gut gemeint und dachte … Na, sie wollte nur helfen …«
»Fire!«
»Sie hat dem King erzählt, dass seine Tochter die ganzen Jahre im Waldhaus unter der Erde gefangen war und dass sie vielleicht noch lebt. Sie dachte, er wäre stabil genug, und dass diese Information ihn wieder völlig klar werden lassen würde …«
»Das hat sie nicht getan«, stammle ich und schlage erneut meine Faust gegen die Scheibe.
»Er hat sie einfach niedergeschlagen und dann ist sie erst wieder wachgeworden, als wir anderen zurückkamen. Und jetzt ist sie völlig fertig und der King ist weg. Sam und die Jungs waren schon auf seinem Anwesen, aber er ist nicht da. Oder sie finden ihn nicht. Du
warst viel öfter dort und auch in den Höhlen. Du musst nach Hause kommen, Frost, wir brauchen dich hier.«
Ich versuche zu verstehen, was sie mir da sagt, höre ihre Worte, sehe unentwegt zu Sannah … »Da kann ich euch diesmal nicht helfen. Ich kenne nicht mehr von den Höhlen als ihr.«
»Frost …«
»Es tut mir leid, Sarah. Ich liebe dich.« Ich drücke das Gespräch weg, schalte das Handy aus und fahre mir durch die Haare. Scheiße, scheiße, scheiße! Wie der Wahnsinnige, der ich auch bin, tigere ich vor der Scheibe auf und ab. Ich will zu Sannah, will sie in den Arm nehmen, beschützen … am besten vor mir, aber genauso reißt es mir das kleine Stückchen Herz, das ich noch besitze, auseinander, meine Schwester so abgewürgt zu haben. Meiner Familie nicht zur Seite zu stehen, wenn sie mich braucht, ist fast das Schlimmste. »Fuck!« Erneut kracht meine Faust gegen die Scheibe und wieder zuckt Sannah. Der verdammte King … Aber er weiß nicht, dass seine Tochter hier bei mir ist. Weiß nicht, wie sehr ich sie brauche. Kurz geht mir durch den Kopf, einfach alles über den Haufen zu werfen. Einfach meine Redcat zu packen, sie zu heilen und mit ins Mothers zu nehmen. Aber, shit! Ich kann es nicht! Über kurz oder lang würde sie meiner Familie erzählen, was ihr passiert ist. Der King käme zurück und er würde sie so lange nicht in Ruhe lassen, bis er alles wüsste, was seine kranke Schwester seiner Tochter angetan hatte. Wobei ich immer noch nicht überzeugt davon bin, ob das alles wirklich nur auf Luces Mist gewachsen ist. Aber egal wie, unweigerlich würde Sannah ihm erzählen, was ihr hier passiert ist. Damals, heute und Scheiße!
Mit wütenden Schritten stapfe ich nach draußen, öffne das Tor zu Shivas Zweitbehausung, die mich schon aufgeregt empfängt. »Was war eben los, Mädchen?«, frage ich. Als ich mich zu ihr beuge, sie wie immer hinter den Ohren kraulen
will, faucht sie, rennt an mir vorbei durch das Tor und hinaus in den Wald. »Sind alle Katzen jetzt verrückt geworden?« Scheiße, ich kann nicht mal sagen, was eigentlich genau hier gerade passiert. Und vor allem kann ich nicht sagen, was ich als Nächstes machen soll. Ich weiß es schlicht und ergreifend nicht, dabei kenne ich dieses Gefühl nur von den Jahren, in denen ich mich damit abfinden musste, Sannah einfach nicht aufspüren zu können. Und jetzt ist sie hier und es fühlt sich noch viel schlimmer an. Es schnürt mir die Kehle zu.
Wie automatisch greife ich nach meiner Kette, will mir einen meiner Ruhigmacher einfahren, doch mein Griff geht ins Leere. Hektisch sehe ich mich um, wälze mit den Füßen die dunkle Erde um, doch da ist nichts. Entweder draußen im Wald, bei den Buchen, auf dem Weg hierher oder drin bei Sannah. Irgendwo habe ich sie verloren. Sannah … Fuck! Bevor ich Dark Souls
wieder betrete, greife ich in meinen Hosenbund an der Rückseite meiner Jeans, um mich zu vergewissern, dass zumindest das Messer nicht verloren gegangen ist, selbst wenn ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll.
Die Tür öffnet sich vor meiner Nase und mit festen Schritten gehe ich zum Schauraum. Öffne ihn und sehe Sannah. Sie liegt noch ebenso auf der Liege, wie ich sie zurückgelassen habe. Mit langsamen Schritten nähere ich mich ihr und weiß es schon, als ich sie nur sehe, dass ich sie jetzt nicht töten kann. Ich kann es einfach nicht. Ich muss umdenken, muss mir etwas anderes einfallen lassen. Wenn ich bloß wüsste was. »Sannah?«, frage ich leise, während ich mich zu ihr beuge. »Sannah, das
wollte ich nicht. Es tut mir leid. Kann ich irgendetwas tun?« Als sie mit geschlossenen Augen, völlig unerwartet ihre Arme nach mir ausstreckt, macht mein verdammtes, dunkles Herz einen Satz. Doch, bevor ich mich wie ein schützender Kokon um sie winden kann, springt sie auf und umschlingt mich. »Scheiße, Sannah«, stoße ich aus und erhalte als nächstes einen Tritt in meine Eier.