Sannah
H ektisch fischt er einen kleinen Apparat aus seiner Hosentasche, drückt darauf herum und die Frauenstimme verschwindet. Mit Wucht schmeißt er den Kasten auf einen der Sessel und sieht mich dann wieder an. »Sannah«, kommt knurrend aus seiner Brust, aber sein Blick wirkt völlig verstört. Vielleicht sogar noch verstörter als mein eigener, zu meinen schlimmsten Zeiten.
Mit der Glock zielt er weiterhin auf meinen Kopf und ich bin beinahe genauso verstört wie er selbst. Diese Frauenstimme erneut zu hören, kaum, dass er zurück ist … Ihn zu sehen und zu wissen, dass ich mich gegen ihn wehren muss, wo ich es eigentlich überhaupt nicht will, weil er bei ihr war oder meinem Vater … Mein Herz pumpt derart stark, dass mir der Schweiß ausbricht. Das alles ist einfach zu viel. Wieder macht er einen Schritt auf mich und Shiva zu und die Katze baut sich größer vor mir auf. Ein leicht schmerzlicher Ausdruck huscht über Frosts Gesicht, während Shiva sich an meine Beine drückt. Ich kann selbst nicht verstehen, wieso sich dieses Tier an mich hängt. Weshalb wir uns vertrauen. Es macht nicht den Anschein, als hätte Frost ihr jemals etwas Böses angetan, außer der Tatsache, sie hier einzusperren. Ich schlucke hart, bevor ich es schaffe, meine Lippen zu öffnen, um ihn anzusprechen. Ihn, der alles und nichts für mich ist. »Ist es so weit?« Meine Stimme klingt so hart und fest, dass ich mich selbst darüber wundere. Ich fühle mich gerade nicht stark. Ganz im Gegenteil.
»Ich habe keine andere Wahl«, sagt er und bleibt wieder stehen. Seine Hand zittert. Und ich habe ihn nie so aufgewühlt gesehen. Ich habe noch nie seine Hände zittern sehen. Normalerweise ist er in allem, was er tut, völlig beherrscht. Ganz er selbst, wer immer er auch unter seiner dunklen Schale eigentlich ist.
Vorsichtig lasse ich meine Hand unter meinen Hintern wandern, unter dem sein Messer liegt. Wenn er mich erschießen will, dann wird er auch Shiva erlegen müssen. Aber sollte er näherkommen, bin ich bewaffnet. Gerne würde ich sagen, dass ich dazu auch bereit bin, aber davon bin ich Lichtjahre entfernt. Zusätzlich liegt unter mir noch eines seiner Seile. In den letzten Stunden hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich denke immer viel, aber normalerweise bezogen sich meine Gedanken stets nur darauf, wie ich den Tag mit Tante Luce überstehen soll.
Oder in den letzten Monaten darum, wann die Essensvorräte zuneige gehen werden. Das hier ist etwas völlig anderes. Jahrelang habe ich nur an Frost gedacht. Spürte immer diese Verbundenheit, die sich gleich bei unserem ersten merkwürdigen Treffen in mich gepflanzt hatte. Jahrelang habe ich davon geträumt, dass genau er derjenige ist, der mich vor all den Monstern rettet. Und als dieser Traum endlich wahr wird, stellt er sich selbst, als das größte Monster heraus. Womit ich nur nicht gerechnet hatte, war, dass dieses Monster im Auftrag meines Vaters handelt. Selbst als ich an dem Tag, an dem er und die Fremden, Tante Luce den Lebensfaden durchtrennten, in die Höhlen lief, als ich nach einigem Umherirren die kleine Klappe fand … Als ich die ganzen Ordner sah und in einem davon Frosts Foto, wie er an dem Tag vor fünf Jahren aus seiner Haustür heraus, auf mich zumarschiert … Selbst da wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dass er für meinen Vater arbeitet. Ich nahm an, dass er von Tante Luce und Hold ebenso benutzt worden war wie ich. Auf der Rückseite dieses Fotos hatten zwei Adressen gestanden. Mit der einen konnte ich nichts anfangen, da sie seltsam war und keinen Sinn ergab. Die andere war mit Walden Pond State Reservation notiert. Eine Woche etwa, nachdem Tante Luce nicht mehr lebte, beschloss ich zurückzukehren, an den Ort, an dem wir uns begegnet waren. Ich wollte wissen, was aus dem seltsamen jungen Mann geworden war. Ich wusste nicht, was mich draußen erwarten würde, wusste nicht mal, wie ich überhaupt zu diesem Ort kommen sollte. Doch als ich den linken Höhlengang entlanglief und plötzlich vor einem verschütteten Ausgang stand, verließ mich jeder Mut. Meine Stimme hatte mir eingeredet, dass es ein Zeichen sei. Dass ich diesen Mann nicht suchen sollte. Der Weg nach draußen in die Freiheit, den Tante Luce und Hold mich damals durch die Höhle, bis nach draußen geführt hatten, den gab es nicht mehr. Und somit gab es keinen Weg mehr, zu diesem jungen Mann, an den ich so viele Jahre gedacht hatte. Ich hätte durch das Verlies nach oben gehen können, so, wie ich auch diesen Weg immer nahm, um mich im Haupthaus mit Konserven auszustatten. Ich hätte einfach durchs Haupttor gehen können … Aber ich hatte zu viel Angst. Sobald ich auch nur einen Gedanken daran verschwendete, kam meine Stimme ins Spiel und trieb mich zurück in den kleinen Höhlenraum. Vielleicht hatte die Stimme die ganze Zeit recht. Vielleicht ist Frost viel verrückter und gefährlicher als alles, was auf dieser Erde existiert.
Und jetzt schmerzen mein Herz und mein Kopf so sehr, dass ich befürchte, wenn er nicht mehr hier ist – wenn ich ihn ausgeschaltet habe –, werde ich noch verrückter, als ich es sowieso schon bin. Du bist nicht verrückt, Sannah, das will er dir nur einreden. »Er sagt doch nichts«, zische ich.
»Sannah«, wiederholt Frost leise und viel zu dünn. Und dann … fällt die Glock zu Boden, er macht einen letzten Schritt auf mich und Shiva zu und sinkt einfach auf dem Boden zusammen.
Völlig perplex springe ich auf und auch Shiva fiept laut. Das ist eine Falle, Sannah. Fall nicht wieder darauf herein. Hektisch und ohne meine Stimme weiter zu beachten, schnappe ich mir das Messer, das Seil und gehe auf ihn zu. Shiva folgt mir dicht auf den Fersen und ich versuche, zu verstehen, was hier gerade passiert. Ist er ohnmächtig? Er ist kerngesund, Dummchen. Gesünder als du. Es ist eine Falle! Ich ziehe einen leichten Bogen um ihn, bis ich bei der Glock ankomme und sie mit dem Fuß so weit wie möglich über den Boden wegtrete. Erst danach wende ich mich ihm wieder zu. »Was hast du?«, frage ich vorsichtig. Er macht mir Angst, wie er daliegt.
Seine Lider zucken ein paar Mal, bevor er sie endlich wieder öffnet. »Bring es zu Ende. Mach das, was du die ganze Zeit schon tun willst, Sannah. Ich habe nichts Besseres verdient.« Er spricht leise, gar nicht wie er selbst, und ständig fallen seine Augen erneut zu, als ob er kurz vorm Einschlafen wäre.
»Vielleicht wäre das das Beste«, wispere ich und warte auf eine Reaktion oder eine Antwort. Warum sagt er mir nicht einfach, dass ich mit allem falschliege? Dass er zu mir hält … »Frost?« Er liegt da, das Flattern seiner Lider ist verschwunden und ich frage mich, ob er eingeschlafen ist. Aber, wie könnte er? »Frost?«, frage ich lauter, aber eine Antwort erhalte ich nicht. Diesmal bin ich es, die das Messer zwischen die Zähne nimmt. Schnell beuge ich mich zu ihm hinunter, Shiva direkt neben mir, die ihre Nase in die Luft hält. So, als wolle sie erschnüffeln, was mit ihrem Herrchen los ist. Als ich seine Handgelenke berühre, durchfährt mich sofort eine wahnsinnige Hitze, doch diesmal lasse ich mich nicht davon ablenken. So gut ich es eben kann, schnüre ich seine Hände hinter seinem Rücken zusammen und bin mir sicher, das, sollte er noch wach sein, er längst reagiert hätte. Ich will das alles nicht tun, aber er lässt mir keine andere Wahl. Wieder mit dem Messer in der Hand, bin ich mutiger und fahre einmal mit der anderen Hand durch sein dichtes, dunkles Haar. Erst danach prüfe ich seine Atmung und kontrolliere seinen Puls, der so gemächlich langsam geht, als läge er tatsächlich im Tiefschlaf. »Was ist mit dir?«, frage ich, weiß aber jetzt, dass ich keine Antwort bekomme. Er liegt einfach reglos wie eine Puppe da. Außerdem sieht er nicht danach aus, als hätte er einen Herzinfarkt oder dergleichen erlitten. Vielleicht ist er etwas blasser als sonst, aber akut hilfsbedürftig wirkt er nicht.
Er will dich einlullen wie immer, Sannah. Er wartet nur auf einen weiteren schwachen Moment von dir.
»Sei endlich still! Du weißt nichts!«
Ich lasse mich neben ihn auf meinen Hintern sinken, schwinge das Messer in der Hand und beobachte sein Gesicht, während Shiva sich direkt neben mich legt. Eigentlich war der Plan ganz simpel. Frost kommt zurück, ich fackle nicht lange und töte ihn. Irgendwie. Aber dass er vor mir zusammenbricht, damit konnte ja keiner rechnen. Ich kann einfach niemandem den Lebensfaden durchtrennen, wenn er dabei schläft. Jahrelang habe ich versucht, die Erinnerungen an die Nacht, in der ich meiner Nanny den Faden durchtrennt habe, wachzurufen. Ich wollte wissen, wie ich es gemacht habe. Tante Luce hat mir immer gesagt, dass ich froh sein soll, diese Erinnerungen nicht mit mir herumtragen zu müssen. Ich finde es aber viel schlimmer, nicht zu wissen, wie ich es getan habe. Oder, was ihre letzten Worte waren, bevor ich mit dem Messer auf sie losgegangen bin. Jetzt sitze ich wieder hier mit einem Messer in der Hand. Und erneut ist mein Gegner jemand, den mein Vater mir geschickt hat. Nur anders als beim letzten Mal, spielen mein Herz und mein Kopf diesmal nicht mit. Und warum hat er eben zu mir gesagt, ich solle es beenden? Das passt alles nicht zusammen und ich verstehe es nicht. Weil es ein Trick ist, Sannah. Erkennst du das denn nicht? Hat er dich wirklich so geblendet? Genügen dazu ein schöner Körper und ein hübsches Gesicht?
Mit der Spitze der Klinge fahre ich sachte über Frosts Wange und frage mich, wie es ist, einen Menschen zu töten. Wie viele Menschen hat Frost schon im Auftrag meines Vaters erledigt? Ich erinnere mich an meine eigene Tat einfach nicht. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte all diese Bilder ständig in meinem Kopf … Ich wüsste nicht, wie ich damit leben sollte. Alleine zu wissen, dass ich es getan habe, lässt mich beinahe verzweifeln. Seit so vielen Jahren …
»Sannah?«
Erschrocken fahre ich zurück und ziehe das Messer an mich. Auch Shiva wird sofort aufmerksam. Frosts Blick liegt auf mir und ist so sanft und weich, dass es mir beinahe Angst macht. Er versucht nicht mal, sich zu bewegen, sondern bleibt einfach auf dem Bauch, mit mir zugewandtem Kopf liegen.
»Beende es, Redcat. Beende du es, bevor ich es tue. Ich habe sowieso keine Kraft mehr.« Seine Stimme klingt so brüchig, als hätte er einen jahrelangen Krieg hinter sich gebracht.
»Wozu hast du keine Kraft mehr?« Ich will es aus seinem Mund hören. Ich will, dass er mir bestätigt, dass das alles nur ein Spiel war. Dass es dazu diente, mich für meinen Vater vorzubereiten.
»Keine Kraft mehr für dieses Leben. Keine Kraft mehr, allen etwas vorzumachen. Etwas zu sein, das ich nur zur Hälfte bin, während meine andere Hälfte nicht auf dieser Erde sein dürfte. Und keine Kraft mehr, ohne dich zu sein.« Er schließt erneut die Augen und ich würde ihn am liebsten anflehen, sie wieder zu öffnen.
Ich sehe gerne in seine dunklen Augen. Sehe gerne, wie er mich damit ansieht. Fast fühlt es sich wie Liebe an. Zumindest denke ich das. »Du hättest mir nichts vormachen müssen. Das alles hättest du nicht tun müssen. Von Anfang an wäre es einfacher gewesen, du hättest mit offenen Karten gespielt«, sage ich verletzt.
»Manchmal hindert einen das Leben daran, offen zu sein, Sannah. Manchmal hat man keine andere Wahl, als sich zu verstellen.« Erneut öffnet er die Augen, und sein Blick ist so warm, dass es in meinem Bauch kribbelt.
»Ich weiß«, sage ich rau und lege das Messer hinter meinem Rücken ab. »Aber bevor sich einer von uns entscheidet oder bevor wir entscheiden, wer von uns gehen muss, würde ich dir gerne eine Geschichte erzählen. Und ich wünsche mir, dass auch du mir eine erzählst.«
»Eine Geschichte?«, fragt er und der Ansatz eines Lächelns huscht über sein wundervolles Gesicht.
»Eine, die es uns möglich macht, den anderen besser zu verstehen.« Zaghaft strecke ich meine Hand nach ihm aus, und als meine Fingerspitzen sein Gesicht berühren, schnurrt er leise. »Darf ich anfangen?«
»Du darfst alles, Redcat.«
Ich stehe auf, gehe zu der Couch hinüber und schnappe mir zwei der Kissen, bevor ich wieder auf meinen gefesselten Frost zumarschiere. Dann werfe ich ein Kissen an den Platz, an dem ich gleich wieder sitzen werde, und das andere bette ich vorsichtig unter seinen Kopf. »Sagst du mir vorher noch, was eben mit dir los war?«
Er holt einmal tief Luft, bevor er antwortet. »Eine Ansammlung von Jahren, Drogen und schlechten Gedanken, Redcat. Und die Gewissheit, dass ich nichts an meiner Situation ändern kann. Ich bin noch nie im Leben ohnmächtig gewesen, aber vielleicht war das ja schon die Eintrittskarte für mein Ende.«
»Man kann immer etwas ändern«, sage ich. Dabei weiß ich, dass das eine Lüge ist. Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach Veränderung gesehnt. Aber wirklich anders geworden ist es erst, als ich Frost hier zum zweiten Mal begegnet bin. Noch einmal streiche ich über seine stoppelige Wange, und er streckt mir leicht seinen Kopf entgegen, bevor ich meine Hand wieder zu mir zurückhole. »Vor vielen Jahren wurde ein Mädchen geboren«, beginne ich. Sofort schleicht sich wieder dieses schelmische Grinsen auf sein Gesicht, aber er ist meilenweit davon entfernt, ganz er selbst zu sein. »Dieses Mädchen hatte keine Mutter und ihr Vater hatte nie Zeit für sie. Weshalb er eine Nanny einstellte.«
»Lass mich raten«, spricht Frost dazwischen, doch ich halte ihm sofort mit meiner Hand den Mund zu.
Wie warm seine Lippen sind … Wie gerne ich ihn küssen würde … Er täuscht dich nur wieder und du willst es nicht verstehen. »Du denkst bloß, diese Geschichte zu kennen«, sage ich an Frost gewandt und ignoriere meine Stimme. »Aber du weißt nicht, wie sie ausgeht.« Als ich die Hand notgedrungen wieder entferne, bleibt er still und beobachtet mich. »Diese Nanny war der einzige Mensch auf der Welt für das Mädchen, der sie gerne hatte. Niemand sonst sprach mit ihr. Niemand sonst las ihr etwas vor, ging mit ihr spazieren oder nahm es mal in den Arm. Allerdings sprach das Mädchen auch nur, wenn es alleine mit sich war.«
»Warum tat es das?«, will er wissen.
»Weil die Freunde im Kopf immer netter waren als die Angestellten ihres Vaters.«
»Das hört sich traurig an.«
Ich zucke mit den Schultern. Wäre das alles in meinem Leben gewesen, was traurig war, würde ich sagen, ich hätte eine ganz gute Kindheit gehabt. »Eines nachts aber, stand eine Fremde am Bett des Mädchens. Diese Fremde war fast noch netter als die Nanny. Sie brachte kleine Geschenke mit, erzählte dem Kind von der großen Welt da draußen, die hinter dem hohen Zaun lag. Denn du musst wissen, dieses Mädchen durfte niemals das Grundstück verlassen. Ihr Vater wollte das nicht. Nicht mal die Elementary School durfte sie besuchen. Unterrichtet wurde sie von ihrer Nanny, auch wenn das Mädchen damals nie richtig zugehört hat. Diese Fremde gab dem Mädchen so viel Liebe, wie es sie noch nie bekommen hatte.«
»Tolle Liebe«, knurrt Frost und zum ersten Mal bewegt er, als wäre er wütend, seine Hände in den Seilen.
»Psst«, zische ich. »So kann man doch keine Geschichte erzählen, wenn du immer dazwischenfährst.« Als Frost wieder lächelt, muss ich selbst grinsen und lege mich neben ihn. Auch Shiva streckt sich lang vor uns aus. »Also. Ein paar Monate war das Mädchen so glücklich wie nie zuvor. Die Tage verbrachte es mit der Nanny und in der Nacht kam die neue Freundin und erzählte ihre Geschichten.«
»Will ich wissen, welche Geschichten?«
»Kannst du nicht einmal still sein?«, frage ich lachend. Und ganz unerwartet, liegen meine Lippen auf seiner Stirn und ich ziehe den Kopf schnell wieder zurück.
»Das war schön.« In seine Augen ist das Funkeln zurückgekehrt.
Wenn du nicht aufpasst, hat er dich gleich wieder so weit, dass du ihn losbindest. Bist du wirklich so dumm, Sannah? »Ich bin nicht dumm«, fauche ich, während ich Frost ansehe, aber meine innere Stimme meine.
»Ich könnte vieles über dich sagen, Redcat, aber niemals, dass du dumm wärst«, äußert er und man könnte es ihm beinahe abnehmen.
»Ich würde gerne weitererzählen, wenn du mich lässt.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Du musst einfach bloß still sein.«
»Jawohl, Sir«, sagt er mit einem Zwinkern.
»Ab jetzt kein Wort mehr«, versichert er mir.
»Das schaffst du nie im Leben«, murmle ich. »Eines nachts, erzählte die Fremde, dass der Vater des Mädchens ein böser Mann sei und nichts Gutes mit ihr im Sinn hätte. Das Beste für das Mädchen wäre es, einfach niemals mit ihm zu sprechen.« Kurz fliegen die Bilder von damals durch meinen Kopf. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an diese Nacht. Da ich meinen Vater in den Jahren bis dahin sowieso kaum gesehen und auch noch nie wirklich ein Gespräch mit ihm geführt hatte, fiel es mir nicht schwer, es einfach weiter zu unterlassen. »Dieses Mädchen vermisste nicht viel. Sie hatte ja ihre Nanny und die nächtliche Besucherin. Allerdings wurde ihr Vater, wenn sie ihm denn mal gegenüberstand, mit jedem Mal ungehaltener. Er stellte Fragen an das Kind, aber aus Angst und auf den Rat der Fremden hin, gab sie ihm keine Antwort. Irgendwann hörte er auf, Fragen zu stellen.« Shiva, die noch immer vor mir und Frost liegt, dreht sich auf die Seite und rollt ihren Kopf so weit zu uns herüber, dass sie unser beider Gesicht streift. Für einen Augenblick könnte man meinen, sie möchte, dass wir alle näher zusammenrutschen.
»Und weiter?«, fragt Frost leise neben mir und ich wende mich ihm wieder zu.
»Der zehnte Geburtstag des Mädchens stand bevor. In der Nacht zuvor kam erneut die Fremde. Sie war völlig außer sich und erzählte dem Mädchen davon, dass der verhasste Vater die Nanny damit beauftragt habe, sie an ihrem Geburtstag zu töten. Wenn nicht sie selbst die Nanny ausschalten würde, würde sie ihren Geburtstag nicht mehr erleben.«
»Was hat das Mädchen getan?«, fragt Frost sanft.
»Sie erinnerte sich am nächsten Tag nicht mehr daran. Aber schon kurz nach dem Aufwachen, kamen die Schergen ihres Vaters und brachten sie nach draußen in den Wald in ein kleines Nebenhäuschen. Da ließ er sie in eine Zelle sperren.«
»Sannah«, flüstert Frost.
Ich kann das Mitleid in seiner Stimme gerade nicht ertragen. »Ich bin noch nicht fertig. Hör einfach nur zu! In der darauffolgenden Nacht kam die Frau in die Zelle. Sie stellte sich als die Tante des Mädchens vor und bekräftigte sie darin, alles richtig gemacht zu haben. Nun gäbe es außer ihrem Vater niemanden mehr, der ihr etwas Böses wolle. Und es wäre gut gewesen, dass das Mädchen in der Nacht in das Zimmer der Nanny gegangen sei, um sie dort ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Sie solle nicht traurig sein, bald würde sie kommen und sie befreien.« Meine Worte versiegen, da vor meinem inneren Auge ein Film abläuft. So genau wie in diesem Moment, habe ich mich lange nicht mehr zurückerinnert. Ich sehe mich angeleint, in dieser Zelle. Sehe meinen Vater, wenn er dann und wann kommt, weil er mit mir reden will. Weil er wissen will, wie ich das bloß tun konnte. Und ich weiß noch, wie seine vorwurfsvollen Fragen sich mit den Worten von Tante Luce verbanden und ich so ein Bild von mir im Kopf hatte, an das ich mich eigentlich nicht erinnern konnte. Ein Mädchen, blutüberströmt vor dem Bett ihrer aufgeschlitzten Nanny.
»Sannah?«
»Ja, ja«, knurre ich und komme zurück zu Frost. »Es dauerte noch einige Zeit, bis eines Nachts die Tante mit einem von Vaters Schergen zurückkam, um die Bänder zu lösen. Um dieses Mädchen mitzunehmen, in die nächste Hölle. Diese Hölle war anders als die vorherige. Erst schien sie besser. Dunkler und beengender, aber besser. Nur lange hielt dieses Glück nicht an, denn die liebe, verständnisvolle Tante, entpuppte sich als größeres Monster.« Erneut versiegen meine Worte, weil ich gefangen bin, in dieser Erinnerung. Tante Luce konnte nicht die fremden Bilder aus meinem Kopf verbannen, die ich durch ihre Erzählungen erhalten hatte. Die Bilder der Nanny. Aber sie schaffte es, mir neue einzupflanzen. Neue, in denen ich geschlagen wurde, wenn ich nicht das tat, was sie wollte. Prügel, wenn ich ihre Bücher nicht las, die sie mir täglich brachte. Kettenarrest, wenn ich nicht mit ihr lernte und Resultate brachte, wie sie es von mir erwartete.
»Erzähl weiter, Sannah. Ich möchte wissen, was dem Mädchen noch passiert ist.«
Wieder ist er es, der mich aus den Erinnerungen holt. »Nach einigen Jahren begann die Tante das Mädchen für andere Dinge zu missbrauchen. Ekelhafte Dinge. Und weil das Mädchen auch diese Dinge nicht so erledigte, wie die Tante sich das vorstellte, bestimmte sie, dass das Mädchen in die Lehre zu einem fremden Mann gehen sollte.« Ich höre und sehe, wie Frost schluckt. »Als ich aus dem Wagen stieg damals, als ich hier ankam … Ich fühlte mich zum ersten Mal richtig frei. Ich wollte in den Wald laufen, wollte abhauen, bis du aus der Tür kamst. Ich wusste nicht, wer du bist oder was genau ich bei dir sollte, aber ich wusste, ich wollte wissen, wer du bist.«
»Nicht der Prinz auf dem weißen Pferd, wie sich herausgestellt hat.«
Frost klingt beinahe traurig, aber ich muss lächeln, wenn ich an diesen Moment zurückdenke. Vor allem, weil ich selbst ihn immer so gesehen habe. Als den Prinzen. Den Ritter auf seinem weißen Pferd, der kommt, um mich zu retten. Um mich zu lieben. So wie ich bin. Dass er jetzt quasi meinen Gedanken ausspricht, füllt mich wieder mit Wärme. »Nein, der Ritter warst du in dem Sinne nicht«, sage ich feixend und lächle. »Und als du mich auf den Tisch geschnallt hast, wollte ich dich am liebsten töten. Ich war mir nicht sicher, ob ich Angst haben muss oder was du da überhaupt mit mir gemacht hast. Aber trotzdem … Selbst auf diesem Tisch … Du hast mir nicht wehgetan, obwohl du es gekonnt hättest.«
»Wenn man vom Festschnallen mal absieht«, sagt er und grinst verlegen. »Du warst die, die mir das Messer in die Schulter gejagt hat.«
»Ich weiß«, antworte ich und rutsche etwas dichter an ihn heran, sodass ich seinen Atem auf meiner Haut spüre. Schon wieder, Sannah! Du fällst schon wieder auf seine zuckrigen Worte herein. Ich höre nicht auf die Stimme, selbst wenn sie richtig liegen mag. Viel zu sehr genieße ich seine Nähe. »Das kleine Mädchen in mir hatte Angst. Und das große Mädchen wollte dich zu Boden werfen und …«
»Und was, Redcat?« Er spricht leise, lockend und seine Stimme treibt mir eine Gänsehaut über den Körper.
»Du hast nicht mit mir gesprochen. Genauso wie er. Du hast Dinge getan, von denen ich keine Ahnung hatte. Und du hast mich zärtlich berührt. Das war neu und angsteinflößend.«
»Was ist dann mit dem Mädchen passiert? Nachdem es wieder in den dunklen Keller gesperrt wurde?«
»Das Mädchen verbrachte die meiste Zeit damit, von seinem Ritter zu träumen, der aller Voraussicht nach, gar keiner war. Aber sein Bild war es, dass es dem Mädchen möglich machte, an einen anderen Ort abzutauchen, wenn die Tante es anfasste.« Ich kann gar nicht anders, als so nah an Frost zu rutschen, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berühren. Die kleinen Härchen an meinem Körper stehen zu Berge, aber die Hitze, die mich innerlich durchläuft, ist so viel stärker. Sannah, ich bitte dich. »Bitte mich nicht«, wispere ich. Es ist, als ob Frost alles in mir zum Erliegen bringen könnte. All meine Wut, all meine Ängste und alle Vorsätze. Ganz alleine durch seine Nähe.
»Ich bitte dich nicht«, antwortet Frost, obwohl ich nicht ihn gemeint habe. »Ich bitte dich nicht darum, mich nicht zu töten, denn es ist die beste Entscheidung, die du treffen kannst.«
Diesmal bin ich die, die schlucken muss. »Ich würde dir gerne die Geschichte zu Ende erzählen.«
Er nickt, soweit er kann und ich küsse seine warme Stirn. »Als du mich hierhergebracht hast, als du mich gerettet und entführt hast zugleich … Es war fast wie damals. Ich wusste nicht, was du vorhast. Wusste nicht, ob ich dir vertrauen kann. Ich wusste rein gar nichts. Aber in dem Moment oben unter der Dusche, als du mir den Sack vom Kopf gezogen hast, es war …«
»Wie war es, Sannah?«, fragt er mit viel zu rauer Stimme.
»Es war Himmel und Hölle zugleich. All das, was du mir in den letzten Tagen gezeigt hast, alles, was ich über meinen … und deinen Körper gelernt habe. Alles, was du mir von dir gezeigt hast … Nein, du bist nicht der Ritter, den ich mir vorgestellt habe.« Wieder muss ich schlucken, aber ich muss es auch loswerden. Es liegt in meinem Bauch wie ein dicker, fetter Wackerstein, und ich glaube ersticken zu müssen, wenn ich ihm nicht einmal sage, was ich für ihn empfinde. Selbst wenn ich ihn danach töten muss.
»Wer bin ich, Redcat?«