E
s ist die erste Nacht, die ich in einem richtigen Bett verbringe. Okay, das stimmt nicht ganz. Die erste Nacht seit dreizehn Jahren.
Aber dieser Morgen ist trotzdem ein ganz Besonderer, denn ich wache neben ihm auf. Frost. Seine Hand streichelt schon seit einer Weile über meinen Rücken, aber genauso lange habe ich vorgegeben noch zu schlafen, denn ich wollte nicht, dass er aufhört. Dass seine zärtlichen Berührungen enden. Vielleicht habe ich mich aber auch deshalb nicht bemerkbar gemacht, weil ich Angst habe, dass es doch nur ein Spaß ist. Dass er mir nur etwas vormacht und wir keine gemeinsame Zeit mehr miteinander verbringen können. Keine Zeit mehr, bevor er
kommt. Mein Vater.
»Endlich wach, Redcat?«, raunt Frost in diesem Augenblick an meinen Rücken.
Alleine das tiefe Timbre seiner Stimme will mich die schlechten Gedanken vergessen lassen. Dieses Timbre entfacht das neu entdeckte Verlangen in mir. Ein Verlangen, dem wir bis vor drei Stunden ausgiebig nachgekommen sind.
»Leider«, wispere ich und wende mich ihm endlich zu.
»Wieso leider?«, will er wissen, rückt näher und drückt sanft seine Lippen auf meine.
»Weil ich niemals zuvor so gut geschlafen habe.« Meine Finger streifen über sein kantiges Kinn und danach über seine vollen Lippen. Und obwohl er mich so verführerisch ansieht, will ich keine Minute von dem normalen Leben, das er mir für ein paar Tage versprochen hat, verschenken. Denn wenn es vorhin wirklich sein Ernst war, mir die Welt dort draußen zu zeigen, möchte ich sofort aufbrechen. Nicht, dass er es sich doch noch anders überlegen könnte. Und mit wem könnte ich diese Welt besser erkunden als mit Frost?
Hastig setze ich mich in den Schneidersitz und sehe ihn erwartungsvoll an. »Was machen wir als Erstes?« Ich klinge so aufgeregt, das selbst Shiva, die vor dem Bett liegt, zu uns aufsieht. Frost lacht, und ich würde ihn am liebsten wieder an mich ziehen, lasse es aber, da wir sonst niemals aus diesem Bett herauskommen.
»Alles, worauf du Lust hast, Redcat. Dein Wunsch ist mir Befehl.«
Ich würde mir gerne vormachen, ein normales Leben mit ihm führen zu können, aber dafür sind wir wohl nicht gemacht. Wir sind Killer. Wir beide. Und wir wissen es. »Ich möchte einkaufen gehen, in eine dieser Shopping-Malls.«
»Einkaufen?« Er stöhnt beinahe genervt. »Dein Ernst?«
»Tut mir leid«, sage ich reumütig. Wie kann ich das von ihm verlangen? Ich habe keinen Cent in der Tasche.
»Was genau? Dass du lieber in eine überfüllte Mall gehen willst, als dich von mir anfassen zu lassen?« In seinen dunklen Augen funkelt es.
»Nein«, antworte ich mit einem Grinsen. »Deine Berührungen sind besser als alle Malls dieser Welt. Aber ich kann keinen Einkauf bezahlen und das gefällt mir nicht wirklich. Wir können auch einfach spazieren gehen«, sage ich schnell und wende den Blick etwas ab. Wenn er mich weiter so ansieht, befürchte ich, dass gleich ich die bin, die den Ausflug sausen lässt.
»Das könnten wir. Oder wir könnten es auch lassen.« Seine Finger wandern zu meinem nackten Oberschenkel und lösen sofort eine derartige Hitze in meinem Unterleib aus, dass ich aus dem Bett springe.
»Dann mach du einen Vorschlag«, rufe ich und grabe nervös meine Fingerspitzen in meine Taille.
»Wir gehen shoppen«, antwortet er und steigt ebenfalls aus dem Bett.
Seinen nackten Körper zu sehen, ihn zu sehen, im Tageslicht … Er könnte perfekt sein, würde er nicht für meinen Vater arbeiten. Als er lächelnd in seine Jeans steigt, die neben Shiva auf dem Boden liegt, sieht er zu mir hoch. »An was denkst du?«
»Wie wunderschön du bist«, antworte ich leise.
Er schließt seine Hose und kommt auf mich zu. »Die äußere Hülle, zeigt nicht immer das, was darin steckt, Sannah.«
Als seine Lippen sich auf meine senken, weiß ich genau, wovon er spricht. Nur mit Mühe reiße ich mich von ihm los. Eigentlich gibt es nichts Schöneres als den Gedanken, die letzten Tage in einem unserer Leben, mit dem anderen zu verbringen. Aber die Welt da draußen, die ich nur aus Büchern kenne und die zu seinem Leben wahrscheinlich dazugehört … die will ich auch kennenlernen. Mit ihm an meiner Seite. »Wo fahren wir hin?«
Frost legt den Zeigefinger an seine Unterlippe und betrachtet mich eingehend. Seine Augen wandern über meinen nackten Körper und dann lächelt er. »Wir kleiden dich ein.«
Ich sehe selbst an mir hinunter und muss lachen. »Bist du dir sicher, dass sich das lohnt?«
Er macht erneut einen Schritt auf mich zu und zieht mich an seine harte, nackte Brust, die dazu noch glüht wie tausend Kohlen. »Es lohnt sich definitiv, wenn ich dir die Sachen danach vom Leib reißen kann, Redcat.«
Keine dreißig Minuten später, steige ich am helllichten Tag in seinen Wagen. Neben ihn. Ich bin so aufgeregt wie ein kleines Kind. Genau genommen ist das hier erst meine vierte Autofahrt. Damals, auf dem Rücksitz mit Tante Luce und den getönten Scheiben, durch die ich nichts erkennen konnte. Und erst vor Kurzem im Kofferraum dieses Wagens.
»Alles okay?«, will er wissen und startet den Motor, der ein röhrendes Geräusch von sich gibt.
»Das ist alles so wunderschön und außergewöhnlich«, antworte ich und werfe noch einen letzten Blick auf den großflächigen See, an dem ich vor nicht allzu langer Zeit noch Angst hatte, dass Frost mich vielleicht darin ersäuft.
»Du bist das Einzige hier, das wunderschön ist, Sannah.« Er dreht das Lenkrad vor sich und fährt auf die befestigte Straße.
Nicht schön genug
, denke ich mir, als das Bild meines Vaters vor mir auftaucht, den ich seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen habe. »Wie lange brauchen wir? Sind da viele Menschen? Wie ist das denn, wenn man Sachen kauft? Woher weiß man, ob es einem passt? Darf man einfach alles mitnehmen? Bleibst du auch die gesamte Zeit bei mir?« Meine Hände streifen feucht über meine Oberschenkel, die nur von einem kurzen Rock aus Frosts Schaukasten bedeckt sind, und als er plötzlich seinen Fuß stark durchdrückt und der Wagen mit quietschenden Reifen hält … weiß ich nicht, was passiert ist. Er löst seine Hände extrem schnell vom Lenkrad und legt sie so fest um mein Gesicht, dass ich aufkeuche.
»Ich liebe dich«, stöhnt er, bevor seine Zunge in meinen Mund fährt und ich vollends durcheinander bin.
Ich bin aufgeregt, nervös, kann mich nicht entscheiden, ob ich die Welt mit ihm erkunden will oder will, dass er mich hier und jetzt in diesem Wagen auf sich zieht. Seine Finger unter meinen Rock schiebt und …
»Ich werde dich keine Sekunde loslassen, Sannah. Du musst dich vor nichts und niemandem fürchten. Alles andere zeige ich dir.« Noch einmal drückt er seine Lippen auf meine und ich keuche erneut unter der Urgewalt Frost kurz auf.
»Dann fahr und hör nie wieder damit auf, mich loszulassen.« Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, als er sich von mir löst, weiterfährt, aber seine rechte Hand auf meinem Schenkel liegen lässt. Mir die Sicherheit gibt, die ich in diesem Moment brauche. Diese Sicherheit schwindet aber nach zehn Minuten langsam, als sich die fremden Wagen neben uns häufen, die Straßen breiter werden und ich mich irgendwann in den Sitz vergrabe, weil mir all der Krach, all die Technik und all die Gesichter zu viel werden. So habe ich es mir nicht vorgestellt.
»Wenn du zurückwillst, musst du es nur sagen. Du bestimmst, was wir machen, Sannah.« Seine Hand drückt etwas fester meinen Schenkel.
Langsam krieche ich wieder höher und traue mich, noch einmal aus dem Fenster vor mir zu sehen. »Das ist alles so irrsinnig groß.« In einiger Entfernung sehe ich Wolkenkratzer. Ich habe sie nie mit eigenen Augen gesehen, sondern kenne sie nur aus den Büchern, die Tante Luce mir gegeben hat. »Wie viele Menschen leben dort?«, frage ich und zeige mit dem Finger auf die Stadt, die immer näher kommt.
»Boston hat etwa 700.000 Einwohner. Aber das«, sagt er, ergreift meine Hand und drückt sie, »sollte ein Mädchen wie dich doch nicht beunruhigen, oder?«
»Nicht wesentlich«, antworte ich und schlucke heftig, während ich ihn leise neben mir lachen höre. Ab dann übernehmen meine Lider die Kontrolle. Immer wieder schließen sie sich, nur um sich nach ein paar Sekunden wieder zu öffnen. Immer wenn uns auf der Nebenspur ein Wagen zu nahe kommt oder wenn ich ein Geräusch höre, das nicht in diese Welt passt, klappen sie wie automatisch zu. Die
Dunkelheit, die mich fast schon mein ganzes Leben lang begleitet, gibt mir Sicherheit. Doch, sobald ich Frosts Druck, entweder an meiner Hand oder wieder auf meinem Schenkel spüre, kommt die Zuversicht zurück. Die Neugier. Genauso interessant, wenn nicht sogar besser als das Leben um uns herum, ist Frost. Ihn zu sehen, wie er lässig den Wagen lenkt. Sein sportlicher Körper in der dunklen Jeans, dem weißen Shirt, das jeden Muskel erkennen lässt und dazu seine dunklen Haare und Augen …
»Du machst mich nervös«, sagt er, während er auf einen dieser Betonklötze zuhält.
»Ich dich?«
»Niemand sonst schafft das, Redcat.«
»Weil ich gleich einen Nervenzusammenbruch erleide oder warum?«
»Weil du einfach du bist.« Er hebt meine Hand an seinen Mund und küsst sie, während er in ein dunkles Loch fährt.
»Was ist das?«
»Die Tiefgarage. Alles ist in Ordnung, Sannah.«
Ich kann gar nicht zählen, wie viele Wagen hier dicht an dicht stehen, in einem seltsamen Konstrukt aus Boden, tiefhängender Decke und Beleuchtungen. Menschen laufen umher. So viele, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ich fühle mich dabei, als würde mich jeder Einzelne von ihnen anstarren, doch je tiefer ich in den Sitz rutsche, desto klarer wird mir, dass dieser Ausflug eine ganz bescheuerte Idee war. Selbst mit Frost an meiner Seite.
»Nicht, dass ich mir Gedanken darüber machen würde, Redcat, denn ich bin mir sicher, dass du den ersten Einkauf deines Lebens auskosten willst … Aber, solltest du doch keinen Bock mehr haben und mich lieber in unserem Bett reiten wollen …«, er fährt zwischen zwei weitere Wagen und stellt den Motor ab, »ich bin jederzeit bereit. Das aber nur als Information am Rande.«
Ich starre ihn an. In sein Gesicht, auf dem gerade ein verschmitztes Lächeln liegt. Er hat … unserem Bett … gesagt.
»Was? Findest du den Gedanken so abscheulich?« Er fragt es mit einem Lächeln, aber da ist auch etwas in seinem Blick, das wie Unsicherheit wirkt.
Ich habe keine Worte in diesem Moment, fühle nur dieses tiefe Gefühl für ihn und beuge mich vor, um ihn zu küssen. Er stöhnt, als ich auf ihn klettere und meine Arme um seinen Hals schlinge.
»Wohl doch nicht abscheulich«, flüstert er und ich krabble zurück auf meinen Sitz.
»Niemals abscheulich«, antworte ich und wage einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster. Ich sehe junge, mittelalte und ganz alte Menschen und blicke dann wieder zurück in Frosts wunderschönes, grinsendes Gesicht. »Du wirst hier heute eine ganze Menge Kohle loswerden, mein Freund«, sage ich und öffne mutiger die Wagentür, als ich mich eigentlich fühle.