Frost
S annah wippt vor mir auf dem Hocker, zu der wirklich guten Version des Künstlers. Ihr erstes Bier hat sie bereits vernichtet und ich bin mir ziemlich sicher, dass es auch tatsächlich ihr erster Alkohol war. All die Anspannung, die sonst in ihrer ganzen Haltung zu sehen ist, ist von ihr abgefallen. Sie wirkt gelöst, so wie ein junger Mensch sein sollte, und ich liebe diese Sannah fast noch mehr, sofern das überhaupt möglich ist.
Wäre mir mehr Zeit mit ihr vergönnt, würde ich es vielleicht sogar schaffen, ihr die Selbstgespräche auszutreiben, die sie dann und wann führt. Wobei selbst die in den letzten zwei Tagen weniger geworden sind. Dabei kann man es ihr nicht mal verübeln, dass sie Selbstgespräche führt und Stimmen hört. Als die kleine Bartenderin wieder auf mich zukommt, strecke ich sofort zwei Finger in die Höhe, damit sie bloß wegbleibt. Sannahs Blick vorhin war mörderisch, während die Kleine mich definitiv angeflirtet hat. Dafür machte dieser eifersüchtige Blick von Sannah mich unheimlich stolz. Dass sie überhaupt Eifersucht empfindet, wegen einer anderen Frau, fühlt sich beinahe schon phänomenal an.
Immer noch schaukelt meine Redcat vor mir auf dem Hocker herum und ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen. Das alles fühlt sich so sehr nach Leben an. Einem normalen Leben, wie es Millionen andere Menschen führen. Der Gedanke, dass es immer so sein könnte, ist zu verlockend. Heilige Scheiße! Ich weiß nicht mal, wann ich jemals so entspannt in einem Pub gesessen habe. Im Höchstfall gehe ich zu besonderen Anlässen mit den Jungs in unseren Club, das Rooms . Das war es aber auch schon. Und selbst da bin ich froh, wenn ich die Tür wieder von draußen sehe. Aber hier, mit einer völlig relaxten Sannah … Doch im Grunde verletze ich mich nur wieder selbst. Ich sollte das hier nicht tun. Es macht keinen Sinn. Es darf keinen Sinn machen, weil ich meine Familie nicht aufgeben kann.
Die Band spielt gerade ihren dritten Song That´s The Way Love Goes an. Ein altes Stück von Janet Jackson, als die Bartenderin die neuen Getränke vor mir abstellt. Eigentlich stehe ich nicht mehr auf diese Art von Musik, aber als die ersten Frauen aufspringen, sich vor der Band aufstellen und zur Musik wiegen und Sannahs Bewegungen auf dem Hocker immer geschmeidiger werden, kann ich nicht anders, als sie auch zu lieben. »Willst du tanzen, Redcat?« flüstere ich ihr ins Ohr und sie nickt. »Dann tu es einfach.« Sie dreht ihr Gesicht in meine Richtung und sieht mich fragend an.
»Ich weiß aber nicht wie.«
»Das passiert ganz von alleine, Sannah. Ich bin mir sicher, du bist eine wunderbare Tänzerin.« Ich ziehe sie noch einmal an mich, küsse ihre Stirn und schiebe sie sanft vom Hocker.
Für einen Moment bleibt sie reglos stehen und ich befürchte schon, dass sie gehen will. Doch plötzlich setzen sich ihre Füße in Bewegung. Und mit nur wenigen Schritten steht sie in dem Pulk aus tanzenden Menschen und wendet sich mir zu. Abwartend sieht sie in meine Augen. Ihr Blick ist feuriger, als ich ihn schon kenne und ich bin mir sicher, ich habe nie eine schönere Frau gesehen als sie. Langsam beginnt sie jetzt, erst ihre Hüften zu wiegen, setzt dann ihre Arme leicht mit ein, und als auch ihre Füße wieder zum Leben erwachen, ist sie eins mit der Musik. Dabei sieht sie so fantastisch aus, dass mein Herz schneller schlägt. Am liebsten würde ich aufspringen, sie an mich reißen. Allen zeigen, dass sie zu mir gehört. Dass sie nur mir gehört … Tanzen allerdings ist nichts, was ich jemals tun würde. Sie so glücklich zu sehen, muss für den Moment genügen. Erst nach ein paar Minuten wende ich meinen Blick ab und lasse ihn über die anderen Gäste schweifen. Das Haus ist verdammt voll, und auch wenn ich denke, dass wohl kaum einer der Jungs aus Manhattan hier nach Boston in einen Pub kommen würde, versichere ich mich lieber doch. Aber neben den vielen fremden jungen Leuten, ist hier niemand außer Sannah, der meine Aufmerksamkeit verdient. Mittlerweile hat sie die Augen geschlossen und wiegt sich im Takt der Musik hin und her. Es sieht aus, als hätte sie nie etwas anderes getan. Dabei gehe ich davon aus, dass auch dieser Tanz der erste in ihrem Leben ist. Minutenlang sehe ich ihr zu, während ich mein zweites und mein drittes Bier leere, und als die Band einen neuen Song beginnt, die Lichter noch etwas weiter gedimmt werden und kleine grüne Laserpunkte an der Decke erscheinen, kann ich nicht mehr anders, als zu glauben, dass Sannah und ich wirklich füreinander geschaffen sind. Bestimmt sind.
Einige der Tanzenden kehren zurück zu ihren Plätzen, wahrscheinlich, weil das Stück ihnen diesmal zu langsam ist. Aber als der Sänger mit der ersten Strophe ansetzt und sich im selben Moment Sannahs Augen auf meine legen … Fuck! Das kann einfach nicht sein. Ich war zehn Jahre alt, als das Stück Ice Box von Omarion rauskam, und es war die Zeit, in der die Träume vom Keller losgingen. Von Sannah. Die Zeit, als ich meine eigene im Heim nur mit Musik verbrachte. Damals war es noch R’n’B, und Omarion war einer meiner Retter. Schon immer habe ich meine Gefühle mit Musik koppeln können, und so manches Mal hat genau sie mich davon abgehalten, den Verstand zu verlieren. Und jetzt, die Musik, der Klang, die Lautstärke … Sannah … Ich bin in einem meiner Träume gefangen, und als meine Hand zu dem Anhänger an meiner Kette greifen will, wird mir erst bewusst, dass ich ihn schon seit Tagen oder Stunden nicht mehr habe. Ich brauche das alles nicht, solange Sannah bei mir ist. Ich leere mein viertes Bier, springe vom Hocker und gehe zielstrebig auf mein besonderes Mädchen zu.
Sie greift fest in mein Shirt, zieht mich an sich und sieht mir bis tief in meine Seele hinein. Ich habe Angst, was sie darin finden könnte. Meine Lippen legen sich auf ihren Hals und zum ersten Mal in meinem Leben, tanze ich vor fremden Menschen. Überhaupt vor Menschen und es ist mir scheißegal. Ich atme nur für sie.
»Das ist neben dir, das Beste, das mir je im Leben passiert ist«, wispert sie.
Ich sauge ihren Anblick in mich auf, kann immer noch nicht begreifen, dass wir hier zusammen sind. Ihre Worte, vermischt mit der Musik von früher, lassen mich nichts weiter tun, als sie wieder an mich zu ziehen. Ich muss sie spüren. Muss wissen, dass das wirklich die Wahrheit ist.
Ihre Finger wandern über meinen Rücken und ich halte sie so fest, dass ich aufpassen muss, ihr nicht die Luft abzudrücken. Aber ich brauche das. Brauche es jetzt. Genauso, wie ich sie brauche. »Sannah«, flüstere ich und ziehe sie mit einem harten Ruck wieder an mich, weil sie leicht zurückrudert. Mein Ständer prallt gegen ihren Bauch und ihr Aufkeuchen ist eine weitere Musik in meinen Ohren. »Du bist …«, setze ich an, aber sie schließt die Augen wieder und wiegt ihre Hüften zu Omarions Stück. »Du bist alles«, sage ich mehr zu mir selbst und verliere mich in ihr. Will mich in dem Gefühl verlieren, dass ich nicht das Tier bin, welches ich nun mal bin. Will mir vormachen, dass diese Zeit hier, diese Gefühle, ewig anhalten könnten.
»Warum willst du es dann zerstören?«, höre ich sie wispern, als sie ihren Kopf auf meine Brust legt.
Weil ich alles zerstöre, am meisten mich selbst , würde ich gerne antworten, aber ich schlucke es hinunter. Es sind nicht mehr viele um uns herum, die tanzen. Die meisten haben sich wieder an die Theke oder die Tische gesetzt. Wie automatisch scannen meine Augen den Raum ab, und als ich mit dem Blick schon die Theke hinter mir gelassen habe, fahre ich wieder dahin zurück.
Von jetzt auf gleich beschleunigt mein Herzschlag sich um das gefühlt Hundertfache, und ohne groß darüber nachzudenken, ziehe ich Sannah grob in Richtung Ausgang.