»
H
ey, hey …!« Ich erkenne meinen Bruder gar nicht wieder.
Ich kenne ihn prinzipiell noch nicht lange, aber eigentlich ist er mir selbst in der kurzen Zeit, seit wir wissen, dass wir Halbgeschwister sind, so vertraut geworden, dass ich jetzt gar nichts mehr verstehe.
Er ist völlig in sich zusammengebrochen, seine Augen liegen auf der Tochter des Kings, von der ich keine Ahnung habe, was sie überhaupt mit Frost verbindet. Überall ist Blut, Sid ist völlig außer sich und versucht den King wieder ins Hier und Jetzt zu holen und die Jungs schreien alle durcheinander. Dann diese Raubkatze, die jede von Milas Handgriffen mit den Augen verfolgt … Ich fühle mich, als ob ich im falschen Film wäre.
»Redcat«, kommt flüsternd über Frosts Lippen und Mila schreit wieder, dass wir Verbandszeug holen sollen.
Aber ich kann Frost gerade nicht alleine lassen. Es geht einfach nicht. Sein Anblick zerreißt mich beinahe und das Bild, das Sannah abgibt, ist nahezu unwirklich. »Sam, bitte«, sage ich flehend und sehe ihn an. »Such das Bad. Bestimmt findest du dort was zum Verbinden.« In Sam kocht es. Und das, seit wir heute Abend nochmal zusammen ins Waldhaus gegangen
sind. Weil Sid uns allen keine Ruhe gelassen hat. Weil sie dachte, dass etwas passiert sein musste. Klar war etwas passiert. Der King hatte Mila ausgeknockt, nachdem sie ihm erzählt hatte, dass Sannah wahrscheinlich noch lebt und dass seine Tochter die ganzen Jahre unterirdisch in dem Waldhaus gelebt hatte. Und trotzdem war Sid der Meinung, dass da noch etwas anderes wäre, weil Dean, aka King, einfach verschwunden war. Uns allen ist klar, dass sie in ihm eine Art Vaterersatz sieht, aber diese Verbindung, die die beiden teilen ist schon merkwürdig. Fast gruselig irgendwie. Ein Wunder, dass Railly das so wegsteckt. Na und ich, ich war mir die ganzen letzten Tage sicher, dass auch etwas mit Frost nicht stimmt. Aber davon wollte keiner was hören. Im Gegenteil, sie meinten alle, dass ich mich da in was reinsteigern würde, das es nicht gibt. Weil Frost der Vernünftigste von allen wäre. Weil er nie Scheiße bauen würde. Ich habe einfach gespürt, während unserer letzten kurzen Telefonate, dass da etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Und jetzt? Jetzt kapieren wir gerade erst alle, dass das alles irgendwie zusammenhängt. Mit dem King, seiner Tochter und Frost. Nur wie, das versteht niemand. »Sam, bitte geh und such das verdammte Verbandszeug«, fordere ich ihn noch einmal auf.
Er sieht mich immer noch abwartend, lodernd an, und bevor ich ihn wirklich anschreien muss, ist es Railly, der ihm die Hand auf die Schulter legt und ihn mit sich zieht.
Sid war es, die auf die Idee kam, nochmal in den Höhlengängen nachzusehen. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass der King woanders hingehen würde, um seine Tochter zu suchen. Und dort, wo sonst nichts zu finden gewesen war, fanden wir diesmal einen kleinen Höhlenraum, in dem lauter Aktenordner auf dem Boden herumlagen. In diesen Ordnern waren eine ganze Menge Informationen. Viele Sachen über Dean, seine Geschäfte, Geldein- und -abgänge. Hunderte Fotos von Sannah. Eine kleine Sannah, im Garten des
Kings von weiter weg aufgenommen, und später Sannah in der Zelle, in der auch Sid kurz gefangen gewesen war. Es war abartig, sich diese Bilder anzusehen. Ich meine, wer kommt darauf, so ein armes, krankes Mädchen auch noch zu fotografieren?
In diesen Ordnern waren so viele Informationen, dass wir sie gar nicht alle direkt aufnehmen konnten, bis plötzlich Railly einen seltsamen Laut von sich gab, der uns alle aufschrecken ließ. Ein einzelnes Blatt hatte er in der Hand gehalten. Ein Blatt, mit einem Foto von Frost, einer Adresse ohne Namen und einer kleinen Karte. Die Adresse führte uns zum Walden Pond See und anhand der Karte fanden wir dieses Anwesen hier. Ein Anwesen mitten im Wald. Dazu zwei bewaffnete Söldner, die Sam und Jared sofort ausschalteten, bevor sie uns entdecken konnten. Und dann ein Weg, von dem ich wusste, er würde uns zu etwas führen, mit dem wir niemals im Leben rechnen würden. Er führte uns hier in diese Villa. In dieses Schauspiel der … Mir fehlen die Worte.
»Hier«, ruft Railly und drückt Mila – die immer noch die Fetzen eines Shirts auf Sannahs Wunden drückt – den Verbandskasten in die Hand.
Auf meinen Schultern spüre ich jetzt Sams Hände und mir kommen die Tränen. Ich habe keine Ahnung, was oder wer mein Bruder eigentlich ist oder was hier los ist … aber als ich ihn so verzweifelt wie etwas, das ich noch nie im Leben gehört habe, Sannahs Namen flüstern höre, weiß ich, dass wir nicht mal im Ansatz erahnen, wer Frost eigentlich ist.
»Ich muss sie auf einen vernünftigen Tisch legen. Frost«, faucht Mila meinen Bruder an, »wo ist ein hoher Tisch? Jetzt!«
Plötzlich kommt Bewegung in ihn und er erhebt sich zeitgleich mit der wunderschönen Raubkatze. »Hier lang.« Er hebt Sannah auf seinen Arm, das Blut tropft auf den Boden, und obwohl hier eine Menge davon liegt, sieht es nicht so schlimm aus, wie ich es mir vorstellen würde, wenn sich
jemand die Pulsadern aufschneidet. Ich hoffe nur, dass es nicht Frost war, der ihr das angetan hat. Und genauso bete ich dafür, dass sie das überlebt. Dass es für alles eine Erklärung gibt. Frost drückt Deans Tochter dicht an sich und mit jedem Schritt von ihm, prallt ihr Kopf leicht gegen seine nackte Brust.
Sam zieht mich ebenfalls in die Höhe, als ich plötzlich die Stimme des Kings hinter mir wahrnehme.
»Lasst mich zu meiner Tochter. Ich will zu meiner Tochter. Sid!«
Schon sind Jared und Railly bei ihm, keilen ihn ein, und als ich Sam bedeute, den beiden zu helfen, küsst er mich und gibt mich dann frei. Frei, um Mila und meinem Bruder zu folgen. Einem Bruder, von dem ich keine Ahnung habe … Nicht so, wie ich dachte. Und das macht mir eine verdammte scheiß Angst. Ich folge den beiden in einen Raum, in dem eine sterile Küche installiert ist. Hier sieht es noch nicht mal ansatzweise so aus, als würde sie regelmäßig genutzt. Die Katze drängt sich gerade ebenfalls hinein und stellt sich sofort neben Frost auf. Ich weiß nicht, ob ich Angst vor ihr haben muss oder nicht. Ich meine, Scheiße! Frost hält hier ein Raubtier! Aber seit er sie vorhin so fest an sich gedrückt hat, scheint sie verstanden zu haben, dass wir keine Feinde sind. Zumindest hoffe ich es.
»Kannst du den Tisch freiräumen?«, fragt Mila mich, während sie das Wasser in der Spüle anstellt. Der Gepard scheint sie nicht im Geringsten zu stören.
Den Tisch abzuräumen, ist keine große Aufgabe, da nichts weiter als eine Schale darauf steht. Trotzdem umrunde ich langsam den Gepard, da mir das alles nicht geheuer ist.
»Leg sie ab, Frost«, weist Mila ihn an und öffnet dabei den Verbandskasten. »Und jetzt geh auf Seite, damit ich mich um ihre Wunden kümmern kann. Wenn sie Glück hat, braucht sie nur einen Druckverband. Ist sowas im Verbandskasten?« Mila blickt fragend auf Frost, aber der reagiert gar nicht.
Ich beobachte das Szenario wie ein Kinobesucher und sehe
Frosts Blick, der sich nicht von der kleinen, rothaarigen Gestalt auf dem Tisch wegbewegt.
»Frost!«, keift Mila, während sie mich ansieht. »Mach endlich Platz! Und du, Sarah drück bitte hier drauf. Nicht zu fest und nicht zu locker. Ich fange mit dem rechten Arm an.«
Sofort mache ich einen Satz nach vorn, doch Frost wirft sich direkt dazwischen.
»Ich drücke«, keucht er.
»Du solltest mehr Verbandsmaterial suchen, das hier reicht nicht.« Mila hat gerade den Kasten geöffnet und außer ein paar Mullbinden sieht es wirklich nicht sehr ergiebig aus. »Und wenn du nicht augenblicklich das machst, was ich dir sage, kommt vielleicht jede Hilfe zu spät«, setzt Mila streng hintenan.
Sanft drücke ich meinen Bruder zur Seite und endlich … endlich sieht er mich an. Völlig durcheinander. Völlig am Boden zerstört. »Bitte, Frost. Hol noch etwas zum Verbinden. Ich schütze sie mit meinem Leben.« Ich meine das, was ich sage, selbst wenn ich keine Ahnung habe, warum überhaupt. Frost ist immer schon – solange ich ihn kenne, aber wohl auch schon davor ein Eigenbrötler gewesen, aber ich liebe ihn und würde mein Leben für ihn riskieren. Und warum auch immer oder weshalb … Ihm liegt etwas an diesem Mädchen und ich kann gar nicht anders, als ihm mein Versprechen zu geben.
Noch einmal nicke ich ihm zu, während Mila sich bereits eingehend das rechte Handgelenk ansieht, als Frost endlich von ihr ablässt und losrennt. »Wie sieht es aus?«, will ich wissen, nachdem wir alleine sind.
»Was für eine Scheiße«, wispert sie. »Keine Ahnung, was hier abgegangen ist, aber auf dieser Seite hat sie verdammt nochmal Schwein gehabt.« Zum vierten Mal wäscht sie das blutbesudelte Handtuch unter dem Wasserhahn aus, nur um es danach erneut auf Sannahs Wunde zu drücken. »Sie hat nur die oberste Hautschicht erwischt. Wenn die andere Seite genauso
aussieht, kommt sie mit einem ordentlichen Druckverband und etwas Antibiotika durch. Bitte halt ihre Hand etwas höher.«
»Warum kannst du das? Lernt man so etwas als Psychologin?«
»Während meines Studiums habe ich oft im Krankenhaus in der Notaufnahme ausgeholfen«, sagt sie und versorgt weiter die Wunde.
»Und das hat dein …«, ich stocke. Ihr Vater ist vielleicht nicht das beste Thema.
»Davon wusste er genauso wenig wie von meinem Studium. Halt den Arm bitte noch etwas höher.«
Ich beobachte, wie Mila zwei sterile Handschuhe anzieht, eine Art dicke Kompresse aus einer Verpackung nimmt und sie dann gegen den Lappen austauscht.
»Gib mir bitte eine der breiten Mullbinden.«
Ich öffne die Verpackung der Mullbinde etwas umständlich, ohne die Binde als solche zu berühren und halte sie Mila hin. Nachdem sie sich die Binde geschnappt hat, beginnt sie, diese um das Handgelenk zu wickeln.
»Wenn er nicht langsam mit weiteren Mullbinden kommt, siehts hier gleich aus wie beim Schlachter.« Ihr Blick fährt kurz zu Sannahs anderer Hand, aber es sieht gerade nicht so aus, als würde frisches Blut austreten. »So«, sagt sie, »jetzt warten wir ab, ob es durchblutet.« Sie geht um den Tisch herum, nimmt den Fetzen Stoff von Sannahs anderer Hand und beginnt vorsichtig mit dem Lappen, das Blut abzuwischen.
»Woher weißt du denn, dass es nicht tief geht?«
»Weil die typische pulsierende Pulsader-Blutung fehlt. Sie hat zwar augenscheinlich eine Menge Blut verloren, aber es ist nicht lebensbedrohlich. Auch auf dieser Seite hier nicht«, sagt sie und nimmt nun eine neue Kompresse, die sie auf die Wunde auflegt. »Keine Ahnung, was das Mädchen gemacht hat, aber mit Messern kann sie Gott sei Dank nicht umgehen.«
»Komisch«, nuschle ich.
»Komisch?«, fragt Mila und sieht mich an.
»Na, sie hat doch mit zehn Jahren ihre Nanny mit dem Messer abgeschlachtet.«
»Das heißt ja nichts«, sagt Mila, als Frost, gefolgt von der Katze, mit einem kleinen Koffer hereingestürmt kommt.
»Was ist das?«, will Mila wissen.
Hektisch öffnet er sein Mitbringsel und starrt immer wieder auf Sannah. »Shivas Zeug«, murmelt er. Als der Koffer offen zu Sannahs Füßen auf dem Tisch liegt, kommt lauter Verbandszeug und allerhand Medikamente und ähnliches zum Vorschein.
»Ah, das gehört der Katze«, äußert Mila. »Eine der breiten Mullbinden bitte.«
»Wird sie es schaffen?« Frost hört sich so verdammt zerstört an …
»Wenn du nicht langsam die Mullbinde rüberwachsen lässt, vielleicht nicht.«
Sofort reicht mein Bruder Mila das Verlangte und drängt sich dann zwischen sie und mich. Diesmal gehe ich freiwillig zur Seite und sehe zu, wie er immer wieder über ihre Wange streichelt und ihre Hand hält. Er kommt mir vor wie ein anderer Mensch.
»So, dass sollte reichen«, sagt Mila, räumt den Müll beiseite und wäscht sich die Hände. »Bring sie in dein Schlafzimmer. Sie braucht Ruhe. Und wo ist die nächste Apotheke? Jared und ich werden Antibiotika besorgen.«
»Ich bringe sie in unser Bett«, nuschelt Frost und hebt sie sanft auf seinen Arm.
Unser Bett?
Ich verstehe wirklich gar nichts mehr.
»Und je nachdem, was hier passiert ist oder warum sie sich die Pulsadern aufschneiden wollte … Sie sollte nicht alleine bleiben. Den Verband müssen wir täglich wechseln. Was ist mit den anderen?«, fragt Mila Frost, aber der wendet sich bereits der Tür zu.
»Lass ihn«, sage ich und folge meinem Bruder und der Katze. »Wir können später noch klären, was das alles zu bedeuten hat. Ich bleibe bei ihnen. Fahrt ihr in die Apotheke.« Mila nickt und verlässt dann mit uns die Küche.
»Fire!« Sam kommt sofort auf mich zugerannt, während meine Augen nach Sid und dem King suchen.
»Wo sind sie?«, will ich wissen.
»Sid und Railly sind mit dem Verrückten an die frische Luft, bevor er noch ganz austickt.«
»Was waren das für zwei Söldner? Wo hatte er die her?«, will ich wissen.
»Am Hafen von Boston angeheuert«, erklärt mir Sam und sieht sich um. »Und weil die Spinner erst was trinken wollten, bevor sie mit dem King diese kranke Hütte hier suchen, sind sie in den nächstbesten Pub gegangen. In dem Frost mit der Kleinen war.« Als Frost gerade die Treppe, die nach oben führt, besteigt, schreit Sam ihm hinterher. »Alter, ich hätte gerne eine Erklärung für das hier!«
Meine Hand legt sich auf Sams Arm. »Das klären wir später. Du siehst doch, dass er völlig neben sich steht.«
»Sarah, hast du dich hier mal umgesehen?«, fragt er knurrend und deutet zu einer riesigen Scheibe, die den Einblick in eine Art Mini-Biotop freigibt.
»Ich verstehe das alles auch nicht«, antworte ich mit belegter Stimme und sehe meinem Bruder hinterher, dem der Gepard auf dem Fuße folgt. »Es gibt sicher eine Erklärung für das alles.«
»Fragt sich nur, ob die uns gefallen wird.« Sam zieht mich in seine Arme und drückt mich so fest an sich, dass ich ihn am liebsten mit hochnehmen würde. Was aber sicher keine gute Idee ist.
»Wenn was ist, ruf mich, Fire!«
»Ich schaffe das schon«, versichere ich ihm. Die Frage ist nur, ob Frost und Sannah es schaffen.