»
I
hr seid seine Familie?« Ich setze mich auf das Sofa vor dem Raum, in dem Frost mich eingesperrt hatte.
»Das sind wir«, erklärt mir einer der hübschen jungen Männer, zu dem sich die Kleine mit dem hellblonden Haar setzt.
»Und ich bin deine«, sagt mein Vater.
Mein Vater … Er ist so sehr mein Vater, dass es wehtut. Und wäre nur er alleine oben in Frosts Schlafzimmer erschienen, ich bin mir sicher, ich hätte ihm Shiva auf den Hals gehetzt. Aber diese Ärztin … Mila … Ich vertraue ihr. Ich weiß nicht warum, nicht mal ansatzweise, aber es ist so. Sie alle, die Frosts Familie sind … Keine Ahnung, woher ich diese Überzeugung nehme, aber ich sehe, wie sehr sie Frost lieben. Und genau deshalb vertraue ich ihnen auch. Sie würden ihm nicht das Herz bei lebendigem Leib herausreißen. Und genau das würden sie ja tun, sollten sie uns belügen, sofern mein Vater mich jetzt und hier töten will.
Aber es ist nicht nur das, es ist sein Blick, seine Aura … so habe ich ihn nie wahrgenommen. So … liebevoll. »Warum hast du mich damals an Tante Luce abgegeben?« Ich kann die Bitterkeit in meiner Stimme nicht unterdrücken. Mag sein, dass
er mich heute nicht mehr töten will, aber, dass er mich an Tante Luce abgegeben hat, ist nun mal ein Faktum.
»Das habe ich nicht«, antwortet er und seine Stimme zittert dabei.
Alles in mir schreit, dass er lügt, und diesmal ist es nicht meine Stimme. Aber ich wünsche mir das Gegenteil. Wünsche, dass er die Wahrheit sagt. Aber wie kann er die Wahrheit sprechen, nach allem, was passiert ist? Deshalb kann sein Zittern nicht echt sein. Dieses Zittern allerdings, lässt mich an meiner Wahrnehmung zweifeln. Ich meine … gestern habe ich mir aufgrund meiner inneren Stimme noch die Pulsadern aufschneiden wollen. Wie gut oder klar kann meine Wahrnehmung da sein? Was ist Lüge und was nicht?
»Wirklich nicht, Sannah«, setzt er jetzt hinterher. »Ich wusste nicht mal, dass du so nah bist. Wusste nicht mal, dass sie noch da ist.«
Meine Finger graben sich in die Polsterung und ich warte jetzt förmlich auf meine Stimme, die mir sagt, was ich tun soll. Andererseits fürchte ich mich seit gestern vor ihr. »Das ist eine Lüge!«
»Sannah«, wimmert mein Vater und die hellblonde Frau legt ihre Hand auf seine Schulter.
»Er wusste es wirklich nicht.« Es ist Mila, die Ärztin. Sie steht auf, kommt auf mich zu und setzt sich dann auf die Lehne neben mich. »Du weißt, dass ich Ärztin bin, eine Psychologin. Ich habe dazu noch einige Zusatzausbildungen, Sannah.«
»Was bedeutet das?«, will ich wissen und kann den Blick nicht von meinem Vater lösen, der mir gegenübersitzt.
»Ich praktiziere auch Hypnose. Oft ist das sehr hilfreich, bei verdrängten Kindheitspsychosen. Die Idee dazu kam mir gestern.«
»Welche Idee?«, frage ich beinahe tonlos. Von Hypnose habe ich schon in einem von Tante Luces Büchern gelesen, begreifen kann ich es aber nicht. Mein Vater sieht mir
gebrochen in die Augen und hätte er nicht getan, was er mir angetan hat, würde ich ihn am liebsten in den Arm nehmen.
»Ich erkläre es dir«, führt Mila weiter aus.
»Und Dean hat sich dazu bereit erklärt, es auch vor deinen Augen noch einmal zu machen, damit du siehst, dass wir die Wahrheit sagen«, erklärt mir der hübsche Mann, auf dessen Schoß die Hellblonde sitzt.
»Erst möchte ich mit meinem Vater sprechen.« Meine Stimme ist kalt, hart, obwohl ich innerlich etwas anderes fühle. Vielleicht ist genau das mein Problem. Ich empfinde nur etwas für Menschen, die mir weh tun. Meine Nanny habe ich als Kind vergöttert, bis mir Tante Luce, die ich erst auch sehr gern hatte, steckte, dass sie mich töten will. Dann Frost … Was ich für ihn empfinde, ist ganz besonders und vor allem tief, aber auch er hat mir schon wehgetan.
»Ich spreche über alles mit dir«, sagt mein Vater in diesem Moment. »Frag mich, was immer du willst. Wenn ich kann, werde ich dir antworten.«
Alle anderen beobachten uns, als ob wir die größte Attraktion wären. Wahrscheinlich sind wir es auch. Ich überlege, ob ich Frost bei diesem Gespräch vielleicht doch dabeihaben will, aber ich glaube, er hat gerade genug mit sich selbst zu tun und hat auch ein Gespräch, mit den anderen seiner Familie zu führen. »Warum hast du mich an Tante Luce abgegeben?« Es ist die essenzielle Frage und sie beschäftigt mich mehr als alles andere. Dabei kenne ich die Antwort. Weil ich meine Nanny bestialisch erstochen habe.
»Ich habe dich niemals an Luce abgegeben, Sannah. Was ich gemacht habe, war, dich in die Zelle zu sperren, nachdem das mit Margret passierte. Ich weiß nicht, ob es richtig war, ich erinnere mich nur wie durch einen Schleier daran. Aber niemals hätte ich dich weggeben. Schon gar nicht an Luce.«
Seine Worte machen mich so wütend, so rasend, dass ich mir meine Fingernägel fest in die Oberschenkel grabe. Wie
kann er so lügen? Wieso glauben die anderen ihm? Mein Blick schweift über den Teil von Frosts Familie, die mit in diesem Raum sind, und als ich in Milas Augen blicke, werde ich ruhiger.
»Dein Vater wurde jahrzehntelang von Hold unter Drogen gesetzt, Sannah. Wenn er sagt, dass alles wie in einem Schleier liegt, ist es die Wahrheit. Ich habe ihn gestern unter der Hypnose an viele Orte seiner Vergangenheit geführt, sodass wir daran teilhaben konnten.«
»Und das bedeutet, dass er nicht lügen kann?«, will ich wissen.
»Doch, vielleicht sogar besser als im wachen Zustand. Hypnose ist kein Lügendetektor. Aber in der Hypnose erreiche ich die Vergangenheit der Menschen. Ich frage keine gezielten Dinge ab, sondern lasse den Patienten erzählen. Ich führe ihn nur an die Orte, in die Zeit, über die wir mehr erfahren wollen. Der Patient gibt mir alles wieder, was er an Erinnerungen abgespeichert hat. Bewusst und unbewusst.«
Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstehe. Weiß auch nicht, ob es bedeutet, was es bedeutet. Aber ich weiß, ich vertraue Mila. Selbst wenn ich nicht ganz verstehe warum. »Sprich weiter«, verlange ich von meinem Vater und durchbohre ihn mit meinem Blick. Dass ich überhaupt so ruhig bin, verstehe ich noch viel weniger. Schließlich lag meine größte Angst immer darin, an diesen Tag zu gelangen. Der Tag, an dem ich meinem Vater wieder gegenüberstehe.
»Hold kam irgendwann und sagte mir, dass du fort seist. Ich ließ das gesamte Anwesen nach dir absuchen. Verhörte alle Männer, die für mich tätig waren. Aber niemand wusste, wer dir die Tür zur Freiheit geöffnet hatte. Dass es Hold selbst war, der dich zu Luce brachte, auf die Idee wäre ich nie gekommen. In meinem Kopf damals, war schon Luce einige Zeit zuvor einfach verschwunden und niemals habe ich darüber nachgedacht, dass sie so nah ist.«
»Und warum bist du nicht nach unten gekommen? Kam dir nie die Idee, dass dort jemand sein könnte?«
Sein Blick wirkt immer verletzter. »Ich hätte es tun sollen. Hätte ich nur klar denken können. Aber ich schaffte es nicht selbst dort runterzugehen. Nicht, nachdem deine Mutter dort unten starb. Ich schickte Hold. Ich vertraute ihm, als er sagte, dass unten niemand sei.«
»Eins verstehe ich nicht. Haben Hold und Tante Luce sich nie Gedanken darüber gemacht, dass du vielleicht doch irgendwann mal selbst nachsehen würdest?«
»Ich wusste zeitweise nicht mal, wer ich bin, Sannah. Mein Hirn schaltete irgendwann von Dean auf den King. Und den King interessierte nichts. Der King war stark … bis Sid kam.« Er wirft der Hellblonden, die immer noch auf dem Schoß des jungen Mannes sitzt, einen liebevollen Blick zu.
»Warum bis sie kam?«
»Weil sie deiner Mutter so ähnlich ist. Fast identisch ist ihr Aussehen, nur dass deine Mutter dunkles Haar hatte. Aber nicht nur das, Sannah. Sid ist auch vom Wesen so wie sie. Stark, vertrauenswürdig und sie steht für das ein, an das sie glaubt.« Wieder legt Sid ihre Hand auf die Schulter meines Vaters und irgendwie löst diese Geste erneut diesen brennenden Schmerz in mir aus.
Genauso war es oder zumindest annähernd so, wenn ich die Frauenstimme über das Telefon hier im ganzen Haus gehört habe. Jetzt allerdings ist dieses Gefühl für Sarah komplett verflogen. Jetzt da ich weiß, dass sie Frosts Schwester ist. Wie könnte sie ihn nicht lieben? Meine Augen fallen wieder auf Sid und ich versuche, mir meine Mutter vorzustellen. Das habe ich oft versucht. Vergeblich. Tante Luce wollte nie über sie sprechen. »Und Tante Luce? Warum hat sie sich dort unten verkrochen?«
Mein Vater zuckt mit den Schultern und eine Art Schmerz fährt über sein Gesicht. »Damals war es wie eine Befreiung,
dass sie fort war. Ich war so berauscht, dass ich nicht mal darüber nachgedacht habe, warum sie eigentlich ging.«
»Wenn wir zurück im Mothers sind, versuche ich anhand eurer Auskünfte ein Persönlichkeitsprofil zu erstellen. Ob wir die Antwort für ihr Handeln finden, das kann ich nicht versprechen. Aber eines verspreche ich dir, Sannah, ich bin mir sehr sicher, dass Dean tatsächlich nicht wusste, dass du und Luce unterirdisch im Waldhaus wart.« Milas Blick ist streng, aber auch so ehrlich.
»Ich muss darüber nachdenken«, sage ich und führe meine Finger von meinen Beinen zu meiner Schläfe, um sie zu massieren. Ich kann diese verschiedenen Gefühle noch nicht auseinanderhalten. Dieses warme, prickelnde und zugleich vertraute Gefühl für Frost. Das Gefühl für meinen Vater, dass vielleicht mehr Wunsch als Realität ist, dass er mich vielleicht doch die ganze Zeit über geliebt hat … Aber, wie könnte er? Ich habe einen Menschen bestialisch ermordet. Als Zehnjährige. Plötzlich legt sich eine Hand auf meine Schulter, und als ich erschrocken aufsehe, ist es Mila.
»Wenn du damit einverstanden bist, Sannah, wenn du dich darauf einlassen und mir irgendwie vertrauen kannst, machen wir das mit der Hypnose morgen bei dir. Vielleicht ist alles ganz anders, als Dean und du denken.« Sie lächelt.
Sie lächelt offen und freundlich und ich möchte ihr so gerne glauben. »Ich würde jetzt gerne zu Frost gehen. Darf ich?« Plötzlich fehlt mir seine Nähe so sehr, dass ich wieder zu zittern beginne.
»Sannah«, sagt mein Vater, aber die kleine Sid schüttelt mit dem Kopf.
»Lass ihr Zeit. Und du, Sannah, du musst niemals fragen, ob du etwas tun darfst, hörst du? Du gehörst jetzt zu Frost und somit auch zu uns.«
Sie lächelt ebenfalls freundlich und sieht wunderschön dabei aus. In diesem Moment stelle ich mir meine Mutter vor. Mit
einem liebevollen, freundlichen Lächeln, und als ich mich erhebe, fühle ich mich zum ersten Mal in meinem Leben so, als könne ich eine Familie haben.