A
ls Mila mich zurückholt, gilt mein erster Blick Frost. Ein zaghaftes Lächeln liegt um seine Augen und seine Hand streichelt dabei zärtlich über meinen Bauch.
»Du hast wirklich nicht viel Schönes erlebt«, sagt Mila in diesem Moment. »Wie geht es dir jetzt?«
»Es war fast wie ein langer, tiefer Traum, und trotzdem war mir die ganze Zeit bewusst, dass ich hier bei euch bin. Dass mir nichts geschehen kann. Und all die Bilder von früher … waren nichts Neues. Die sehe ich sowieso jede Nacht. Aber diesmal habe ich mich geborgen dabei gefühlt.« Ich habe noch jedes Bild von vorhin vor Augen. So, als ob ich das alles nochmal durchlebt hätte. Die Schläge von Luce, ihre Berührungen, all die Dunkelheit. Frost sieht besorgt aus. Im Grunde weiß er selbst, dass uns das jetzt nichts gebracht hat, außer mich schon wieder an die Jahre in Gefangenschaft zu erinnern.
»Ich werde dafür sorgen, dass dir nie wieder etwas Schlimmes passiert«, sagt er und ich drücke mich etwas fester an ihn.
»Ich möchte dir anbieten, Sannah«, sagt Mila, »dass wir beide, solange du möchtest, miteinander arbeiten. Die Stimme, die du seit so vielen Jahren hörst, das ist etwas, was wir
systematisch und mit Aufarbeitung behandeln können. Natürlich nur, wenn du einverstanden bist.«
»Das wäre toll«, antworte ich und kann mir kaum vorstellen, dass man diese Stimme einfach ausradieren kann. Aber sie ist schon seit Stunden ruhig. Vielleicht schafft Mila es ja auch, sie für immer zum Schweigen zu bringen. Leider bin ich mir aber jetzt immer noch nicht sicher, was damals in jener Nacht geschehen ist. »Bist du dir sicher, bloß weil ich mich auch unter Hypnose nicht an die Tat erinnere, dass ich sie wirklich nicht begangen habe?«
Sie nickt. »Aber hundertprozentig kann ich es dir nicht beantworten. Allerdings haben wir vielleicht noch eine Möglichkeit, an die Wahrheit zu kommen.«
»Der King«, sagt Frost und Mila nickt.
»Wer hat ihm damals erzählt, dass du die Nanny umgebracht haben sollst?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe ja nicht mit ihm gesprochen.«
»Und das hast du nicht getan, weil Luce es dir eingebläut hat. Luce war für alles irgendwie der Auslöser.«
»Leider können wir sie aber nicht mehr befragen«, sage ich und spüre, wie Frosts Hand sich verkrampft.
»Glaub mir, Redcat, wäre sie noch am Leben, hätte sie keine Möglichkeit mehr, sich noch befragen zu lassen.«
Bevor ich ihm antworten kann, zieht Mila ihr Handy aus ihrer Hosentasche.
»Ich rufe Jared an. Er soll mit Dean zurückkommen. Vielleicht schaffe ich es bei ihm, durch eine Affektbrücke, an Ereignisse aus dieser Nacht zu kommen. Denn danach habe ich ihn beim ersten Mal nicht befragt.« Nach einem relativ kurzen Gespräch nickt sie uns zu. »Und Frost, reiß dich zusammen. Wenn er nicht entspannt ist, klappt es mit der Hypnose vielleicht nicht.«
»Ich benehme mich«, sagt er, zwinkert mir aber zeitgleich zu.
Ich richte mich auf, nehme sein Gesicht in meine Hände, so, wie er es immer bei mir tut, und sehe ihn einfach nur an. Dass er mir so nah ist, ich ihm nach all den Jahren, in denen ich ständig nur an ihn gedacht habe, so nah sein kann, fühlt sich manchmal immer noch unwirklich an. Genauso wie die Tatsache, dass ich die ganze Zeit völlig falsch lag und er gar nicht für meinen Vater arbeitet … Dass er mich nicht töten wollte, weil er es sollte … »Warum wolltest du mich eigentlich tot sehen?«, platzt es aus mir heraus und Mila schnaubt auf. Seine Augen verdunkeln sich und er ergreift meine Hände, die immer noch um sein Gesicht liegen.
»Weil ich ein kranker, kaputter Idiot bin, Sannah. Ich dachte, dass meine Familie«, sein Blick schweift kurz zu Mila, »mich nicht am Leben lassen würde, wüssten sie, was ich in all den Jahren getan habe. Und wenn sie wüssten, welche Vorlieben ich habe.«
»Irgendwie könnten mir deine Vorlieben gefallen, wenn ich weiß, dass ich danach am Leben bleibe.« Wir müssen beide grinsen und als wir uns gierig küssen, höre ich Mila.
»Nur Kranke hier«, murmelt sie mit einem unterdrückten Kichern.
»Wer ist krank?«, fragt Jared, der mit meinem Vater hereinkommt.
Ich erkenne augenblicklich seine Schritte auf dem Boden. Ich habe sie immer erkannt. Meine Lippen lösen sich von Frosts und ich wende meinem Vater den Blick zu.
»Sannah«, sagt er ruhig. »Geht es dir gut?«
Frost Arme umgreifen meine Taille fester, aber ich drücke seine Hand, damit er weiß, dass es mir gutgeht. »Ich würde sagen ja. Und dir?« Ich möchte ihm so viel sagen, so viel fragen, aber ich bekomme einfach nicht mehr Worte heraus. Es ist immer noch so unwirklich, dass wir uns hier zusammen in Frosts Haus befinden und ich noch lebe.
»Ich bin auf einem guten Weg, dank der Boys
. Und ich
glaube, wir zwei können es mit etwas Zeit und Hilfe auch schaffen«, antwortet er.
»Dann lasst uns gleich den ersten Meilenstein dazu legen«, erklärt Mila. »Dean, würdest du nochmal hier und jetzt eine Sitzung mit mir durchführen? Im Beisein von Sannah? Wir versuchen herauszufinden, was damals in der Nacht, in der die Nanny getötet wurde, wirklich passiert ist. War es Luce, die dir davon erzählt hat? Dass es Sannah gewesen sein soll?«
Mein Vater setzt sich auf einen der Sessel und legt die Stirn in Falten. »Das ist einer der Abende oder eher einer der Morgen, an die ich mich kaum mehr erinnere. Mein Gedächtnis sagt mir, dass es Hold war, der mir davon erzählte. Zumal Luce zu dieser Zeit ja schon längst, wie vom Erdboden verschluckt war. Aber um ehrlich zu sein, erinnere ich mich nur noch genau daran, wie ich Sannah ein paar Stunden später wegsperren ließ. Du musst wissen, Sannah, ich hatte nicht viele Möglichkeiten. Entweder ich hätte dich in fremde, ärztliche Betreuung gegeben oder die Zelle im Waldhaus … Ich wollte dich nicht ganz verlieren und dachte damals, es sei das Beste so.«
Seine Stimme ist voller Schmerz, und ich frage mich, was ich damals als Kind in ihm gesehen habe? War er tatsächlich für mich ein Monster oder begründete sich meine Abneigung gegen ihn, bloß auf den Erzählungen von Tante Luce?
»Wir haben versucht herauszufinden, warum Luce überhaupt abgetaucht ist, schließlich hielt sie die Zügel in der Hand«, sagt Mila.
»Leider sind wir zu keiner Antwort gekommen. Kurz nachdem sie verschwunden war, wurden alle Geschäfte auf mich übertragen und damals kam ich nicht mal auf die Idee, nachzuforschen, von wem aus das alles gehändelt wurde. Hold kümmerte sich um alles und das reichte mir. Ich war froh, dass Luce weg war.«
»Und du hast nicht mal darüber nachgedacht, warum Hold
erst mit Luce agierte und dann Hals über Kopf zu dir rennt und alles beichtet?«, fragt Jared.
»Mir war einfach alles egal«, erklärt mein Vater und sieht mich an.
»Sie hat mir erzählt, dass sie Angst vor dir hatte. Wobei, mit dem heutigen Wissen, glaube ich kein einziges Wort davon. Wir sind alle irgendwie kaputt, aber Tante Luce war wahrscheinlich der gestörteste Geist.«
»Und die Toten lassen sich nicht mehr befragen«, sagt Mila, »weshalb wir es mit den Lebenden versuchen sollten. Lasst uns anfangen. Wenn wir nur zu dieser einen Nacht ein paar Informationen bekommen, könnte dir das für dein weiteres Leben helfen, Sannah.«
»Oder auch nicht«, bemerke ich resigniert. Ich habe Angst davor, an was mein Vater sich vielleicht erinnert.
»Egal, was in dieser Nacht wirklich geschehen ist, Sannah … ich liebe dich. Daran kann nichts etwas ändern«, sagt Frost.
Seine Lippen treffen erneut heftig und warm auf meine und geben mir das Gefühl, mit ihm an meiner Seite, alles überstehen zu können.
»Dean, deine größte Angst? Ich brauche ein Mittel für die Affektbrücke, sodass wir an diesen Abend und Morgen herankommen. Es sollte etwas sein, was damit in Verbindung steht.«
»Meine größte Angst … dass wir herausfinden, dass es tatsächlich Sannah war, die Margret getötet hat. Nicht, weil ich dich dann weniger lieben würde, Sannah. Ich habe dich immer geliebt. Sondern, weil ich Angst habe, dass diese Tatsache dich zurückwirft.«
Ich nicke ihm wissend zu, denn ich verstehe ihn. Teile seine Meinung zu hundert Prozent. Wobei … Was bedeutet schon zurückwerfen? Ich höre Stimmen, habe mir ein Messer über beide Arme gezogen … Kann es noch schlimmer werden? Ich weiß es nicht.
»Mach es dir bequem Dean«, fordert Mila meinen Vater auf und er wechselt vom Sessel zu der anderen Couch.
Es dauert nur wenige Minuten, bis Mila ihn so weit hat, dass er wirkt, als würde er schlafen. Mit völlig entspannten Gesichtszügen liegt er da, hat die Augen geschlossen und atmet langsam und ruhig.
»Erzähl mir von deiner Tochter, Dean. Siehst du sie?«
Seine Stimme klingt, als ob er völlig bei Bewusstsein wäre. »Es war nach Arianna das Schlimmste, was ich je gesehen habe.«
Arianna … meine Mutter. Ich bin für einen kurzen Moment völlig schockiert, denn ich dachte ein Leben lang, er hätte meine Mutter sehr geliebt. Und ich war das Schlimmste?
»Was siehst du genau? Warum war es das Schlimmste?«
»Arianna ist an all diese Maschinen angeschlossen und Freddy schneidet ihr den Bauch auf. Da ist so viel Blut und ich stehe daneben und fühle mich so hilflos … Mein kleines Mädchen wird ohne Mutter aufwachsen müssen, mit einem Vater, der völlig kaputt im Kopf ist. Das ist das Schlimmste.«
Tränen lösen sich aus meinen Augen, während ich ihn sprechen höre. Jetzt erzählt er seine Geschichte. Unsere.
»Und trotzdem hast du es geschafft, Dean«, sagt Mila ruhig.
»Es macht mich kaputt. Meine Kleine will nicht mit mir sprechen. Sannah, willst du heute mit Daddy reden?«
Plötzlich bin ich völlig schockiert und drücke mich dichter an Frost, während ich Mila hilfesuchend ansehe. Er spricht zu mir, als Kind … Diesen Satz hat er immer zu mir gesagt, wenn er zu mir kam. Mila legt sich den Zeigefinger auf die Lippen und konzentriert sich dann wieder auf meinen Vater.
»Was siehst du, Dean? War dein kleines Mädchen hübsch? War sie so, wie du sie dir gewünscht hast?«
»Sprich doch mit mir, Sannah. Wir haben doch nur noch uns … Sie antwortet mir nicht. Sie hat Angst vor mir, ich sehe es.«
»Weißt du, warum sie Angst vor dir hat?«
»Weil ich krank bin. Manchmal kann ich nicht richtig denken. Ich muss mit Margret sprechen. Zu ihr hat Sannah Vertrauen.«
»Kannst du uns etwas über Margret sagen, Dean? Wie lange ist sie schon in deinen Diensten?«
Ein Ruck geht durch den Körper meines Vaters und kurz denke ich, er öffnet die Augen. Doch im nächsten Moment atmet er wieder entspannt.
»Schon sehr lange. Bis zu dem Tag, als meine Kleine sie getötet hat. Sannah, was hast du getan? Warum? Ich weiß, ich bin kein guter Daddy. Aber warum, Sannah?« Er schluchzt auf und es hört sich furchtbar an. »Ich will nicht, dass mein Mädchen so wird wie Luce. Wie konnte sie bloß einen Menschen töten? Warum?«
»Erzähl uns, was du siehst, Dean«, sagt Mila ganz ruhig und mein Herz schlägt ebenso schnell wie das von Frost hinter mir.
»Meine Kleine liegt in ihrem Bett. Alles ist voller Blut. So viel Blut. Ihre Hände … der Boden, das Messer, das auf ihrer Decke liegt.«
»Hast du die Nanny gesehen? Wer hat dir davon erzählt?«
»Hold … ich erinnere mich nicht. Ich soll Sannah ins Waldhaus sperren, sagt er. Sie muss unter Kontrolle gebracht werden. Er hat recht. Es ist gefährlich, sie frei herumlaufen zu lassen. Aber ich kann sie nicht einfach weggeben. Doch sie ist wie Luce … Wie konnte das nur passieren? Sannah, Kleines, was hast du nur getan?«
Mein Herz schlägt nicht mehr schnell. Es fühlt sich an, als wäre es stehengeblieben. Ich starre auf meinen Vater, höre seine Worte und spüre Frosts warmen Atem in meinem Nacken. Mein Vater dachte … ich sei wie Luce … Es tut so weh, das zu hören.
»Psst«, flüstert Frost in mein Ohr. »Ich bin bei dir. Du bist nicht wie sie!«
Mila wirft uns kurz einen Blick zu und Frost verstummt
augenblicklich.
»Geh weiter zurück, Dean. Hast du die tote Margret gesehen?«
»Ich kann nicht«, wispert er und sein Atem geht schneller. »Ich sehe nichts. Da ist alles dunkel.«
»Es ist wichtig, Dean. Warst du in Margrets Zimmer, nachdem sie getötet wurde?«
»Ich kann nicht. Nein, ich kann nicht. Ich soll mich nicht daran erinnern.«
Erneut trifft mich Milas Blick. Sie deutet auf meinen Vater, weist mich an, zu ihm zu gehen. Seine Hand zu halten. Ich zittere am ganzen Körper. Ich weiß nicht, ob ich das kann.
»Ich bin bei dir«, flüstert Frost. »Dir wird nichts geschehen.«
»Geh weiter zurück, Dean, was siehst du?«, fragt Mila erneut.
Langsam und so geräuschlos wie möglich, stehe ich auf. Gehe auf den Mann zu, vor dem ich fast mein ganzes Leben lang Angst hatte, und hocke mich vor ihn auf den Boden, bevor ich zaghaft seine Hand ergreife.
»Kleines«, raunt er zeitgleich. »Wie konntest du das tun?«
»Du musst uns sagen, was wirklich in jener Nacht passiert ist, Dean. Nur so kann Sannah bleiben.«
Ich weiß nicht, ob es gut ist, sein Unterbewusstsein mit mir zu erpressen, aber als er einmal tief ausatmet, wird sein Gesicht plötzlich entspannter. Ich spüre, wie er meinen Griff um seine Hand erwidert und es fühlt sich … gut an. Fühlt sich normal an.
»Du hast alles kaputtgemacht, Dean.«
Seine plötzlichen Worte erschrecken mich. Seine Stimme klingt verändert. Höher. Hektisch sehe ich zu Mila, die mir aber bedeutet, ruhig zu bleiben.
»Luce? Ich dachte … du seist tot«, spricht er jetzt mit seiner normalen Stimme weiter.
»Das bin ich auch«, sagt er jetzt wieder mit hoher Stimme.
»Seit du auf der Welt bist, bin ich das, Dean. Weil unser Daddy, seit du da warst, mich plötzlich nicht mehr genauso liebhatte. Und dafür musstest du zahlen, Bruder.«
»Du bist krank, Luce.«
»Du hast mich krank gemacht! Ich habe dir alles verziehen, sogar deine Geburt. Weil ich mit den Jahren gelernt habe, dich zu lieben, nachdem Daddy fort war. Sehr sogar. Aber du hast mich nie so geliebt, wie ich dich geliebt habe. Nur du bist an allem schuld. Dass ich nachts nicht mehr schlafen kann, weil ich an dich denken muss. An deinen schönen Körper. Weil ich es nicht mehr aushalte, ständig in deiner Nähe zu sein. Weil du diese Schlampe mir vorgezogen hast. Weil du ihr ein Kind gemacht hast. Weil du mich verlassen wolltest, wegen ihr.«
»Was machst du da?«, ruft mein Vater aufgeregt und beginnt zu schwitzen.
»Dir den Verstand rauben. Dir alles nehmen, was du hast, bist und was du liebst.«
»Warum, Luce? Hast du mir nicht mein Leben lang schon genug angetan? Reicht es nicht, dass du mich jahrelang missbraucht hast? Was willst du mit der Spritze? Was wird das?«
»Du hast Glück, mein lieber Bruder. Obwohl ich dich am Boden sehen will, schenke ich dir das Glück, dich an die heutige Nacht nicht mehr zu erinnern. Es wird viel besser, wenn du ein Leben lang mit der Schuld leben musst, als Vater versagt zu haben.«
»Hold! Hold!« Er schreit so laut, dass ich zusammenzucke.
»Halt ihn fest, Hold«, sagt mein Dad jetzt wieder mit der Stimme die Luce gehören soll.
»Dean, konzentrier dich auf mich«, fordert Mila. »Konzentrier dich auf meine Stimme, nicht auf ihre. Verlass diesen Moment jetzt und geh weiter. Geh zu Margrets Zimmer, genau in dieser Nacht. Warst du dort? Was hast du gesehen?«
»Überall ist Nebel«, antwortet mein Dad und ich drücke
seine Hand etwas fester. »So viel Nebel. Aber da sind Stimmen. Unter mir, ich höre etwas.«
»Warst du dort, Dean? Erzähl mir, was du siehst.«
»Ich stolpere immer wieder. Alles ist voll Nebel. Vielleicht auch nur in meinem Kopf, ich weiß es nicht. Aber ich muss nachsehen. Etwas könnte mit Sannah sein. Da ist so viel Krach, aber ich kann nicht richtig laufen.«
»Geh zu Margrets Zimmer, Dean. Du schaffst das.«
»Ich war ja dort!«, schreit er auf einmal. »Ich bin endlich da … Hier sind Hold und Luce … Sie sehen mich nicht. Luce steht mit einem Messer da. Immer wieder sticht sie zu. Ich will schreien, will rennen. Ich kann nichts. So viel Nebel. Warum ist mir so schwindelig?«
Mein Blut gefriert zu Eis, während ich seine Worte höre, und ich kann nicht anders, als die Hand meines Vaters loszulassen und zu Frost zu stürmen. Das ist einfach zu viel. Zu viel für meinen Kopf, zu viel für mein Herz. Und das kann nur Frost zusammenhalten.
»Baby«, sagt er und schließt seine Arme um mich.
»Was siehst du noch, Dean? Was ist noch passiert?«, fragt Mila indessen weiter.
»Hold … er hat mich gehört … er dreht sich zu mir herum und kommt lachend auf mich zu. Da ist nur Nebel und es kommt immer mehr davon. Ich weiß nicht. Kleines, wie konntest du das tun?«
»Dean? Wo bist du jetzt?«
»Bei meiner Kleinen. Sie hat Margret getötet, sagt Hold. Hier ist so viel Blut. Sannah …«
»Verabschiede dich von Sannah, Dean. Es wird Zeit. Sag ihr, was du wirklich für sie empfindest und dann komm zurück zu uns. Wir haben genug erfahren.«
»Ich liebe dich, Kleines. Ganz egal, was du tust«, sagt mein Dad mit geschlossenen Augen und eine Träne rinnt über seine Wange.
Ich zittere am ganzen Leib, als er aus seiner Trance erwacht und seine Augen sich sofort bedauernd auf mich richten. Und dann spüre ich Frosts Hände, die mich sanft nach vorn schieben. »Daddy«, rufe ich mit erstickter Stimme und laufe auf meinen Vater zu, der sich aufrichtet und seine Arme ausbreitet. »Daddy«, schluchze ich erneut und lasse mich von ihm in eine unendlich warmherzige Umarmung ziehen.
»Es tut mir alles so leid. Alles, was ich getan und nicht getan habe, Sannah, und ich weiß nicht, wie ich das jemals wieder gutmachen soll.«
Er drückt mich noch etwas fester an sich und ein riesiger Knoten in meinem Bauch, meinem Kopf und meinem Herzen löst sich. Das ist mein Vater. Ein Vater, der mir nie etwas Schlechtes wollte und der selbst von dem grausamsten Menschen, der vielleicht je auf dieser Erde gelebt hat, manipuliert wurde. »Lass uns einfach ab jetzt füreinander da sein«, spreche ich leise an seine Brust und sehe dann Frosts lächelndes Gesicht.
Nachdem wir noch eine halbe Stunde mit Dad und den anderen, die einer nach dem anderen zurückkamen, sprachen, zogen wir uns zurück. Ich weiß jetzt, dass ich einen Vater habe, einen, der mich wirklich liebt. Und deshalb fiel es mir in diesem Moment auch nicht so schwer, mich von ihm zu lösen und mit dem anderen wichtigen Mann in meinem Leben zu gehen.
Jetzt liegt Shiva vor dem Bett und beobachtet Frost und mich dabei, wie wir das Gehörte analysieren. Für mich jedoch ist es nicht nur analysieren. Es hat mich hart getroffen, meinen Vater so verwirrt zu sehen. Ich habe mit ihm gelitten. Woher hätte ich wissen sollen, dass Luce und Hold ihn die ganzen Jahre mit irgendeinem Dreckszeug außer Gefecht gesetzt
haben? Dass er gar nicht er selbst war. Schon lange vor meiner Geburt nicht mehr.
»Es ist fast, als wären wir dabei gewesen«, sagt Frost in meine Gedanken hinein.
»Kannst du dir das vorstellen, dass man etwas total ausblendet und sich einfach nicht mehr daran erinnert. Selbst wenn es ein einschneidendes Erlebnis war?«
»Mit den Drogen, die dein Vater jahrelang untergeschoben bekommen hat, kann ich mir das sogar gut vorstellen.«
»Ich nicht. Also, ich glaube ihm. Aber mir hat sie niemals Drogen gegeben, deshalb weiß ich nicht wie es ist.«
»Sei froh, Sannah. Und ich sag dir auch warum.«
»Warum was?«
»Warum ich das alles nachempfinden kann. Ich weiß nicht, ob du dich an meine Kette erinnerst. Die mit dem USB-Anhänger.«
Ich nicke nur. Klar habe ich diese Kette in den ersten Tagen bei ihm gesehen, aber sie war mir nicht wichtig genug, als dass ich ihr Fehlen ansprechen wollte.
»Diese Kette trug ich, seit ich ein Teenager war und der Anhänger war nur ein Behältnis für meine Drogen.«
»Deine Drogen?«
»Nicht solche, wie dein Vater sie bekommen hat. Ich bekam sie damals von einer der Ärztinnen aus dem Mothers verschrieben. Adderall. Sie war der Ansicht, ich würde an ADHS leiden.«
»Was ist das?«
»Ein Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom. Ich war immer in mich gekehrt und ein unmöglicher Zappelphilipp. Ich konnte mich nie bloß auf einen Gedanken konzentrieren. Mir ging zu viel auf einmal durch den Kopf. Die Kapseln machten mich ruhiger, fokussierter. Endlich konnte ich Dinge zu Ende denken. Mich richtig konzentrieren und das Gezappel hörte auf. Leider machten sie mich aber auch
irgendwann abhängig. Weil ich mehr davon einnahm, als ich sollte. Viele Jahre lang, bis vor wenigen Tagen. Seit du hier bist, seit ich erkannt habe, wie sehr ich dich wirklich brauche, habe ich kaum einen Gedanken an das Dreckszeug verschwendet.«
Seine Worte berühren mich und ich empfinde so viel für diesen Mann. »Kannst du dich jetzt immer noch konzentrieren, ohne das Medikament?«
»Besser sogar«, sagt er und sein Blick steckt voller Liebe.
»Es tut mir furchtbar leid. Du hast auch so viel Schlimmes erlebt.« Ich krabble auf seinen Schoß und ziehe ihn an mich.
»Sannah«, keucht er leise, »du bist die einzige Droge, die ich brauche.«
Wie zum Beweis, schiebt er seine Hände unter mein Shirt und küsst mich. Ich spüre seine Härte unter mir und fühle das starke Kribbeln, das durch meinen Bauch schießt. Bis zu dem Moment, als die Tür aufgerissen wird und Sam einfach hereinplatzt.
»So geht das nicht«, knurrt Frost, schiebt mich auf die Seite und funkelt ihn böse an.
»Das muss jetzt gehen. Alles andere könnt ihr danach noch machen. Wir haben deine zwei toten Mädchen gefunden.« Sein Blick ist ernst und Frost erstarrt zu einer Salzsäule.
»Habt ihr?«, fragt er und fährt sich durch die Haare.
»Haben wir. Und da das selbst Railly und Sid geschafft haben, hättest du das locker selbst herausfinden können, Spinner.«
»Ich musste mich nicht nochmal davon überzeugen, dass sie mehr tot als lebendig waren, als ich sie aus dem Auto geschmissen hatte.«
Sams Grinsen, das gerade noch kurz auf seinem Gesicht zu sehen war, erlischt. »Was es bedeutet, eine Frau, die man so verletzt hat, einfach sich selbst zu überlassen, dass muss ich dir wohl nicht erklären. Und machst du sowas nochmal, bin ich
der, der dich windelweich prügelt.«
»Was ist mit den Frauen?«, frage ich aufgeregt. Ich spüre wie sehr diese Sache an Frost nagt und weiß, was es heißt, wenn man denkt, jemandem das Leben genommen zu haben. Er hat mir in der letzten Nacht alles von sich erzählt. Alles, was er je hier auf Dark Souls
getan hat. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass Frost nicht böse ist. Er hat sich nur manchmal nicht im Griff, dazu diese Kapseln … Frost und ich müssen beide an uns arbeiten. An unserer Vergangenheit. Ich glaube wirklich, dass wir das zusammen hinbekommen können. Auch bei mir ist es nicht nur ein Stein, der von meiner Brust genommen wurde, nachdem ich jetzt sicher sein kann, dass nicht ich meine Nanny getötet habe. Dass es Tante Luce war, die einfach nur meinen Vater verletzen wollte. Die uns auseinanderbringen wollte, was sie definitiv geschafft hatte.
»Sie leben, Spinner. Sehr gut sogar«, ruft Sam. »Die eine hat eine Familie und die andere ist damals nach Europa gegangen und macht da irgendeinen Riesenjob.«
»Das kann nicht sein«, sagt Frost aufgeregt. »Und wenn es so wäre … warum haben sie mich nicht angezeigt, damals?«
»Vergiss es einfach, Frost. Wenn ihr im Mothers seid, kann Railly dir ihre Instagram-Seiten zeigen. Sie leben und sind wohlauf. Laut deiner Aussage haben sie sich damals freiwillig auf den Besuch hier bei dir eingelassen. Vielleicht waren sie einfach froh, dass Ganze überlebt zu haben und wollten nicht, dass andere erfahren, auf was sie sich für Geld gemeldet hatten. Und vielleicht, mein Freund, waren sie gar nicht so schwer verletzt, wie du angenommen hast. Bei Sannah dachten wir auch, sie hätte die Pulsadern getroffen. Und sieh sie dir an, sie lebt und ist wie es aussieht, wieder putzmunter.« Er zwinkert mir zu. Dann dreht er sich wieder zur Tür und mein Magen rebelliert ein wenig, nach seinen Worten.
Ich habe wirklich versucht, mich umzubringen …
»Wir fahren in zwei Stunden zurück. Dean nehmen wir mit.
Wann können wir mit euch rechnen?«
Frosts Blick streift mich und ich verstehe so gar nicht, was er zu bedeuten hat.
»Wir kommen gleich nochmal runter, zum Tschüss sagen. Danach gebt uns noch ein paar Tage alleine.«
Sam nickt, zwinkert erneut und verschwindet. »Das Mothers? Dort lebst du mit den anderen?«
»Könntest du dir vorstellen, mit mir dort zu wohnen?«
»Mein Vater wohnt auch da?«
»Zurzeit.«
»Und Shiva?«, frage ich plötzlich aufgebracht. »Wir können sie doch nicht einfach hier zurücklassen.«
»Das würden wir niemals tun, Redcat«, sagt er und zieht mich wieder auf sich. »Die nächsten Tage bleiben wir hier und danach, wenn du willst, zeige ich dir New York, das Mothers und mein anderes Leben. Wenn es dir gefällt, könnten wir unter der Woche bei den anderen sein und von Freitag bis Sonntag hier alleine mit Shiva.«
Als hätte sie Frosts Worte verstanden, schnurrt sie laut und dreht sich auf den Rücken.
»Du hast jetzt keine zwei Leben mehr«, sage ich leise und küsse ihn. »Eins hat sich jetzt zum anderen gefügt, genauso wie bei mir.«
»Ich liebe dich, kleine Katze.«