Heute hatte ich das Gefühl, mit einer Luftdruckpistole den Indischen Ozean beenden zu können. An seiner flachsten Stelle. Es könnte Tausende von Jahren dauern. Riesige Felder. Aber an den schlammigen Ufern keine Andenkenbuden mehr. Keine Regale mit Silberschmuck und Flugdrachenschnüren. Nie mehr. Nur Wasserkanister und Schlangenschutzmittel. Zum Einreiben oder zum Sprühen. Zum Implantieren. Highways von Port Blair bis zu den Andamanen rüber. Alexandra Island. Red Skin Island. Tarmugli Island. North Sentinel. Sechsspurig. Neunspurig. Mein Taxi ist weiß. Der Starttarif beläuft sich auf dreitausend Rupien. Ich bin anständig genug, um zu wissen, wo die Grenzen sind. Es regnet, Schwesterchen, schick jetzt keine SMS. Wenn ich Mitglied der Regierung wäre, würde ich mich darum bemühen, den südasiatischen Aufsichtsmechanismus zu verbessern. Man muss ja sehen, wo man bleibt. Ich weiß, dass ich mich weigern werde, dich vor meiner Abreise diese Zeilen lesen zu lassen, Mami. Wenn dich mein Schwesterchen anruft, sag ihr, dass ich sie nicht mehr beschützen kann. Für Vater ist sie immer das Reh gewesen. Mein Taxi ist weiß. Keine Ahnung, wie lange ich diesen Showdown hier noch überlebe. Geographisch sollte bald alles möglich sein. Kaltenkirchen, Afrika, Galerazamba, Port Blair, die Andamanen.
Das Zerreissen alter Briefe aus dem neunzehnten Jahrhundert. Port Blair, erster September achtzehnhundertneunundvierzig. Meine liebe Mama, wir hätten den zweiten Offizier nicht auf der Emily zurücklassen dürfen. Bei starkem Seegang liefen wir vor der West-Andamanischen Küste auf Grund. Die Rettungsboote konnten nicht alle Matrosen aufnehmen. Viele ertranken. Unsere Pinasse war undicht. Wir besserten sie mit Treibgut und Mänteln aus. Beim Versuch, an den Strand zu gelangen, wurden wir von den Einheimischen mit Pfeilen beschossen. Wir hatten keine andere Wahl und mussten Kurs auf das burmesische Festland nehmen. Wir verloren ein halbes Dutzend Männer. Delphine mit Wohnberechtigungsscheinen für die Wasserflächen neben unserem Boot hielten uns für Kannibalen und suchten das Weite. Nach etwa zehn Tagen erreichten wir das sichere Ufer. Fast zwei Monate später, am fünfundzwanzigsten Oktober, fuhren wir mit einem anderen Schiff zur havarierten Emily zurück. Simpkin, der zweite Offizier, hätte sich uns damals anschließen sollen, als wir das Deck im Sturm verließen. Es gab nicht mehr viel, was an ihn erinnerte. Pfeile und Stangen in seinem Leib. Keines dieser verheerenden Hölzer unterhalb der Oberschenkel. Unterdessen versammelten sich ein paar Hundert bewaffnete Krieger an einem Feuer am Strand, in Kleidungsstücke gehüllt, die sie an Bord unseres Schiffes gefunden haben mussten. Nach ein paar Kanonenschüssen flüchteten sie ins Dickicht der Insel. Eine Bergungsfirma sandte einige Monate später ein weiteres Schiff in diese Region, um die Emily bis in ihre Eingeweide auszuschlachten. Was dann passierte, konnten wir uns auch Jahre später noch nicht erklären. Die Andamanesen kamen unbewaffnet an Deck, halfen den Arbeitern bei ihren Verrichtungen und brachten die geplünderten Kleidungsstücke und Geräte wieder zurück. Nach unserem Abzug steckten die Krieger die Überreste des Wracks in Brand, um Eisenbolzen und Nägel aus ihren Verankerungen zu lösen. Sie waren so naiv zu glauben, diese Materialien wären ihnen ohne Verbindungsschnüre dabei behilflich, ihren Fortbestand zu sichern. Sie waren so naiv, sich an Holzwundern zu erfreuen.
Das Zerreissen alter Briefe aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Wären wir nur an einem Dienstag oder an einem Donnerstag vor dieser Insel auf Grund gelaufen. Mein Von-Bord-Gehen ist auch immer wieder meine Rückkehr an Bord. Aber in umgekehrter Reihenfolge. Die großen Abstände zwischen den Palmen am Strand verhindern die Gedanken an Nahrung, Genussmittel und Wohnraumbehörden. Aber in umgekehrter Reihenfolge. Mein Aussteigen ist auch immer wieder das Einsteigen. Ich sehe nach, ob ich meine Papiere und Dokumente in meiner Kabine vollständig beisammenhabe. Die ADAC-Karte brauche ich gerade am wenigsten. Ihre Helligkeit nervt. Nach einigen Tagen und Wochen ist mir aufgefallen, dass ich mit den Einheimischen eher beim Zurückkehren an Bord ins Gespräch komme als beim Verlassen des Schiffes. Die Gegend wirkt arm, aber nicht gefährlich. Ich gehe die Gangway hoch und wieder runter. Aber in umgekehrter Reihenfolge. Ich hinke am Strand und bin nachlässig gekleidet. In meiner Kabine, aber das können die Ureinwohner nicht sehen, liegen weder Bücher noch großspurige Zeitungen herum. Ich platziere das Hundehalsband im Sand und versuche, aus einiger Entfernung, mit Steinen das Gleichgewicht im Innern herzustellen. Habe ich den fünften Stein im Kreis platziert, darf ich hierbleiben. Um die hilflose Art, hierbleiben zu wollen und von den Insulanern aufgenommen zu werden, noch etwas mehr zu betonen, bemühe ich mich im Sitzen darum, die Steinchen ins Zentrum zu befördern. Habe ich den siebzehnten Stein im Kreis platziert, muss ich zwölf Steine wieder rausnehmen. Ich hoffe, dieses Besiedelungsmodell findet hier keine Anwendung. Keine Sorge. Unser Frachter, registriert unter der Flagge Panamas, legt bestimmt gleich wieder ab. Warum ausgerechnet siebzehn Steine. Habe ich den fünften Stein im Kreis platziert, darf ich hierbleiben. Tausende Tonnen Hühnerfutter. Von Bangladesch nach Australien. Monsunzeit. In der Nacht auf den zweiten August neunzehnhunderteinundachtzig geriet unser Schiff in einen Taifun. Ich sah noch mal nach, ob ich meine Papiere und Dokumente in meiner Kabine vollständig beisammenhatte. Die ADAC-Karte brauchte ich gerade am wenigsten. Ihre Helligkeit nervte. Den Allgemeinen Deutschen Automobil Club gibt es seit neunzehnhundertdrei, falls jemand bei dieser aufgeworfenen, verheerenden Untergangsstimmung an meiner Sachlichkeit zweifeln sollte. Unser taiwanesischer Kapitän trug keine Schuld daran, dass unser Sechzehntausend-Tonner in dieser schweren See über das Riff in die seichten Inselgewässer gedrückt wurde. Wir konnten hier nicht mehr sinken und waren gerettet. Nur wenige Hundert Meter vom Strand entfernt. Palmen, Einbäume, keine Zivilisationskrankheiten.
Einmal ist Weissäuglein beim Spazierengehen umgekippt. Eine Fingerspitze mit Traubenzucker unter die Zunge. Und sie war wieder die Alte. Eine Fingerspitze mit Traubenzucker. Das Hundehalsband vor dem Abgrund. Die Fußbodenmatte ist das Straßenpflaster, aber in umgekehrter Reihenfolge. Zandschow. Zandschow. Den Namen dieses Dorfes hat er schon einmal irgendwo gelesen, irgendwo gehört. Claasen erinnert sich. Es kann gar nicht so lange her sein, seit die amtierende Regierung den Beschluss gefasst hat, für einen Zeitraum von zwölf Monaten, auf der A7, zwischen den Abfahrten Zandschow und Höverlake, sämtliche Unfälle zu untersagen. Dabei handelt es sich um einen Streckenabschnitt von siebzehn Kilometern, von denen vier Komma fünf Kilometer allein den Schrittwechseln der Tiere vorbehalten sind. Falls sie es tagsüber oder nachts unbemerkt auf die bewaldeten Inseln zwischen Landstraße und der fast parallel verlaufenden Autobahn geschafft haben. Und es hoffentlich nicht versäumt wurde, auch hier dieses Gefahrenschild aufzustellen. Aber solch ein Hinweis würde wohl eher auf einer Chaussee fehlen, stünde dem Verkehrsamt für die Bewegungsinstinkte des Wildes nur noch ein Schild zur Verfügung. Bei Zuwiderhandlungen, bei zu registrierenden Unfällen, fallen neben der Schadensabwicklung außerdem noch hohe Geldstrafen an. Die Menschen in dieser Region haben die Wahl, auf Unfälle zu verzichten.
Selbstbewusste Rehe und Fasane, sich langweilende Ärzte, Nachtschwestern, Versicherungsangestellte, Autoschlosser, Krankenwagenfahrer und Mitarbeiter des örtlichen Abschleppdienstes. Sie alle könnten für ein Sabbatjahr nach Cartagena gehen. Dort gibt es keine derart unsinnigen Regierungsbeschlüsse. Mir ist aber nur der Fall eines Rehs bekannt, das diese Möglichkeit nutzen möchte. Mit der Familie ist noch zu sprechen. Eine Auslandskrankenversicherung sollte möglichst zeitnah abgeschlossen werden. Sollte dem Reh in der Küstenstadt etwas zustoßen, gehören zu den Serviceleistungen der DKV die Vermittlung eines medizinischen Dolmetschers und die Organisation einer Besuchsreise durch Angehörige. Nachtschwester Ines ist noch unentschlossen. Die ständigen Gerüchte über die Departamentos del Chocó und de Norte de Santander in den abgelegeneren Teilen Kolumbiens. Landminen und Scopolamin. Zandschow hingegen ist ein Nest im äußersten Norden. Ein Feuerlöschteich im Zentrum. Wohncontainer. Getränke-Wolf. Apfelbäume. Wenn hier alle stranden, denen bei diesem Huckelpflaster ihr Hundehalsband vom Armaturenbrett rutscht, braucht man sich um diese Walachei keine Sorgen mehr zu machen. Claasen hat nachgeholfen. Ist rechts rangefahren. Zandschow.
Heute hatte ich das Gefühl, mit japanischem Heilöl etwas für meine Konzentration in der Fremde tun zu können. Ich rieb den Rücken meiner Hängematte damit ein, mein Strohdach und das Zelt, aber das Zelt nur an den Schienenbeinen der Heringe. Kaum Menschen am Ufer. Ab und zu kommt bei mir die Sehnsucht durch, von einem Auto in der Heimat erfasst zu werden. Aber ich traue diesem Heimweh nicht. Mein Taxi ist weiß. Ich habe in dieser Wildnis ein neues Leben begonnen. Die ständigen Gerüchte über die Departamentos del Chocó und de Norte de Santander, die meilenweit von meiner Stadt entfernt sind, konnten mich letztlich nicht abschrecken. Innerhalb der Mauern Cartagenas patrouillieren täglich zweitausend Polizisten. Die weniger frequentierten Gegenden wie Getsemani und La Matuna lässt du in den Nächten besser links liegen. Ich wohne mit Vorliebe in Gegenden, in denen im Notfall jede Hilfe für mich zu spät käme. Mein Starttarif beträgt fünf oder sieben Millionen Pesos. Man muss ja sehen, wo man bleibt.
Als ich mit meinem Schwesterchen noch im Wald lebte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, mal für ein Jahr nach Kolumbien zu gehen, Spanisch zu lernen und dort meinen Taxischein zu machen. Meine Bewerbung, auf einer Hacienda in Puerto Triunfo, achthundertdreiundfünfzig Kilometer von Cartagena entfernt, eine ganztägige Kinderbetreuung zu übernehmen, wurde überaus freundlich angenommen. Bekannte hatten mir im Unterricht in San Diego von diesem Zoo erzählt, der für alle geöffnet hatte, die arm und besitzlos waren. Hier konnte man Löwen, Kamelen, Elefanten, Flusspferden, Zebras, Nashörnern, Brillenbären, Tigern und Flamingos sehr nahekommen. Mein Schwesterchen schrieb mir mal, dass in Tsetsefliegen kaum Zebrablut zu finden ist. Sie bevorzugen eintönige Oberflächen. Die Hacienda lag im Tiefland des Magdalena-Flusses. Ein dreitausend Hektar großes Anwesen mit einer Flugzeuglandebahn, Fincas, künstlichen Seen, einer Stierkampfarena, Saurierskulpturen neben Saurierlautsprecherboxen, Swimmingpools, ausgebauten Straßen und einem gynäkologischen Behandlungszimmer. Mit meinem damaligen Chef hatte ich mich, was die Bezahlung betraf, überworfen und musste über Nacht Cartagena verlassen. Den Wagen brauchte ich für meine Flucht. Mein Taxi war weiß. Der Starttarif betrug fünfzehn Millionen Pesos. Ich fuhr mal für einen privaten Anbieter. Er hatte seine vier Fahrzeuge umspritzen lassen und soll in dubiose Geschäfte verwickelt gewesen sein. So wurde es jedenfalls von der Konkurrenz verbreitet. Er hatte nie zuvor ein Reh als Fahrer und versprach sich davon eine Belebung seines Geschäftes. Meine Geschichte erschien in mehreren regionalen Zeitungen. Aber mir war das alles nicht genug. Auf der Karte sah ich mir die Strecke an, für die ich etwa vierzehn Stunden benötigen würde. Fast einmal quer durchs Land fahren. Über El Carmen de Bolívar, Curumani-Bosconia, San Alberto, Sabana de Torres, Yarima bis Puerto Triunfo. Puerto Triunfo, etwa zweihundertfünfzig Kilometer nordwestlich von Bogotá. Auf meiner Fahrt nahm ich Anhalter mit, Hasen, Kinder, Bauern, Gemüsefrauen, Bananenpflücker, kleinere Raubvögel, aber keine Schlangen. Ich wollte ja nicht mit leeren Händen zu meiner Familie zurückkehren. Es waren jetzt mehrere Millionen Schritte bis zum Meer. Bett mit Moskitonetz. Wenn ich zwischen den Palmen stand, konnte ich mein Boot sehen. Mein Taxi war weiß. Cartagena lag jetzt in Europa. Puerto Triunfo war ein Punkt an der indischen Küste.
Mein neuer Dienstherr hatte nie zuvor ein Reh als Kinderbetreuer und versprach sich davon eine Belebung seines Geschäftes. Es gab über viertausend Bewerbungen auf diese Stelle. Ich hatte noch keine Punkte in Flensburg, eine zweijährige Praxis beim Überqueren von Verkehrsinseln und eine gute Orientierung bei schlechter Witterung. Mein polizeiliches Führungszeugnis wurde zeitnah aus Wilhelmshaven rübergefaxt. Meine Geschichte erschien in mehreren regionalen Zeitungen. Es gab mindestens fünftausend Bewerbungen auf diese Stelle. Meine Zeit als Taxifahrer in Cartagena war wohl letzten Endes der entscheidende Punkt für die Bewilligung der Arbeit auf der Hacienda. Die Standorttreue gegenüber der Hängematte in der Nähe des Strandes wurde mir bisher nie zum Verhängnis. Ich habe noch nie jemanden verraten. Zu meinen natürlichen Feinden zählten Raubtiere und übertriebener, kein stockender Verkehr. Aber mir war das alles nicht genug. Ich suchte das vertrauliche Gespräch mit meinem Chef und schlug ihm vor, an den Wochenenden, neben der Kinderbetreuung, auch noch im Zoo mit auszuhelfen. Einem Reh traute man so etwas ohnehin nicht zu. Nilpferde und Flamingos zu versorgen. Sauriermonumente zu waschen. Die Holzgerüste in der Stierkampfarena mit einer Pflegelasur zu überpinseln. Ich war dabei, als mein Dienstherr seinem Sohn eine Sig Sauer in die Hand drückte, um einen verletzten Hirsch auf der Ranch von seinen Schmerzen zu erlösen. Er brauchte mehrere Versuche. Sein Vater hatte ihm beim möglichen Benennen der Zielpunkte freie Wahl gelassen. Sollte Juan sein Freiwilliges Soziales Jahr zwischen Zandschow und Höverlake verbringen, würde ich keine Sekunde zögern, ihm die besten Verstecke auf den Verkehrsinseln zu zeigen. Wir wohnten nicht die ganze Zeit auf der Hacienda. Von den vielen vorfahrenden Autos ging oft eine große Unruhe aus. Die meiste Zeit verbrachten wir am Wasser bei den Flusspferden und Flamingos. Warum einige der an die zweitausend anderen Bediensteten den Dung der Tiere in Schubkarren luden, um ihn in Lagerhäusern abzuladen, verstanden wir nicht. Ich erinnere mich gern an die unbeschwerte Zeit an den Ufern der zahlreichen Seen auf unserem Gelände. Juan half mir dabei, einige Wörter richtig auszusprechen. Dafür durfte ich ihn und seine Schwester mit meinem Taxi zu den Saurierfeldern fahren. Der Starttarif belief sich auf null Pesos. Selbst eine Strecke über zwanzig Meter fuhren wir im Konvoi. Einmal waren neben dem Triceratops und dem Tyrannosaurus die Lautsprecherboxen ausgefallen. Wir versuchten, bei starkem Wind zu dritt die Geräusche dieser Giganten nachzumachen. Aber ein Techniker war längst über Funk informiert worden. In einem anderen Erdzeitalter hätten wir auf einer Münze ausharren müssen, um uns verständigen zu können. Hasta la vista. Hasta la vista. Als meine Zeit in Puerto Triunfo dem Ende entgegenging, sagte mir Juan abends am Bett, dass ich mir was wünschen dürfe. Was immer es auch sein möge. Sein Vater könne ihm nichts abschlagen und ihm jeden Wunsch auf der Welt erfüllen. Die meiste Zeit verbrachten wir am Wasser bei den Flusspferden und Flamingos. Warum einige der an die zweitausend anderen Bediensteten den Dung der Tiere in Schubkarren luden, um ihn in Lagerhäusern abzuladen, verstanden wir nicht. Ich erinnere mich gern an die unbeschwerte Zeit an den Ufern der zahlreichen Seen auf unserem Gelände. Muss an meine Mutter und an mein Schwesterchen denken. Das Leben auf den Autobahninseln. Zandschow und Höverlake. Dusslig rumstehen und Durst haben. Ich habe alles so restlos satt. Die militante Unentbehrlichkeit der Angehörigen im Betreuungsfall. Die Verschwendungssucht der Selbstgerechtigkeit. Die moralische Angriffslust der Empörung. Meine über alles geliebte Mutter, deiner unbändigen Liebe mir gegenüber habe ich es zu verdanken, dass aus mir ein Mensch geworden ist, der längst mit all deinen Geheimnissen vertraut ist und sie bis zuletzt für sich behält. Wenn du zu Besuch warst und wir uns betranken, wählte ich für dich die Nummern deiner verheirateten Liebhaber. Warum wolltest du, dass ich die Stimmen der Frauen hörte und nicht du. Deine Sehnsucht nach ruhigen Männern mit blauen Augen und einer hohen Intelligenz überraschte mich nie. So etwas war zwischen Zandschow und Höverlake, auf Verkehrsinseln, in Wäldern und auf Parkplätzen nie für dich zu finden. Technisch sollte bald alles möglich sein. Kaltenkirchen, Afrika, Galerazamba, Port Blair, Puerto Triunfo, die Andamanen.
Palmen und Einbäume, nur hunderte Meter vom Strand entfernt. Nackte Sentinelesen am Ufer, aufgebracht, muskulös, kriegerisch, aber aus der Ferne lächerlich archaisch bewaffnet, bis sie versuchen, bei zu starker Brandung, auf Baumstämmen sitzend, unser Schiff zu erreichen. Der Eigner des Frachters in Hongkong, die Regent Shipping Company, kann den abgehörten Funkspruch kaum glauben: Werden von den Ureinwohnern mit Pfeilen, Steinäxten und Speeren bedroht. Brauchen Hilfe. Bitten um den Abwurf von Gewehren. Die indische Marine ist zur Bergung seit Stunden unterwegs. Aber der Schlepper, der uns wieder ins offene Meer ziehen soll, muss aufgeben. Der Taifun ist unser ganzes Glück in diesen Tagen. Von Bord aus müssen wir mit ansehen, wie die sentinelesischen Stammeskämpfer versuchen, ihre Auslegerkanus noch sturmtauglicher zu machen, Stechkähne, fast schon zu eng für zwei Füße, bootsähnliche Stämme, die, mit einer Stange gesteuert und angetrieben, vorher nur für das Fischen in den seichteren Küstengewässern geeignet waren. Wir stellen Tag und Nacht Wachen auf und halten Stahlrohre und Signalpistolen in den Händen: Schätzen die Zahl der Eingeborenen auf fünfzig bis dreiundachtzig. Wenn nicht bald Verstärkung eintrifft, werden wir das hier nicht überleben. Heute ist der zehnte Tag, den wir manövrierunfähig an der Küste von North Sentinel zubringen. Die indische Marine, die über keine eigenen Hubschrauber auf den Andamanen verfügt, muss fremde Hilfe in Anspruch nehmen. Die Zeit drängt. Admiral Sawnhi, der zuständige Kommandeur in Port Blair, nimmt Kontakt zur indonesisch-australischen Firma P.T. Airfast Service auf, die mit einem Hubschraubergeschwader die Arbeiten auf der indischen Ölplattform Gettysburg vor der Küste der Andamanen unterstützt. Der eingesetzte Helikopter vom Typ S-58 T Sikorsky kann maximal die beiden Piloten und sechzehn Passagiere transportieren. Der indische Marinepilot, Leutnant Gadhok, erklärt sich sofort dazu bereit, diese Befreiungsmission zu unterstützen. Eine Strickleiter aus Seilen muss schnellstens her, falls eine Landung auf dem Frachter nicht möglich sein sollte. Fünfzehn bis zwanzig Fuß hohe Wellen. Es gelingt den Piloten, mit dem Helikopter auf der geschlossenen Ladeluke aufzusetzen, bei etwa dreißig Knoten Seitenwind. Sie beschließen, die Besatzung auf drei Rettungsflüge zu verteilen, um bei diesen Wetterbedingungen keine Menschenleben zu gefährden. Es sind dreiunddreißig Seeleute und ein Hund an Deck. Persönliche Gegenstände sollten an Bord verbleiben. Die Vorstellung, wie die Ureinwohner Tage oder erst Wochen später versuchen, mit einer beschissenen ADAC-Karte eine Kokosfrucht auszuschaben, macht uns nicht gerade zu besseren Menschen. Nach unserem Abzug stecken die Krieger die Überreste des Wracks nicht gerade in Brand, um Eisenbolzen und Nägel aus ihren Verankerungen zu lösen. Sie sind so naiv zu glauben, diese Materialien wären ihnen ohne Verbindungsschnüre dabei behilflich, ihren Fortbestand zu sichern, denken wir. Sie sind so herrlich naiv, sich an den Holzwundern in Fischen und anderen Lebewesen zu erfreuen, glauben wir. Die Überlegenheit, im Ernstfall einen Helikopter zu besteigen. Die Lässigkeit, auf Höhenangst und Strickleitern zu verzichten. Das Glück in Abrede gestellt zu haben, weil keine Gewehre abgeworfen wurden. Die Angst, den Taifun als Himmelsgeschenk anzunehmen. Der Stolz, die Kontaktlosigkeit zu anderen feindlichen Stämmen als hinterwäldlerisch zu besingen. Die Gier, keine Insel auf der ganzen Welt unangetastet zu lassen. Die Sicherheit, kaum Delphine gesehen zu haben. Die Sorge, die täglich wechselnden Heimwege zu vernachlässigen. Das Spiel, uns auf die Heimat zu freuen. Die sachliche Ausgewogenheit, so wenige Eisenteile wie möglich in der Fremde zurückzulassen. Der geringe Aufwand, diese albernen, hingestreuten Seeknochen selbst auf den Satellitenbildern später wieder vergessen zu können.
Zum Abschied aus Puerto Triunfo, in den achtziger oder neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, wünschte ich mir, dass Juans Vater aus einem Helikopter einen weißen Hometrainer über dem Strand von North Sentinel abwerfen lassen und das sich anbahnende Schauspiel mehrere Tage von einem Fischerboot aus, das sich in einem gehörigen Abstand zum Ufer befand, mit einer Videokamera festhalten sollte. Da diese Insel seit neunzehnhundertsechsundneunzig von der indischen Marine und Polizei überwacht und durch ein offizielles Kontaktverbot geschützt wurde, war es kaum möglich, in die Sperrzone von drei Kilometern um diese Insel herum einzudringen. Vier Jahre vorher war die Welt noch eine andere. Mark Spitz kehrte mit einundvierzig Jahren noch einmal ins Wettkampfbecken zurück, um sich für die Olympischen Spiele in Barcelona zu qualifizieren. Er war noch immer in bester körperlicher Verfassung, aber für die Spiele in Spanien reichte es einfach nicht mehr, nur noch für das Abtrainieren in Freizeitanlagen oder in den seichten Küstengewässern an den Stränden des letzten Steinzeitvolkes der Erde. Türkisblaues Beckenwasser mit treibenden Kokosnüssen. Vierundzwanzig Jahre früher war die Welt noch eine andere. Mark gewann sieben Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen, stellte dabei jeweils einen neuen Weltrekord auf, während eine indische Regierungsdelegation versucht, einen freundschaftlichen Kontakt zu den Ureinwohnern herzustellen, und am Strand von North Sentinel zwei Schweine und eine Puppe hinterlässt.
Die entflohenen schwarzen Sklaven stellen zu jener Zeit die größte Gefahr für die Kolonisten dar. Der Höhepunkt unserer Festspiele ist immer die Ausstrahlung der mehrteiligen Fernsehserie »Die Abenteuer des Sir Francis Drake« auf einer Kinoleinwand am Strand zwischen den Palmen. Von den dreizehn Episoden, die neunzehnhundertsiebenundsechzig in der ARD ausgestrahlt wurden, schafften es immerhin sechs Folgen neunzehnhundertfünfundsiebzig in das DDR-Fernsehen. Claasen ist zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. Segelte die Golden Hind unter vollen Segeln in unsere Wohnzimmer und schoss eine Breitseite ab, sonntags gegen fünfzehn Uhr, wollten wir alle Diego, Drakes Sklave, sein. Eine Wahl der Episoden kann erst nach Wahl der Sprache erfolgen, aber in umgekehrter Reihenfolge. Uneingeschränkte Kaufempfehlung für Chemiearbeiter und Hundebesitzer. Neunzehnhundertfünfundsiebzig war überhaupt ein gutes Jahr für die DDR-Führung. Denn es gab auch »Die Männer von Saint Malo«. Die Franzosen, die in dieser Serie ein Jahrhundert später in Saint-Malo und in der Karibik auf den Weltmeeren gegen die Engländer und Spanier kämpften, hatten ebenfalls gute Piraten. Nicolas de Coursic war unser zweiter Held, falls zum Fasching zu viele von uns als Francis Drake gehen wollten. Die erste Folge war Anfang November an einem Montag zu sehen. Die Golden Hind war die Sémillante, aber in umgekehrter Reihenfolge. Die kleinste Revolution konnte daher in den nächsten sechs bis zwölf Wochen nur an einem Dienstag beginnen. Neunzehnhundertfünfundsiebzig war überhaupt ein gutes Jahr für unsere Eltern. Samstags gab es Zitronentörtchen von Gager, an den Sonntagen lief Francis Drake, und montags nannten wir uns Nicolas de Coursic, aber nur, wenn diese Serie da draußen auch bekannt war.
Das Zerreissen alter Briefe aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Auf diesem Bild hier bin ich fünf Jahre alt. Der Schatten über meinem Gesicht gibt sich die unbändigste Mühe, frei zu sein von Zauber. Zwanzig Jahre später sind meine Mama und ich zusammen auf dem Leipziger Weihnachtsmarkt. An einem Stand mit Schnitzprodukten aus dem Erzgebirge nimmt sie einen gewundenen, etwa fünf bis sieben Zentimeter langen Schlüsselanhänger, einen Handschmeichler, zwischen Finger und Daumen. Sie bewegt sich damit auf mich zu, aber natürlich nur, um mir diesen Schatz zu zeigen, etliche Millionen Meter vom Strand entfernt. Wir fliehen durch die Menge. Scharfschützen auf allen Dächern der Umgebung. Phantombilder an Litfaßsäulen. Sachdienliche Hinweise der Bevölkerung. Zeugenaussagen von Touristen. Auswertbares Überwachungsmaterial vom Weihnachtsmarktbetreiber. Mit meiner Hilfe ist meine Mama über viele Jahre die meistgesuchte Frau Deutschlands, amerikanische Außenministerin, eine hochdekorierte Mathematikerin und die ständige Geliebte von Richard Gere. Mit meiner Hilfe kostet eine Briefmarke in ihren Augen über eine Million. Wenn ich sie nicht einmal beim Telefonieren zum Lachen bringe, verliere ich meine Zulassung als Geschwistertier.
Eine weisse, erstarrte, unbezwingbare Kreatur am Strand. Schiffsteile einer Hirschkuh. Tierkonstruktion eines Podests. Eisenproviant für mehrere Monate. So schwer wie ein winziges Schwein. Abgeworfen aus einem mit Pfeilen beschossenen Helikopter. Ratlose Krieger am Ufer. Es gibt Handsensoren für die Pulsmessung und Qualitätskugellager für größtmögliche Laufruhe. Durch den Aufprall im Sand liegt der schwere Kadaver beinahe unverrückbar vor ihren Füßen. Die Belastungsbandbreite ist in siebzehn bis fünfundzwanzig Intensitätsstufen unterteilt. Sie versuchen mit bloßen Händen, das schwarze, verfaulte Teil des Geweihs, das gerade noch so aus der Erde ragt, abzubrechen. Jedenfalls sieht es auf dem Mitschnitt so aus. Die Maschinen variieren je nach Ausführung. Ihre Erregbarkeit nimmt zu, nachdem sie mit ihren Steinäxten am Bauch nicht weiterkommen. Modernste technische Features für einen gelenkschonenden Bewegungsablauf. Sie treten mit ihren Fußsohlen und Hacken gegen den kleineren, verdorbenen Geweihrest in der Mitte, der sich bewegen lässt. Wir können auf den Filmaufnahmen zwar nicht erkennen, ob sich der Pedalzusatz dreht oder ob sie nicht doch mit ihrem Spann zuerst auf den fremden Körper trafen. Hochwertige Magnetbremssysteme. Aber wir haben die Hoffnung, dass ihnen diese technische Raffinesse nicht entgeht. Integrierte Transportrollen. Denn alles, was sich bewegt und sich nicht ohne Weiteres von einem Dreh-Arm lösen lässt, geht selbst an einem Urvolk nicht spurlos vorüber. Zweifarbig beleuchtete LC-Displays. Aggressivität und Spiel. Ablagemöglichkeit für Holz und Steine. Zufriedenes Ausrollen der Jagdsaison. Wie lange sollen wir denn noch warten, bis sie endlich versuchen, diesen Gegenstand aufzurichten, um ihn zu besteigen, zu demütigen, zu besiegen, um ihn auf ihre Art dingfest zu machen. Schnellwahltasten für alle Programme. Wie lange denn noch. Leider keine Berg- und Talprofile. Wenn sie das Ungetüm doch wenigstens ins Wasser zerren würden. Reduzierung auf die wesentlichen Funktionen. Dieses Video ist für uns kaum zu ertragen. Wie blöd muss man denn sein. Wir sollten uns endlich wie normale Menschen benehmen. Mir reicht es jetzt. Ich steige aufs Rad. Die Straße ist feucht. Die Angst, sich bei dieser hohen Geschwindigkeit mit dem Lenker an einem herunterhängenden Kameragurt zu verhaken, ist enorm. Es ist nahezu unmöglich, die Inselrundfahrt komplett abzusichern. Mir ist klar, dass es von Beginn an Attacken geben wird. Wie groß die Risikobereitschaft bei den Anwärtern auf den Gesamtsieg ist, wird sich dann erweisen. Die Wälder sind hier wilder und unkontrollierter als zu Hause. Meine Augen tränen noch immer. Ich atme durch das Trikot. Ich sehe die Straße nicht, keine Kurven und Spitzkehren. Ich fahre nach Gefühl. Die Übersetzung stimmt so weit. Krieger und Kanus am Strand. Ich habe die vier Europaletten neben meiner Maschine übereinandergestapelt, damit mir aus dem Begleitfahrzeug meines Teams Getränke und Energieriegel gereicht werden können. Unser Mannschaftswagen ist perfekt ausgestattet. Digital-TV. Eine Freisprechanlage für mehrere Handys. Navi-Display. Vier Funkkanäle. Einen Kanal für das Tour-Radio. Einen für die Gespräche mit den Fahrern aus dem eigenen Rennstall. Einen für das Personal und einen, um per Suchlauf die Kommunikation der Konkurrenz mitzuhören. Das sieht man dem Auto von außen gar nicht an. Auf dem Dachträger neun Bikes. Vier komplett aufgebaut, die restlichen ohne Vorderräder. Meine Ersatzmaschine ist hinten rechts montiert, dort, wo der Mechaniker den Standstreifen nutzen kann und am schnellsten Zugriff hat. Wenn er nicht bald die Scheibe schließt, wenn sich unser Mannschaftswagen nicht bald wieder zurückfallen lässt, haben die Stammeskrieger alles gekriegt, was sie wollten. Ich schwitze. Ich fahre. Ich gebe nicht auf.