Wolf hat einen strengen Wochenplan entworfen, um den Tagen Struktur und Würde zu verleihen. Sämtliche Dorfbewohner nehmen daran teil, um den Anschluss an die reale Welt nicht zu verlieren. Montags dient ein ausrangierter Bauwagen als U-Bahn-Waggon, in dem zehn Menschen Platz finden. Zwanzig Einwohner stehen etwa zehn Meter entfernt an einer Linie und stürmen nach einem Tonsignal in das Gefährt. Die sieben bis zehn Menschen, die es nicht in das Abteil geschafft haben, simulieren durch ein starkes Rütteln am Waggon das Losfahren bis ins Stadtzentrum.

Verlassen von Briefen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Zandschow, erster September. Die Hitze ist ein Meisterwerk. Ihr Themenpark verliert an Gewissheit, klemmt die Landschaftsnerven ab. Eine Welt ohne Mutter. Das Brodeln und Rasseln subkutaner Niederlassungen. Schwäne. Schwäne. Die Schwäne. Die Schwäne. Schwäne über Schwäne. Die Schwäne über die Schwäne. Wir haben die Türsteher vor den Gewächshäusern angewiesen, bei zu hohen Temperaturen häufiger die Passwörter zu wechseln. Jupp die Geige. Du Bursche. Ich weiß, deine Sendung fängt gleich an. Hier wäre sonst auch noch Brot. Montags dient ein ausrangierter Bauwagen als U-Bahn-Waggon. Ein Waggon. Ein gelb angestrichener Waggon. Ein Zugwaggon. Was spielt das schon für eine Rolle. Aber nicht auf Schienen. Schienen. Schienen. Die Schienen. Die Schienen. Schienen über Schienen. Die Schienen über die Schienen. Gruber, Hillert, Benter, Teschi, Dettel, Ricky, Mädel, Digger, Mimi, der kleine und der große Grabosch, Li, Bolo, Jerry, Körperchen, Cloud, Sig und Pampel sind nur einige von uns, die es in den Waggon schaffen wollen.

Zandschow, zweiter September, wir traten an der Linie an, alle. Gruber, sein ehemaliger Kollege, nannte ihn Ricky Rabowski. Er war weder ein Zuhälter noch ein Mädchenhändler. Er trug kein Handgelenktäschchen. Gewöhnlich lief er aber mitten auf der Straße, um auf dem Gehweg nicht in Hundescheiße zu treten. Morgens fuhr er mit der Elektrischen zur Schicht. Er diente als Vorarbeiter in einer Gießerei und kutschierte die Metallstücke, die nicht mehr gebraucht wurden, in einer Lore über das Betriebsgelände. Kam er nach der Arbeit nach Hause, rüttelte er sekundenlang an der Klinke, um sich zu vergewissern, dass die Tür während seiner Abwesenheit auch wirklich verschlossen geblieben war. Falls sie jemals offen stehen sollte, würde er niemals durch den sich weitenden und wieder schließenden Spalt in den Flur spähen und so lange an der Klinke rütteln, bis er sicher wäre, dass die Tür während seiner Abwesenheit doch verschlossen gewesen war. Gott sei Dank war das noch nie der Fall. Entweder sie war von Anfang an zu, oder sie war nur am Anfang und am Ende offen. Als er sich vor ein paar Jahren für diese Wohnung entschied, hatte sie noch keinen Balkon. Sie lag im ersten Stock. Ein paar Wochen nach seinem Umzug standen dann Gerüste am Haus, um solch eine Plattform auch an seiner Wohnung zu befestigen. Sein Vater riet ihm, keinen Wanddurchbruch für eine Terrassentür zu genehmigen, aus Angst, ein paar Ukrainer oder Albaner könnten über diesen Weg in seine Behausung gelangen. Sein Balkon war nur von der Hofseite aus von Ukrainern und Albanern zu benutzen, die sportlicher waren als Gruber und er. Einmal besuchte ihn sein Vater in der Metallbude. Den Trabant hatte er auf der Straße mit einer Lenkradkralle gesichert und vorsorglich auch noch eine Zündkerze ausgebaut. Sein Besuch dauerte nur wenige Minuten. Er komme Ricky doch nicht besuchen, um sich von irgendeinem Dahergelaufenen seinen PKW Trabant klauen zu lassen, sagte der Vater zu seinem Sohn, als der ihm gerade die Wandaushänge mit den neuen Azubis zeigen wollte. Er hatte noch nie reingehalten. Ricky verfügte über einen Fachschulabschluss als staatlich geprüfter Techniker in Stahl- und Metallbau. Seine Armeezeit war nach ein paar Wochen beendet gewesen. Er hatte insgesamt vier Rudotel-Tabletten geschluckt, dem UvD die leere Medikamentenschachtel gezeigt und sich im Med.-Punkt den Magen auspumpen lassen. Er hatte zwei Nächte durchgeschlafen. Hätte er gewusst, dass sie ihm nach dem Einwerfen von Pfefferminzdragees den Schlauch durch den Hals jagen würden, hätte er wohl sicher die gesamte Armeezeit absolviert. Er hatte noch nie im Leben reingehalten. Rabowski hatte den Wahn, niemanden auf seine Toilette lassen zu können. Den Bauarbeitern, die ihm eine neue Duschkabine einbauten und dafür etwa vier bis fünf Stunden benötigten, gab er zwanzig Euro schon allein dafür, dass sie zum Urinieren oder Scheißen über die Straße in die Gastwirtschaft gingen. Er hatte noch nie in seinem Leben reingehalten. Es ergab sich einfach nie. Er war 54 Jahre alt, dick und sehr glücklich. Seine größte Freude bestand täglich darin, nach der Schicht bei Möbel Porta ein Rindersteak zu essen. Er ernährte sich fast ausschließlich von Fleisch, Joghurt und Pepsi Wild Cherry Cola aus Amerika. Rabowski trank fast nichts anderes mehr. 48 Dosen ohne Versandkosten für nur 69,12 Euro. Sein Americanfood-4-u-Team schickte ihm sogar einen Link, damit er die Stationen des Pakets jederzeit online nachverfolgen konnte. In Levenhaug war es demnach zu einem unvorhergesehenen Zwischenstopp seiner Lieferung gekommen. Ein Zwischenstopp bedeutete ja auch immer eine Temperaturverschleppung an den Rändern der Trinkbehälter. Die Angst, die Lieferung wäre in der Zeit der Dosendämmerung im leicht zu öffnenden Transporter unbeaufsichtigt. Ricky durfte gar nicht daran denken. Seit einiger Zeit hatte er den Wahn, das Wohnzimmer nicht mehr benutzen zu können, da die Wände zur Nachbarwohnung zu dünn waren und er der schönen Schwester von der Herzstation beim Reinhalten zuhören konnte. Mittwochs musste sie immer erst gegen Mittag aus dem Haus. In seinem Schlafzimmer stand jetzt alles, was er brauchte. Das Bett, ein Fernseher und ein Stuhl. Auf Youtube sah sich Rabowski alle Ruhrpottstreifen mit Schimanski an. Dessen M-65 Giant Regiment-Jacke in Beige gab es leider nicht in Rickys Größe. Er hatte den Wahn, seine Küche, das Geschirr und das Besteck schonen zu müssen. Grubers Ex-Kollege aß kniend auf dem Teppich über eine Mülltüte gebeugt, verursachte auf diese Art und Weise keine Krümel auf dem Fußboden. Der neue Golf, den er sich gekauft hatte, stand, mit einer Lenkradkralle versehen, in einer seiner drei Garagen. Bevor er mit ihm fuhr, schonte er ihn erst mal sieben Jahre und verkaufte ihn dann wieder. Rickys Lieblingsauto war ein dreißig Jahre alter Volvo, den er nie bewegte. Er stand in seiner zweiten Garage, etwas außerhalb von Levenhaug. An den Wochenenden waren eh immer zu viele Insekten unterwegs, sodass eine Ausfahrt von Freitag bis Sonntag ohnehin nie in Betracht kommen würde. Rabowski hegte einen ungeheuerlichen Verdacht, was die beiden Hunde der Nachbarin betraf. Gruber behauptete gar, sie hätten neulich, als ihm einmal der Schlüssel aus der Hand fiel, geschwind ein Stück Lehm an die Stelle geschoben, wo der Schlüssel auf den Boden traf, und hätten mit dem entstandenen Abdruck einen Nachbau dieses Öffners veranlasst. Obwohl er sofort das Schloss auswechselte, konnte sich Ricky des Eindrucks nicht erwehren, dass die Hunde heute bei ihm im Schlafzimmer geraucht haben könnten. Außerdem stand die Heizung nicht auf zwei, als er das Haus verließ, sondern auf drei. Zu Hause trug er nur eine kurze Schlafanzughose. Sein freier Oberkörper war nichts für Ahnungslose. Wenn Ricky the Man im Spiegel seine Figur sah, hatte er den Wahn, eine Magenverkleinerung durchführen lassen zu müssen. Der Antrag lief seit etwa fünf Jahren. Immer kurz vor dem Eingriff sagte er den Termin ab. Er schaffte es nicht mehr. Er schaffte es einfach nicht mehr. Früher waren die Zeiten schöner. Jeden Abend besuchte ihn Roxana, und sie aßen zusammen zwanzig oder sechzehn Brötchenhälften. Wenn Ricky tatsächlich mal mit dem Auto fuhr, hielt er plötzlich an, stieg aus, lief um das Fahrzeug herum und schaute nach, ob er was verloren hatte. Er war ein Leben lang ohne Alkohol ausgekommen, hatte noch nie Drogen genommen oder reingehalten. Einmal war Rabowski in einer Beziehung, die fast ein halbes Jahr ging. Sie hieß Jacqueline Huschert. Die beiden trugen, laut Gruber, beim Sex lediglich ihre Schlüpfer. Immer die gleiche Stellung. Ricky legte sich auf die Couch, und Jacqueline setzte sich auf ihn rauf. Weil sie stöhnte, stöhnte er dann auch. Das kannte er aus Filmen so. Mehr gab es nicht. Ein halbes Jahr lang. Mehr nicht. Während sie sich liebten, hörten sie immer Angel of Mine von Frank Duval aus dem Kassettenrekorder. Gruber meinte, dass damit die Bedingungen für den ersten und einzigen Sex in Rickys Leben mehr als deutlich gegeben waren. Rabowski hatte sich immer nur die schönsten Frauen ausgesucht. Seit elf Jahren war er jetzt schon mit Amanda zusammen. Sie saß unschuldig ein. Sie hatten sich noch nie gesehen. Aber eine Frau, die so schön war, konnte keine Mörderin sein. Ansonsten zog er sich stundenlang Tennis im Fernsehen rein. Wenn man ihn fragte, warum er jetzt immer öfter seine Backen aufpumpte und die Lippen aufeinanderpresste, antwortete er, dass er auf diese Weise nichts Böses mehr rufen könne. Die Angst, unbemerkt und ahnungslos seine Nachbarin so unflätig wie nur möglich zu beleidigen, war einfach zu groß. Zum Schlafen trug Rabowski immer eine Maske. Sie sah aus wie eine Badekappe, an deren Unterteil eine Plastikausstülpung mit Schlauch angebracht worden war. In den Nächten blieb er seitdem ohne Atemaussetzer. Würde er das Bild seines Kopfes in der Badekappenmaske einem Erholungsmagazin anbieten, wäre die Welt in Rickys unmittelbarer Region sofort dazu bereit, sich auf einen möglichen Militärschlag mit Giftgas vorzubereiten. Beim Treppensteigen unterließ er dieses Spiel mit den aufgepumpten Backen immer öfter, da er so schon kaum Luft bekam vor lauter Anstrengung. Wenn er Urlaub hatte, buchte sich Grubers Ex-Kollege eine Fahrt mit dem Flixbus nach Berlin und besuchte den Bratwurststand von Konnopke an der Schönhauser Allee. Weil die Nachfrage an den Sonntagen größer war als an den Montagen, nahm der Imbissbesitzer jetzt immer am ersten Tag der Woche frei. Alles in allem führte Ricky ein glückliches Leben, hatte die besten Freunde der Welt und wusste nicht, warum alle immer so viel rumjammerten. Seinen Vertrag mit Sky konnte er auch innerhalb der angekündigten vierzehn Tage nicht wieder rückgängig machen. Einmal Sky, immer Sky. Seine Nachbarin versah seine Türklinke jetzt immer öfter mit Tomaten und Gurken aus eigenem Anbau. Gruber meinte zu ihm, dass die Gurken oder die Tomaten etwas zu bedeuten hätten. Ricky würde sich ja gern bei ihr dafür auf seine Art bedanken, aber die wilden Jahre waren einfach vorbei. Nach dem Tod seiner Eltern gab er seinen Job in der Metallbude auf und zog nach Zandschow, weil er dort ein billiges Häuschen erwerben konnte. Die Eltern hatten ihm etwas Geld vererbt, sodass sein Lebensabend gesichert war. Ricky war eine Seele, aber nicht nur, weil er Wolf an bestimmten Wochentagen beim Abladen der Getränke half. Niemand durfte ihn zu Hause besuchen. Der Luftwiderstand beim Öffnen seiner Tür gehörte nur ihm. Er wollte ihn schonen und wäre nie auf die Idee gekommen, dass die alte Luft bei jedem neuen Eintreten in das Haus schon längst über alle Berge war.

Zandschow, sechzehnter September, wir traten an der Linie an. Wolf gab das Zeichen. Er feuerte seine Schreckschusspistole ab. Wir stürmten den Waggon. Zwölf von uns gelangten in das Innere. Wir quetschten uns auf den Bänken zusammen. Die Türen gingen automatisch zu. Acht von uns hatten mindestens schon einmal im Leben darüber nachgedacht, dass der Zug nur deshalb anfuhr, weil wir auf den Sitzen hin und her ruckelten, wenn die Abfahrtszeit nur um Sekunden verstrichen war. Fehlende Durchsagen auf den Bahnsteigen in Oldenburg und Sande. In Rastede musste etwas auf den Gleisen gelegen haben. Die acht Zandschower draußen wollten uns das Gefühl vermitteln, dass sie auf ihre gehässige Art machtlos waren gegen die Mitschuld der Niederschläge. Natürlich könnte auch Unrat auf U-Bahn-Gleisen gelegen haben. Kommt mir bloß nicht blöde. Es gibt Unrat aus der Luft oder Unrat, der sich aus den spröden Biegungen der Tunneldecken herauskristallisieren kann. Unrat ist Unrat. Es ist nie vorhersehbar, woher er kommt. Die Säugeleisten der Züge sind auch nicht gerade für lose Mechaniken an der Bauchseite bekannt. Die ersten Herbststürme waren über Norddeutschland hinweggezogen, ob wir nun in einem U-Bahn-Waggon saßen oder nicht. Nach etwa fünfundvierzig Minuten Fahrt sollte jeder mit seiner rechten Hand unter die Bank greifen. An einer Stelle war mit Klebeband ein Zettelchen befestigt, auf dem das Ziel der Reise notiert war. Wer das Papier in den Händen hielt, der durfte Reiseleiter sein. Ausnahmsweise hatte es keine Frau in das Abteil geschafft. Heute ging es in die Hauptstadt. Wir waren alle sehr aufgeregt. Die Fahrt würde knapp vier Stunden dauern. Über Hude und Nienburg. Die acht Zandschower draußen klärte Wolf nach etwa zwei Stunden, während eines witterungsbedingten Zwischenhalts, über die restliche Fahrtzeit auf. Es war völlig ausgeschlossen, die Rückreise aus der Hauptstadt ohne Erdnussflips anzutreten. Wie würden wir sonst vor unseren Freunden und Familien dastehen. In einer Drogerie hatten wir uns alle einen Proviant aus Watte zugelegt. Niemand verließ während des Stadtrundgangs die Gruppe. Zurück im Abteil öffneten wir die Fenster, löschten das Oberlicht und breiteten die Wattebäusche auf dem Boden und auf den Bänken aus, denn die Flips sollten kühl, dunkel und trocken gelagert werden. Nur der Reiseleiter durfte darüber befinden, ob und wer eine der Tüten zu öffnen hatte. Diese Person kam mit ernst zu nehmenden Verlusten in die Heimat zurück. Ausnahmsweise hatte es keine Frau an diesem Montag in das Abteil geschafft, oder sah jemand von euch Dettel, Mimi, Teschi, Jerry, Mädel, Li, Körperchen oder Cloud in unserem Abteil. Na also. War die Tüte erst einmal geöffnet, musste der Inhalt rasch verzehrt werden, da den Flips nachgesagt wurde, sofort ihre zerstiebenden, süchtig machenden Eigenschaften zu verlieren, sobald sie nur die geringste Feuchtigkeit aus der Umgebungsluft gezogen hätten. Nicht mal die Nachbarschaft der anderen Flips im Handgepäck reichte aus, um den anhaltenden Stolz der starren, unbiegsamen Würmer in der Verlierertüte zu garantieren. Fuhr der Zug überhaupt schon, oder war es der Zug auf dem Nebengleis. Wir hatten zwei Stunden lang vergessen, überhaupt in einem Waggon zu sitzen, so sehr waren wir mit unseren Geschenken aus der Hauptstadt beschäftigt. Kein Ruckeln. Keine Äste auf den Gleisen. Die Stationen veralteten in der Dunkelheit. Kein Unrat von oben. Stabile Säugeleisten auf dem Weg in die Heimat. Selbstvergessene Kristalle an den spröden Biegungen der Tunneldecken. Kein Unrat von der Seite. Eines aber hatten alle diese Frauen gemeinsam.