Kapitel 17
Nur noch einen Tag länger
An Schlaf war nicht zu denken in jener Nacht. Ich hielt Kiddo in den Armen und schwelgte in einem wundervollen Gefühl, das tief in mir glühte und mich gleichzeitig einhüllte wie eine warme, kuschelige Decke. Es kam dem Gefühl von Liebe wahrscheinlich näher als alles, was ich seit Jahren gefühlt hatte, und machte mir ein bisschen Angst. Aber ich wollte nicht, dass es aufhörte, und ich weigerte mich, diese kostbaren Momente an Schlaf zu vergeuden.
Ab und zu gab das zauberhafte Wesen in meinen Armen ein leises Stöhnen von sich oder murmelte im Schlaf etwas Unverständliches. Er schlief unruhig. Jedes Mal, wenn er sich rührte, streichelte ich sein Gesicht und drückte sanfte Küsse auf seine Stirn. Oder ich nahm seine Hand, küsste seine Finger und flüsterte beruhigende Worte, bis er seufzte und sich in meinen Armen entspannte.
Es funktionierte jedes Mal, und dass ich das für ihn tun konnte, machte mich so lächerlich glücklich, dass ich einen dicken, fetten Kloß in der Kehle bekam.
Aber schließlich holte auch mich das Auf und Ab dieses längsten Montags aller Zeiten ein. Mein letzter Gedanke, bevor ich in einen traumlosen Schlaf sank, war, dass Kiddo tatsächlich der erste Mann war, dem ich je erlaubt hatte, hier über Nacht zu bleiben. Und wie seltsam es war, dass weder er noch ich uns im Geringsten vorhersehbar verhalten oder reagiert hatten, seit wir uns begegnet waren. Dann gingen in meinem Kopf die Lichter aus.
Das Erste, was ich beim Aufwachen bemerkte, war, dass ich mich im Schlaf von ihm weggedreht hatte und er sich von hinten an mich schmiegte, praktisch von Kopf bis Fuß. Löffelchenstellung.
Zweitens lagen seine Finger locker um meinen Hals, als gehörten sie dort hin.
Und drittens telegraphierte mein Hintern mir, dass Kiddo eine beeindruckende Morgenlatte hatte.
Mir gefiel alles drei. Mir gefiel sogar das Kribbeln in meinem Nacken, wo meine Haut von Kiddos warmem Atem feucht geworden war. Mir wurde bewusst, dass ich in meinen zweiundvierzig Jahren noch nie auf diese Weise aufgewacht war, und es überraschte mich, wie sehr ich die Intimität dieses Moments genoss.
Leider aber war meine Blase von all dem überhaupt nicht beeindruckt und verlangte vehement meine Aufmerksamkeit. Ein Blick auf meinen Digitalwecker zeigte mir, dass es 8:42 morgens war. Ich rutschte ein wenig hin und her, aber es hatte keinen Sinn. Ich musste pinkeln.
So vorsichtig wie möglich löste ich Kiddos Finger von meinem Hals und schlüpfte langsam unter seinem Arm heraus. Er stöhnte ein wenig, aber ohne wach zu werden, und es gelang mir, mich auf die andere Seite zu rollen. Dann legte ich seinen Arm zurück auf die Matratze.
Sobald ich aufrecht saß, verpuffte die Magie. Ohne die Wärme seines Körpers kühlte auch das wunderbare Gefühl ab, und ich fühlte mich ernüchtert.
Was zum Teufel machst du hier eigentlich, Wegener?
Ich sah hinab auf Kiddos schlafendes Gesicht. Seine makellosen Züge waren friedvoll, entspannt, die dunklen Augenringe fast verschwunden. Nur die blonden Locken waren zerzauster als je zuvor. Drei einzelne Strähnen, die auf seiner Stirn lagen, hatten sich zusammengetan, um jedes Mal, wenn Kiddo ausatmete, eine Art La-Ola-Welle aufzuführen. Und ich bemerkte einen kleinen, feuchten Fleck auf dem Kopfkissen, wo Kiddo offenbar ein bisschen gesabbert hatte.
Wie sehr ich mich auch bemühte – ich fand keine Spur von dem Mann, der mich nur wenige Stunden zuvor fast um den Verstand gebracht hatte. Alles, was ich in diesem Moment sah, war ein schlafendes Kind. Auch wenn besagtes Kind bei näherem Hinsehen durchaus eine Rasur gebrauchen konnte.
Aber was hatte ich mir nur gedacht, so in Schwärmerei zu verfallen? Das hier war nicht das kleine, unartige Abenteuer, das ich mir vorgestellt hatte, als ich am Freitagabend in Waggon Nummer drei eingestiegen war. Es war etwas vollkommen anderes. Er war vollkommen anders.
Kiddo war nicht die Art sorgloser junger Hüpfer, der das, was zwischen uns passiert war, als etwas nehmen würde, um damit später bei seinen Kumpeln anzugeben. Und für was er diese Sache zwischen uns auch immer halten mochte, er war auf jeden Fall schon auf der falschen Fährte, was mich betraf… was uns betraf.
Das Zeug in seinem Notizbuch ( Tagebuch!) und, oh Gott, die Sachen, die er zu mir gesagt hatte, als wir nackt nebeneinander im Bett lagen. Was, wenn er das hier fälschlich für den Beginn einer Beziehung hielt? Ein so ernsthafter Junge wie er. Ich musste die Dinge richtigstellen, aber … wie sollte ich ihn nun wegschicken, ohne sein Herz zu brechen? Oder meins? Moment – mein … was?
Mir wurde die Kehle eng. Plötzlich konnte ich nicht mehr richtig atmen. Meine Brust zog sich zusammen, und mein Herz schien einen Trommelwirbel vollführen zu wollen. Ich brauchte Luft; in diesem Raum gab es keinen Sauerstoff! Ich hob meinen Bademantel vom Boden auf und rannte blindlings aus dem Zimmer und zum Balkon.
Ich kann nicht atmen …
Ich riss die Balkontür auf, und warf mir den Bademantel um die Schultern, während ich hinausstolperte. Dann stand ich da, umklammerte das Balkongeländer und schnappte verzweifelt nach Luft.
Ich kann nicht atmen …
Kleine, weiße Wölkchen bildeten sich vor meinen Lippen und lösten sich in der kalten Morgenluft auf – sie waren der Beweis, dass ich in der Tat atmete. Zweifelsfrei bewegte sich Luft in meine Lungen und kam auch wieder heraus. Aber …
Ich kann nicht …
Der Kloß in meiner Kehle brannte heiß und drohte mich zu ersticken. An den Rändern meines Gesichtsfelds waberten schwarze Nebel, die sich immer enger zusammenzogen, und plötzlich war ich wieder…
… ein Kind, eng zusammengekauert auf dem Dachboden meines Elternhauses. Ich schluchze und umklammere zitternd das warme Bündel in meinem Schoß. Ich habe den kleinen Streuner vor drei Tagen gefunden, einen jungen Mischling, fast noch ein Welpe. Ich habe ihn Boomer getauft.
Ich verstecke ihn auf dem Dachboden, ich füttere ihn, ich streichle ihn. Ich schenke ihm bedingungslos mein ganzes, zehn Jahre altes Herz. Heute Morgen hat Papa ihn gefunden und die Worte gesagt, die meine ganze Welt zum Einsturz brachten.
„Wir können den Hund nicht behalten, Jan, das weißt du doch, oder? Sei ein großer Junge. Du musst ihn wieder hergeben. Heute Abend nach der Arbeit bringe ich ihn ins Tierheim.“
Ich bin am Boden zerstört; mein Herz ist gebrochen, und das Brennen in meiner Brust raubt mir den Atem. Boomer leckt meine zitternden Hände, sein Fell ist von meinen Tränen durchtränkt. Ich liebe ihn so sehr. Und er liebt mich ebenfalls, so wie kein lebendes Wesen mich je zuvor geliebt hat. Ich schluchze wie eine kaputte Schallplatte: Ich kann nicht … ich kann nicht … ich kann nicht …
„Ich kann nicht …“ keuchte ich hilflos. Meine Knöchel waren weiß; ich umklammerte das Geländer, als ginge es um mein Leben. Und genauso fühlte es sich auch an.
„Jan … Jan !“
Wie aus dem Nichts trieb Kiddos Gesicht in die stecknadelkopfgroße Öffnung, die alles war, was ich im Zentrum der Schwärze noch sehen konnte. Ich fühlte seine Hände an meinen Wangen. Seine Lippen bewegten sich – redete er mit mir? Was sagte er?
„Sieh mich an, Jan, okay?“
In einem Versuch, die schwarzen Wolken in meinen Augen loszuwerden, schüttelte ich heftig den Kopf.
„Nein, nein, nein. Augen hierher ! Sieh auf meinen Mund. So ist es gut. Und jetzt mach genau das, was ich mache.“ Er schürzte die Lippen und tippte mit seinem Zeigefinger dagegen.
Ich starrte verständnislos auf seinen Mund. Was Kiddo machte, sah aus, als würde er auf einen Löffel heiße Suppe pusten. Wie auf Autopilot machte ich ihn nach und spitzte ebenfalls die Lippen.
„Ja, genau so. Gut. Lass deinen Mund so. Und jetzt atme, ein und aus. Ja, so ist es richtig. Schnütchenatmung.“
Aber ich kann nicht …
„Es ist alles gut, Jan. Gleich wird es besser. Nein, nein, nein – nicht wegsehen, bleib bei mir. Konzentrier dich! Okay, atme einfach mit mir zusammen. Aber mach nicht den Mund weiter auf, okay?“
Den Mund nicht weiter aufmachen? Scheiße, aber ich ersticke!
„Ich kann nicht. Ich kann nicht atmen“, krächzte ich tonlos.
Er rieb nun beruhigend meine Schultern und Oberarme. „Nein, du machst das toll, wie ein Profi. Einfach so weiteratmen. Es ist in einer Minute vorbei. Spürst du es schon?“
Das tat ich. Es funktionierte wirklich. Endlich hatte ich das Gefühl, dass wieder Sauerstoff in meinen Körper gelangte.
„Du hattest eine Panikattacke, Jan. Was ist passiert? Hast du schlecht geträumt? Geht es jetzt wieder?“
Mir war immer noch schwindelig, und ich brachte nur ein Nicken zustande. Ja, ein schlechter Traum. Und ja, es ging wieder. Gott sei Dank.
„Okay.“ Er hörte auf, meine Oberarme zu rubbeln, und rieb stattdessen seine eigenen, die er jetzt vor der Brust gekreuzt hatte. Seine Schultern hoben sich, bis sie fast seine Ohren berührten, und er grinste schief. „Können wir dann jetzt wieder reingehen, was meinst du? Es ist ein bisschen frostig hier draußen.
Nun, da sich der schwarze Nebel aufgelöst hatte, sah ich, dass Kiddo nur bedeckt von einem Handtuch und reichlich Gänsehaut zu meiner Rettung gekommen war. So sexy. Ich konnte ihn nicht hergeben. Jedenfalls noch nicht jetzt.
Was spricht dagegen, ihn noch ein wenig länger zu behalten? Falls er noch etwas bleiben mag? Wir sind schließlich beide erwachsen , verhandelte ich mit mir selbst, immer noch etwas verwirrt nach meinem seltsamen Anfall.
„Ich sollte dir deine Sachen holen“, antwortete ich abwesend, machte aber keine Anstalten, mich vom Fleck zu bewegen.
„Okay, komm her.“ Er griff nach dem Schalkragen meines Bademantels und half mir liebevoll, in die Ärmel zu schlüpfen, dann wickelte er den großen Kragen fest um meinen Hals und meine Schultern. Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle herunter. „Na, siehst du“, murmelte Kiddo, nachdem er mich zu seiner Zufriedenheit eingepackt hatte, und lächelte mich an.
Ich musste eine Träne wegblinzeln.
Echt jetzt, Wegener?
Wann hatte ich mich in einen derart sentimentalen Loser verwandelt?
Kiddo nahm meine Hand, und wir gingen hinein und schlossen die Balkontür hinter uns.
Nur noch einen Tag länger. Nur noch heute, dann lasse ich ihn gehen.
Er folgte mir schweigend zum Badezimmer, wo ich seine Sachen aus dem Wäschetrockner holte, sodass er sich anziehen konnte.
Nur noch einen Tag. Heute Abend rede ich dann mit ihm .
Ich war schon fast wieder ich selbst. „Scheiße, ich weiß nicht, wieso ich gerade so ausgerastet bin. Danke für … was immer du da gemacht hast … für deine Hilfe. Danke, Chris.“
Er schenkte mir ein kleines Lächeln. „Das war keine große Sache, Jan. Ich hatte früher andauernd Panikattacken. Die passieren manchmal einfach.“
„Diese Atemtechnik hat wirklich geholfen. Ich bin beeindruckt.“ Wieder einmal. „Woher weißt du solche Sachen überhaupt?“, fragte ich und verkniff mir das „ in deinem Alter“ . Auf dem Balkon hatte es sich jedenfalls nicht so angefühlt, als wäre er halb so alt wie ich. Vielleicht weil ich so tief in diese Kindheitserinnerung gestürzt war – ein Ereignis, an das ich mich vor heute Morgen nie richtig erinnert hatte. Nie. Kiddo hatte völlig selbstsicher die Kontrolle übernommen und mich wieder aus dem Loch herausgezogen.
„Ist nur ein kleiner, einfacher Trick“, antwortete er mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Worum ging es in deinem schlechten Traum?“
„Äh, ich weiß nicht. Irgendwas aus meiner Kindheit“, sagte ich vage, während ich in meinem Badezimmerschrank nach frischen Handtüchern wühlte, deutlich länger als nötig.
„Oh, okay.“ Er atmete hörbar aus. „Eine Sekunde lang hatte ich schon Angst, er wäre um mich gegangen.“
Scheiße! Ich vermied jeden Augenkontakt, als ich ihm ein Handtuch gab, und beschäftigte mich sofort mit weiterem Wühlen und Suchen. „Würdest du dich vielleicht gern rasieren?“
„Ja, wenn du einen zweiten Rasierer– warte … wieso hast du einen zweiten Rasierer?“
Argwöhnisch musterte er den Rasierer und die Sprühdose mit Rasierschaum, die ich für ihn ausgegraben hatte. Er drehte kurz den Kopf und fand auf dem Bord über dem Waschbecken das Rasierzeug, das ich täglich benutzte. Dann sah er wieder mich an.
Er war eindeutig unzufrieden mit irgendetwas. Aber was immer es war — jedenfalls lenkte es ihn davon ab, weiter über meinen Traum reden zu wollen.
„Wie meinst du das, warum ich diesen Rasierer habe?“ Ich verstand seine Frage nicht.
Er räusperte sich. „Ich meine … wem gehört er?“
Ist nicht wahr! Ist er eifersüchtig?
Ich riss die Zellophanhülle des Wegwerfrasierers auf, nahm ihn heraus und hielt ihn Kiddo hin. Er neigte den Kopf, um den aufgedruckten Schriftzug zu lesen, und seine Lippen formten tonlos: La-dy-sha-ver .
„Oh“, sagte er verwirrt. „Also wessen Rasierer ist das?“
„Jedenfalls nicht Oskars.“ Ich musste über seinen verdatterten Gesichtsausdruck lachen. „Ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass du ausreichend Gelegenheit hattest zu bemerken, dass ich an gewissen Körperstellen haarlos bin, wo Männer es normalerweise nicht sind.“
Er errötete. „Ja, ich … sicher.“
„Ich habe nicht immer die Zeit oder ausreichend masochistische Tendenzen, um mich im Salon mit Wachs malträtieren zu lassen. Ich benutze diese Wegwerfrasierer, um es zwischendurch etwas aufzufrischen.“
Er verzog leicht das Gesicht. Wahrscheinlich wegen der Vorstellung von scharfen Gegenständen oder heißem Wachs an meinen Hoden. „Dann ist es deiner. Na gut. Aber ich denke, ich lasse das mit dem Rasieren heute.“
Ich musste erneut lachen, legte aber alles schulterzuckend zurück in den Schrank. Eine Minute lang sahen wir einander nur an, und das Schweigen war ein kleines bisschen peinlich.
Dann fragte Kiddo: „Ich hab’s nicht richtig gemacht, oder?“
Wie ich sehen konnte, wurde Stirnrunzeln, Stufe eins eingeleitet. Wovon redete er?
„Letzte Nacht“, fügte er erklärend hinzu. „Als ich … war es sehr mies?“
Wow. Die War-es-für-dich-so-gut-wie-für-mich-Frage? Ernsthaft?
„Du warst wunderbar, Chris“, versicherte ich ihm, und ich meinte es so, wie ich es sagte. Aber das schien ihn nicht zufriedenzustellen. Er zündete Stirnrunzeln, Phase zwei, und die vertraute Falte zwischen sein Brauen wurde tiefer.
Dann holte er tief Luft, verengte seine grünen Augen und sagte betont: „Aber ich habe dich nicht um den Verstand gevögelt, richtig?“
Heilige Scheiße … was?
Ich keuchte unwillkürlich. Wo kam das denn her? Hatte er mein lüsternes Gefasel etwa wörtlich genommen? Und was zum Henker sollte ich dazu sagen?
Scheiße, manche Kerle waren so verdammt empfindlich, was das anging. Schwule Männer bildeten da keine Ausnahme. Ein falsches Wort, und man brauchte mindestens eine Woche, um ihre verletzte Männlichkeit wieder aufzurichten. Ihr angeschlagenes Ego aufzurichten, meine ich. Na ja, das andere vielleicht auch …
Ich zerbrach mir immer noch den Kopf über eine glaubhafte Antwort, um Kiddos zartes, jugendliches Selbstwertgefühl nicht zu beschädigen, als ich sah, wie einer seiner Mundwinkel verdächtig zuckte und sich dann zu einem einseitigen Grinsen verzog. Unterdrücktes Lachen ließ seine Schultern beben.
Dieser freche, kleine Scheißer!
Würde er jemals etwas tun oder sagen, das ich erwartete?
„Tut mir leid, dir das sagen zu müssen“, sagte ich grinsend, „aber nein – du hast mich nicht um den Verstand gevögelt. Sorry.“
Und dann brachen wir beide in Gelächter aus und gackerten hilflos mehrere Minuten lang. Wir hielten uns die Bäuche und wischten uns die Augen. Sobald einer von uns sich halbwegs wieder einkriegte, prustete der andere los, und alles begann von vorn.
Es war wunderbar, Kiddo so zu sehen … unbekümmert, albern und auf kindische Weise stolz darauf, mich erfolgreich durch den Kakao gezogen zu haben. Es war das erste Mal, dass ich ihn so sah, und ich liebte es.
Als wir uns endlich wieder beruhigt hatten, sagte er immer noch grinsend: „Es gibt ein Sprichwort, das besagt, nur Menschen, die zusammen lachen, können sich ineinander verlieben. Oder so ähnlich.“
„Dieses Sprichwort habe ich noch nie gehört“, antwortete ich argwöhnisch.
Er schaute einen Moment lang auf seine nackten Füße, und das Grinsen verschwand. Ohne ganz den Kopf zu heben, sah er schüchtern durch seine langen Wimpern zu mir auf, und seine Stirn knitterte irgendwie James Dean-mäßig und sehr sexy. Dann fragte er leise: „Jan, kann ich … darf ich dich küssen?“
Scheiße, ja!
„Scheiße, nein!“, quiekte ich.
Der Umstand, dass wir uns heute noch nicht geküsst hatten, war mein einziger Notausgang. In meinem verdrehten Denkkonstrukt fürchtete ich, ein Kuss – ein richtiger Kuss – würde etwas zwischen uns besiegeln, für das ich nicht bereit war. So als würde es nach einem Kuss irgendwie kein Zurück mehr geben.
Ein Teil von mir wusste, das war dummes Zeug, aber ich redete mir ein, dass alles noch im grünen Bereich war, solange wir nicht die Intimität eines richtigen Kusses geteilt hatten. Und Kiddo, er–
Oh, bitte sieh mich nicht so an!
„Ich muss mir erst die Zähne putzen“, erklärte ich hastig. „Und ich muss mich waschen. Ich brauche ein ordentliches Frühstück. Und vor allem muss ich jetzt pinkeln, sonst platze ich.“
Kiddo fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und lächelte mich an.
„Das nenne ich mal eine Abfuhr“, sagte er, schien jedoch nicht wirklich enttäuscht zu sein. „Aber du hast recht, ich muss das auch. Alles, was du gesagt hast.“
Und dann zwinkerte er mir zu. Er zwinkerte mir zu!
Wer bist du, und was hast du mit meinem todernsten Chris gemacht?
Offenbar konnte ihm an diesem Morgen nichts die Stimmung verderben. Immer noch schmunzelnd richtete er das Handtuch um seine Hüften, drehte sich zur Tür um und sagte über die Schulter hinweg: „Ladies first, Captain Ladyshaver. Ich kann noch warten.“
Ich zeigte ihm den Stinkefinger.
Kapitel 18
Milch. Zucker. Umrühren.
„Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt. Dafür, dass ich über Nacht bleiben durfte, meine ich“, sagte Kiddo, als er sich zum Frühstück auf einen Stuhl plumpsen ließ. „Danke, Jan.“
„Keine Ursache. Äh …“ Ich gestikulierte über den Tisch. „Bedien dich einfach. Du … bist nicht auf einer speziellen Diät oder sowas? Wegen des Diabetes?“ Herrje, waren wir höflich nach allem, was letzte Nacht passiert war!
„Nein“, antwortete er. „Ich kann alles essen, was ich will, kein Problem. Danke.“
Er entschied sich für Cornflakes mit Milch und Zucker. Reichlich Zucker, wie ich leicht besorgt feststellte. Mussten Diabetiker mit Zucker nicht etwas vorsichtiger sein?
Aber es machte Spaß, ihm beim Essen zuzusehen. Er hielt den Löffel in der Faust wie ein Kleinkind und schaufelte sich die Cornflakes in den Mund, als gäbe es kein Morgen.
Ich schmunzelte und fragte mich, wie er es schaffte, sich innerhalb nur einer Stunde von einem Kind in einen Teenager in einen Mann und wieder zurück zu verwandeln. Auf dem Balkon, als ich diese Panikattacke hatte, war er so selbstsicher und erwachsen gewesen, beinahe, als wäre ich der Jüngere von uns. Und jetzt mampfte er fröhlich vor sich hin wie ein Bengel im Vorschulalter.
Ich war so versunken in meine Betrachtungen, dass ich zusammenzuckte, als er plötzlich sprach.
„Frag einfach“, sagte er zwischen zwei Mundvoll, dann schaute er mich erwartungsvoll an.
„Was meinst du? Was fragen?“ Nachdem ich seinen scharfen Verstand nun schon einige Male unterschätzt hatte, war ich sofort wachsam.
„Frag, was du willst.“ Er schluckte den letzten Happen hinunter, dann schob er die Schale beiseite. „Ich kann sehen, dass dir viele Fragen im Kopf herumgehen.“
…wieso bist du hier verliebst du dich gerade in mich wie hast du es geschafft Tom niederzuschlagen stört dich unser Altersunterschied wovor hattest du Angst als wir gefickt haben wieso bist du heute so anders findest du mich attraktiv was bedeuten die Gedichte in deinem Tagebuch hast du einen festen Freund …
Erst jetzt wurde ich mir des konstanten Stroms an Fragen in meinem Hinterkopf bewusst, und ich wurde rot. „Tatsächlich? Und wie glaubst du das sehen zu können?“
Nun wurde Kiddo rot. „Na ja … ist nicht schwer zu erraten. Dafür muss man keine Gedanken lesen können.“
Na, klar. Ich schluckte. „Du hast recht; es gibt da ein paar Dinge, die gern wüsste. Wir haben bisher auch nicht gerade viel geredet; und ich finde, wir sollten reden.“
„Finde ich auch. Also frag.“ Er beugte sich ein wenig vor und sah mich aufmerksam an.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte; die Fragen in meinem Kopf wirbelten im Kreis wie das Glücksrad. Ich griff einfach irgendwo hinein, es kam klappernd zum Halt, und ich platzte mit der erstbesten Frage heraus, ohne mich zu zensieren. „Hast du einen festen Freund?“
Tolle Wahl, Wegener – du hättest erstmal ein paar Vokale kaufen sollen.
„Ich meine, du bist schwul, richtig?“, fügte ich hinzu. Vielleicht hatte er eine feste Freundin?
Kiddo lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stieß einen langen Atemzug aus, bevor er antwortete: „Ich glaube nicht, nein.“
Okay, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee, um mir etwas Zeit zu verschaffen, dann räusperte ich mich. „Nein? Aber du … wir …“
„Ich weiß. Tut mir leid, ich bin nicht so gut mit diesen ganzen Schubladen. Ich bin wohl bisexuell, denke ich. Oder pan? Ich weiß nicht. Wolf ist pan. Sagt er jedenfalls selbst von sich. Aber Wolf ist sowieso ein schräger Vogel.“
Okay, auch das alles hatte ich nicht erwartet. Ich blinzelte. „Also … bist du in einer Beziehung? Freund, Freundin, irgendwas dazwischen?“ Ich lachte nervös.
„Das ist eine komplizierte Frage“, antwortete er.
„Wieso das? Zu viel Auswahl?“
Er schnaubte. „Nein, es gibt da schon jemand Bestimmtes. Ich weiß nur nicht, ob er mich ebenfalls will, etwas Festes will. Ich weiß, dass er mich mag, aber …“ Er zuckte die Achseln.
„Oh.“ Also war er in jemanden verliebt. Und in einen Er . Das war gut, oder? Das machte alles sehr viel einfacher – ich konnte ihn zurück in die liebevollen Arme seines Schwarms schicken, anstatt einfach in die Wüste. Ich war erleichtert, fast ein wenig aufgeregt darüber. „Ah ja? Ist er hübsch? Ich wette, das ist er. Weiß er überhaupt, was du für ihn empfindest? Hast du es ihm gesagt?“
Kiddo schlug die Augen nieder und lächelte. „Ja, ich denke, er weiß es“, sagte er. „Und er ist sehr hübsch. Wir hatten schon Sex, und … es war unglaublich. Er war unglaublich.“
Ähm … so genau wollte ich es gar nicht wissen, Kiddo! Ich versuche hier, das Vernünftige zu tun.
Ich ignorierte das alberne Aufflackern von Eifersucht und räusperte mich erneut. „Also, wo liegt dann das Problem? Wenn du fest mit ihm zusammen sein willst, solltest du ihn einfach fragen, mit ihm reden. Klingt, als würde er auf dich stehen. Vielleicht wartet er ja nur darauf, dass du ihn fragst.“
Er hob den Kopf und sah mich zweifelnd an. „Meinst du?“
„Absolut!“, antwortete ich mit Nachdruck. „Je eher, umso besser. Hast du seine Nummer?“
„Wieso … du meinst, ich soll ihn jetzt fragen?“ Seine grünen Augen wurden groß und rund.
Ja, jetzt! Schnapp dir den Kerl, geh zu ihm. Und erspar mir den Kummer, dich fortschicken zu müssen.
„Sicher. Warum nicht?“, bestätigte ich und zwang ein Lächeln auf mein Gesicht. „Was hast du zu verlieren? Was du heute kannst besorgen …“ Ich zwinkerte ihm aufmunternd zu.
„Okay“, sagte er zögernd. Er wirkte immer noch zweifelnd. „Ich frage ihn.“
„Super. Tu das.“ Ich nickte.
Das war leicht gewesen. Zu leicht. Ich hatte noch einen weiteren Tag gewollt. Diesen Tag.
Er ist kein Hundewelpe, den du auf dem Dachboden verstecken kannst, Wegener.
Mein Herz begann zu bluten, aber ich schluckte die Enttäuschung herunter. Ich riss meinen Blick von seinem Gesicht, griff nach der Kaffeekanne und schenkte mir eine zweite Tasse ein.
„Jan?“
Ich schaff’ das. Milch. Zucker. Umrühren. Sehr beschäftigt. Augen auf den Tisch.
„Jan.“
Scheiße. Genervt von mir selbst bemühte ich mich, nicht zu blinzeln, damit diese alberne Träne, die in meinem Augenwinkel hing, blieb, wo sie war, und nicht an meinem Gesicht herunterlief. Ich hob den Kopf, und unsere Blicke begegneten sich. „Ja?“
„Willst du mein fester Freund sein?“
Kapitel 19
Nicht dieses Mal!
Die Welt stand still. Dieses kreischende Geräusch, wenn die Nadel eines Plattenspielers nicht greift und stattdessen quer über alle Rillen gleitet, gefolgt vom Wump-wump-wump, sobald sie am Label angekommen ist? Das war es, was ich in meinem Kopf hörte, nur dass das Wummern am Schluss mein Herzschlag war. Ich starrte den Jungen vor mir an. Das ganze Fester-Freund-Gerede … damit hatte er mich gemeint?
Bevor ich mich daran erinnern konnte, wie man atmet, sah ich, wie Kiddos Miene von Erwartung zu Verwirrung, von Verwirrung zu Enttäuschung, und schließlich von Enttäuschung zu etwas wechselte, das viel Ähnlichkeit mit Panik hatte.
Und dann löste sich die alberne Träne doch noch von meinen Wimpern und tropfte auf meine Wange. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte ich es, den Mund zu öffnen und etwas zu sagen. „Chris, du–“
„Stopp!“, unterbrach er mich; es war beinahe ein Schrei. Er riss beide Hände hoch und bedeckte seinen Mund. „Antworte nicht darauf“, murmelte er in seine Handflächen.
Er kniff einige Male fest seine Augen zusammen, so als wollte er das Bild loswerden, das sie ihm zeigten. Dann legte er vor seinen Lippen die Handflächen aneinander und schüttelte den Kopf. „Oh Gott, das war Scheiße“, sagte er stöhnend. „Können wir das einfach … löschen? Vergiss, dass ich das gesagt habe.“
Ich stand immer noch unter Schock und hatte das Gefühl, als würde ich mich durch einen dichten Nebel bewegen, offenbar unfähig, in Echtzeit zu reagieren.
Und die Verzögerung frustrierte Kiddo. Er stand auf, ging um den Tisch herum und kniete sich neben meinen Stuhl auf den Boden. Mit einer Hand packte er die Tischkante, mit der anderen die Rückenlehne meines Stuhls.
„Das war eine dumme Frage. Tut mir leid“, flüsterte er. Und mit einem schiefen Lächeln fügte er hinzu: „Ich habe nicht richtig nachgedacht. Ich habe einfach nur einen wirklich schlechten Rat befolgt.“
Der Anblick von Kiddo auf seinen Knien vor mir verursachte so etwas wie einen zerebralen Kurzschluss bei mir. In dieser Haltung waren unsere Gesichter fast auf einer Höhe, und ich starrte in den grünen Abgrund seiner Augen, unfähig zu denken. Mein Gehirn weigerte sich, die Frage zu verarbeiten, die Kiddo mir gestellt hatte, weshalb mein Verstand sich mit allem Möglichem befasste, nur nicht damit.
Die Gedanken taumelten hilflos umher wie Flocken von Asche über einem Feuer, die noch einmal kurz aufglühten, bevor sie sich auflösten. Mir fiel auf, dass etwas mit seinem Haar nicht stimmte. Es roch nach …
Pfirsich? Oh, er hat mein Shampoo benutzt. Das ist süß. Weswegen ist er nochmal so aufgebracht? Er ist immer so verspannt. Guck mal, so schöne, schlanke Zehen. Wieso ist er überhaupt barfuß? Ich sollte jetzt den Tisch abräumen …
Ich tätschelte seine Hand, die die Tischkante umklammerte, dann stand ich auf. Kiddo erhob sich ebenfalls und beobachtete mit ungläubiger Miene, wie ich anfing, die Reste unseres Frühstücks zu beseitigen.
„Jan, kannst du bitte etwas sagen?“ Er schwieg einen Moment. Als ich nicht reagierte, fragte er: „Bist du sauer auf mich?“
Ich drehte ihm den Rücken zu und befasste mich damit, Sachen in den Kühlschrank zu sortieren. Meine Fähigkeit zu sprechen kehrte als Erstes zurück, aber mein Denkvermögen hatte noch nicht ganz aufgeholt. „Warum denkst du andauernd, ich wäre sauer auf dich?“, entgegnete ich schnippisch. „Ich bin nicht dein Onkel oder sowas, Chris.“
Als ich mich wieder umdrehte und Kiddo immer noch am selben Fleck stehen sah, beschloss mein Gehirn endlich wieder mitzuspielen. Ich bereute meine scharfen Worte sofort und schämte mich. Kiddo sah völlig niedergeschlagen aus.
„Du hast nichts falsch gemacht“, versicherte ich ihm. „Die Schuld liegt bei mir. Hätte ich gewusst, dass du von mir geredet hast, dann hätte ich niemals …“ Ich verstummte, weil mir schon wieder Tränen in den Augen brannte.
Großer Gott, was ist nur los mit mir?
„Ich dachte, du wüsstest es“, sagte er und tat einen langsamen Schritt auf mich zu. „Ich dachte, du wolltest, dass ich frage.“ Noch ein Schritt. „Ich bin so ein Idiot.“
Als unsere Fußspitzen sich beinahe berührten, blieb er stehen. Ich lehnte mich zurück und drückte meinen Rücken an die Kühlschranktür. Was das betraf, schien sich ein gewisses Muster herauszukristallisieren. Irgendetwas ging da vor sich mit Wänden und Türen und meinem Rücken, sobald Kiddo mir zu nahe kam.
„Ich … Männer meines Alters …“ Ich schluckte. „Du kannst mich nicht einfach so etwas fragen. Ich bin doppelt so alt wie du“, sagte ich mit halbwegs fester Stimme. Es fiel mir schwer, Haltung zu bewahren. Er war (zu nah, viel zu nah) schon wieder dabei, mich einzuwickeln, aber dieses Mal musste ich standhaft bleiben. Ich wollte verdammt sein, wenn ich mich noch tiefer hineinritt.
„Chris, du bist vierundzwanzig!“ Ich legte meine Hand flach an seine Brust, um ihn wegzuschieben. Aber dann spürte ich sein Herz unter meiner Handfläche schlagen. Es raste. Ich ließ meine Hand dort liegen.
„Das weiß ich“, antwortete er. „Hast du irgendeine Ahnung, wie schwer das für mich ist? Wie sehr du mich einschüchterst, weil du … du bist gleich mehrere Nummern zu groß für mich. Ich meine, sieh mich nur an.“
Er hielt eine Hand hoch, die Finger gespreizt. Sie zitterte. „Ich stehe hier und habe das große Bibbern.“ Er schnaubte. Dann ballte er die Hand zur Faust, und das Zittern war weniger offensichtlich.
„Aber Jan, du bist zu mir gekommen, nicht anders herum. Ich hatte keine große Wahl dabei. Und du hast mich sogar zu dir nach Hause eingeladen – ich kann immer noch nicht glauben, wie leicht das war. Und dann hast du gesagt, dass du mich wolltest.“
Er wurde immer aufgebrachter, während er redete. Sein Atem beschleunigte sich, genau wie meiner. Ihn wegen mir so aufgelöst zu sehen, bombardierte all meine guten Vorsätze. Meine Hand wanderte wie von selbst von seiner Brust hinunter zu seinen Bauchmuskeln. Kiddos galoppierender Herzschlag schien durch seinen ganzen Körper zu pulsieren; ich konnte ihn überall fühlen. Sein Blick folgte meiner Hand, und er erschauerte unter meiner Berührung.
„Und du hast es so gemeint. Ich weiß, dass du es so gemeint hast“, sagte er mit rauer Stimme. Die Faust, die er immer noch hochhielt, löste und schloss sich wieder, löste und schloss sich. Meine eigene, rebellische Hand erreicht den Bund seiner Jeans, und ich hakte meine Finger darunter ein.
„Ja, das habe ich“, flüsterte ich. „Und das tat ich.“
Er atmete scharf aus, beugte sich vor und legte beide Handflächen rechts und links von mir an die Kühlschranktür. Er sprach hastig weiter, fast ohne zwischen den Sätzen Pause zu machen. „Ja. Weiß der Teufel, womit ich das verdient hatte, aber du wolltest mich. Sogar nach dem, was ich mit deinem Nachbarn, Liebhaber, was auch immer gemacht hatte, wolltest du mich. Nachdem ich dich in deinem Flur zu Boden gerissen hatte wie ein sabbernder Zombie, wolltest du mich.“
Er atmete heftiger, als ich anfing, mit dem Daumen den schmalen Pfad von Haaren unter seinem Bauchnabel zu liebkosen. Ohne meine Hand aus den Augen zu lassen, fuhr er fort: „Und sag mir nicht, es geht dabei nur um Sex, weil … Jan, selbst nachdem ich mich als der lausigste Liebhaber aller Zeiten erwiesen hatte –“
Er schüttelte den Kopf und stieß ein humorloses Lachen aus. „Ich dachte, ich wüsste, was ich tue, nur weil ich meine Hand in ein oder zwei Schlüpfern hatte, aber in Wirklichkeit … Gott, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie man einen … einen perfekten Mann wie dich befriedigt. Aber auch dabei hast du mir auf die wundervollste Weise gezeigt, dass du mich immer noch wolltest.“
Endlich hörte er auf zu reden. Ich schloss die Augen und rief mir das Gefühl seines schlafenden Körpers an meinem zurück, seine warme Umarmung und wie ich gegen meine Schläfrigkeit angekämpft hatte, weil ich nicht eine Sekunde davon verpassen wollte.
Kiddo schluckte hörbar. „Jan?“
Ohne die Augen zu öffnen, murmelte ich: „Da wollte ich dich sogar noch mehr.“
„Warum habe ich dann plötzlich das Gefühl, dass du daran denkst, mich rauszuwerfen?“ Ich spürte seine Hände an meinen Schlüsselbeinen, seine zitternden Finger, die Berührung leicht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Seine Fingerspitzen flüsterten über meine Kehle, glitten zärtlich über die Haut an meinem Hals. Ich packte den Bund seiner Jeans fester und zog ein bisschen. Er stöhnte leise auf.
„Was ist passiert, Jan?“, hörte ich ihn fragen, und seine Stimme brach ein wenig, als er meinen Namen sagte. „Wann hat es aufgehört?“
Gar nicht!
„Gar nicht.“ Hatte ich das gerade laut gesagt?
Kiddos Kopf sank nach vorn, er vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge und hauchte ein langes „Schiiiiitt …“
Plötzlich hielt er mich in seinen Armen und drückte mich so fest an sich, dass mit einem scharfen Keuchen sämtliche Luft aus meiner Lunge entwich. Mein Füße verloren für einen Moment die Bodenhaftung, und ich stand nur noch auf den Zehenspitzen.
Kiddo begann, kleine Küsse über meine Schulter und meinen Hals zu verteilen, während er atemlos flüsterte: „Gar nicht? Du … (Kuss) immer noch … (Kuss) … Gott, wie kannst du … (Kuss) … ich hab’ dich doch … (Kuss) … gerade erst gefunden … (Kuss) Jan …“
Ich verstand nur Fragmente und Wortfetzen von dem, was er sagte, aber seine Lippen auf meiner Haut verwandelten meine Knie in Pudding, und in meinem Unterleib sammelte sich die vertraute Hitze. Meine rechte Hand war zwischen unseren Körpern eingeklemmt und für den Moment nutzlos, aber meine linke glitt in Kiddos Haar, gab ihm stumm zu verstehen, dass er nicht aufhören sollte, und ich neigte den Kopf zur Seite, um ihm genug Platz zu verschaffen, mich mit seinen Küssen zu überschütten.
Er reagierte darauf mit dem erotischsten Stöhnen, dass ich je gehört hatte, gefolgt von weiteren Küssen, nun mit offenem Mund, an meinem Kiefer entlang bis zu meinem Ohr.
„Alles, was ich will, ist dich lieben, Jan“, wisperte er an meinem Ohrläppchen, und mein Schwanz schwoll und wurde hart, als hätte Kiddo einen Startknopf gedrückt. Gott, ja …
Er flüsterte mir weiter ins Ohr. „Du musst mich jetzt gar nicht zurücklieben.“
Während er mich immer noch mit einer Hand in meinem Kreuz an sich drückte, wanderte seine andere Hand zu meiner Hüfte und an meinem Oberschenkel entlang abwärts, bis er den Saum meines Bademantels gefunden hatte.
„Bitte …“ Seine Finger glitten unter den Frottee, seine Lippen berührten meine Schläfe. „Kannst du mich dich nicht einfach lieben lassen?“
Mich lieben … wie? Was …? Liebe mit mir machen? Das Denken fiel schwer.
„Ist das okay, Jan? Kann ich dich lieben?“
Sein Atem auf meiner Haut und sein heiseres Flehen gaben mir schließlich den Rest. Ich wollte ihn so sehr, dass mir ganz schwindelig war vor Verlangen. Ich wollte ihn spüren, überall an und in meinem Körper, und ich wollte sein scheiß-fester Freund sein!
„Scheiße, ja“, wimmerte ich, während seine Fingerspitzen unter dem Bademantel an meinem Oberschenkel aufwärts glitten.
„Ja …“, seufzte er. Dann berührten seine Finger das elastische Band unter meiner Arschbacke – die Wanderschaft seiner Hand endete abrupt, und er stöhnte. „Oh Gott, ich muss das sehen.“
Als seine Hand sich wieder in Bewegung setzte und unter meine Kniekehle griff, verstand ich sofort, was er vorhatte. Mit ein wenig Mühe befreite ich meine immer noch eingeklemmte Hand aus ihrem Gefängnis zwischen unseren Körpern und schlang beide Arme um seinen Hals. Wir bewegten uns gleichzeitig, wie in einer lang geprobten Choreografie: Seine Hände packten meinen Arsch, während ich meine Beine um seine Taille legte. Er hob mich hoch, drehte sich mit mir um und setzte mich behutsam auf der Arbeitsplatte des Küchentresens ab.
Ich ließ ihn los, um mich hinter meinem Rücken mit beiden Armen auf der marmornen Oberfläche abzustützen, und er lehnte sich ein wenig zurück und legte die Handflächen unter dem dicken Frottee meines Bademantels auf meine Oberschenkel. Seine Augen fanden die meinen, baten um Erlaubnis. Sein Gesicht war so wunderschön.
Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte. Irgendwo in meinem Hinterkopf gestand ich mir ein, dass ich mich selbst überlistet hatte, als ich heute Morgen meine sonst bevorzugten Boxershorts für den schwarzen Netz-Jockstrap links liegen gelassen hatte, den ich seit Ewigkeiten nicht getragen hatte.
Kiddo heute wegschicken, Wegener? Sicher doch!
Langsam schob er den Stoff an meinen Schenkeln hoch und liebkoste meine Haut unterwegs mit beiden Daumen. Die beiden Hälften des Bademantels öffneten sich und klappten rechts und links von mir zur Seite. Einen Moment lang hielt Kiddo inne, atmete durch seine leicht geschürzten Lippen und füllte seine Augen mit meinem Anblick. Dann hob er seine rechte Hand und fuhr mit dem Zeigefinger über die Mittelnaht des durchsichtigen Stoffes, der meine Erektion bedeckte.
„Du bist umwerfend. Wunderschön“, murmelte mein Elfenprinz schwer atmend. Wahrscheinlich war er sich des schüchternen Lächelns, das sein Gesicht leuchten ließ, nicht einmal bewusst. Er sah auf und scannte mein Gesicht – sein Blick wanderte in schnellen Bewegungen von meinem Mund hinauf zu meinen Augen, wieder zurück, um meinen Kopf herum. „Wunderschön“, wiederholte er.
Zu wissen, dass diesem hinreißenden, jungen Mann vor mir gefiel, was er sah, war ein starkes Aphrodisiakum. Sein unverhohlenes Begehren erregte mich nur noch mehr. Ich gab so etwas wie ein unterdrücktes Knurren von mir, hakte erneut meine Finger in seinen Jeansbund und zog ihn näher. „Ausziehen!“, zischte ich und zerrte an seinem T-Shirt.
Ohne Zögern hob er beide Arme, ich zog, und eine Sekunde später lag das schwarze Shirt auf dem Boden. Während ich mich daran machte, seinen Hosenstall aufzuknöpfen, legte er seine Hand auf meinen harten Schwanz und rieb ihn durch den dünnen Stoff des Jockstraps. Das Gefühl war so intensiv, dass ich laut keuchte.
Wie zum Henker machst du das, Kiddo?
Ich war froh, dass es dieses Mal weder einen Gürtel noch weitere Knöpfe gab, die mir im Weg standen. Während ich seinen Reißverschluss herunterzog, beugte ich mich vor, rieb meine Nase an seinen weichen Bartstoppeln und inhalierte seinen Duft. Mit der freien Hand half er mir, seine Jeans und Unterwäsche hinunter zu schieben. Sobald sein Ständer hervorschnellte, packte ich zu und drückte leicht.
„Oh …“, stöhnte er und senkte den Kopf ein wenig, um an sich selbst herunter zu schauen.
„Du siehst gern zu, oder?“, fragte ich zwischen schweren Atemzügen an seinem Mund und rieb seinen Schaft ein erstes Mal.
„Ja, das tue ich“, bestätigte er, ebenso schwer atmend.
Sein Daumen glitt unter den Netzstoff, und bewies wie in der Dunkelheit des Parks erneut seine Kreativität, indem er kleine, saftige Kreise über meine Eichel rieb und mein Vorsperma verteilte. Ich wimmerte lustvoll und hob die Hüften. Ich konnte mehr fühlen als sehen, dass sein Mund sich zu einem Lächeln verzog – höchstwahrscheinlich zu diesem vernichtenden, schiefen Lächeln, das sein Markenzeichen war. Wurde er etwa ein wenig übermütig? Der Gedanke war irgendwie sexy …
Ich lehnte mich zurück, ließ seinen Ständer los und hob die Hand an meine Lippen – betont langsam, um sicherzugehen, dass er jede Bewegung beobachtete – dann wartete ich eine Sekunde. Als ich absolut sicher war, seine volle Aufmerksamkeit zu haben, sah ich ihm fest in die Augen, streckte meine Zunge heraus und leckte über die Innenseite meiner Hand, vom Ballen bis zu den Fingerspitzen. Mit Befriedigung sah ich, wie er die Augen aufriss. Dann griff ich wieder nach ihm, entschlossen, das freche Grinsen aus dem Gesicht zu wischen.
Sobald ich anfing, meine glitschig-feuchte Handfläche um seine Eichel kreisen zu lassen, verdrehte Kiddo ekstatisch die Augen, und ein langes, tiefes Stöhnen rumpelte durch seine Brust. Ich lachte leise. Treffer versenkt!
Kiddo ließ mir exakt fünf Sekunden, um meinen Triumph auszukosten. Dann packte er meinen Nacken, zog mich zu sich und presste hungrig seine Lippen auf meine. Gleichzeitig fasste er meinen Schaft fester und erhöhte den Druck seines Daumens auf meiner feuchten Eichel.
Ich öffnete überrascht den Mund, um zu stöhnen oder zu schreien, was auch immer, und im nächsten Moment war Kiddos Zunge da, leckte, forschte, kostete, tanzte mit meiner Zunge. Der Kuss hatte eine deutlich aggressive Note und ließ eine ganze Horde Schmetterlinge durch den Hochofen wirbeln, in den sich meine Körpermitte verwandelt hatte. Ich erwiderte den Kuss mit allem, was ich hatte.
Dann packte ich seinen Schwanz fester und wichste ihn von der Wurzel bis zur Spitze – ein wenig zu fest vielleicht, aber er beklagte sich nicht. Er rieb meinen Harten ebenfalls fester und schneller, und beinahe wäre ich auf der Stelle gekommen.
Keiner von uns machte jetzt noch halbe Sachen, keiner von uns unterbrach den leidenschaftlichen Kuss, und für eine Weile konnten wir unser gegenseitiges Verlangen nur durch gedämpftes, wortloses Stöhnen kommunizieren, und mit unseren Händen.
Sein Daumen ließ nicht nach, den empfindsamsten Teil meiner Eichel zu bearbeiten, reibend und kreisend, den Rand, das Frenulum, den Schlitz, schlüpfrig von Lusttropfen. Und plötzlich wurde es zu viel. Ich hob die Hand, packte eine Faustvoll blonder Locken und riss Kiddos Kopf zurück, um unseren Kuss zu beenden.
„Gott … Kiddo!“, keuchte ich, und er sog scharf den Atem ein – ob wegen des heftigen Rucks an seinen Haaren oder wegen des Namens, den ich versehentlich benutzt hatte, konnte ich nicht sagen. Aber er erstarrte und sah mich überrascht an. Sein Brust hob und senkte sich rapide.
„Habe ich dir wehgetan?“, fragte er besorgt. Ich schmolz noch ein bisschen mehr dahin.
Oh Gott, er ist so süß.
„Nein, gar nicht“, antwortete ich außer Atem. „Aber ich schwöre, wenn du so weitermachst, komme ich in den nächsten zwei Sekunden.“
Seine Augen leuchteten begeistert auf. „Wirklich?“ Dann senkte er den Blick und betrachtete seine Hand zwischen meinen Beinen mit einem so drolligen Ausdruck beinahe wissenschaftlichen Interesses, dass ich mir ein Lachen verkneifen musste.
Ich beugte mich vor und schnurrte in sein Ohr: „Wirklich.“
Behutsam ließ Kiddo meine Erektion los, hakte seinen Zeigefinger unter den Taillengummi meines Jockstraps und zupfte leicht daran. „Dann … warum tust du es nicht einfach?“
Ich biss zärtlich in sein Ohrläppchen, bevor ich antwortete: „Weil ich will, dass du mir dieses Ding ausziehst und mich fickst. Weil ich kommen will, wenn du in mir bist.“
Das gutturale Stöhnen, das meine Erklärung auslöste, war ausgesprochen erfreulich. Ich stützte mich mit beiden Armen ab und hob die Hüften. Kiddo packte die beiden elastischen Bänder unter meinen Arschbacken und trat einen Schritt zurück, sodass ich meine Beine schließen und er den Jockstrap herunterziehen konnte. Das kleine Fetzchen schwarzen Netzstoffs landete gut getarnt auf seinem T-Shirt auf dem Boden. Ich hörte leises Rascheln, als Kiddo seine nackten Füße benutzte, um seine Jeans und Boxershorts vollends loszuwerden und zur Seite zu kicken. Dann packte er meine Hüften.
Ich schlang die Arme um seinen Hals, und wir küssten uns erneut. Ich konnte nicht genug davon bekommen … von seinem Geruch, seinem Geschmack und der Art, wie er geräuschvoll durch die Nase atmete, wenn unsere Lippen vereint waren. Ein echter Kuss. Als wären wir ein echtes Paar.
Abrupt riss er den Kopf zurück. „Ich will dich so sehr, Jan“, stieß er atemlos hervor und packte meinen Arsch mit beiden Händen. „Aber dieser …“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Dieser blöde Tresen ist zu hoch!“
Soll das ein Witz sein?
Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter und prustete. „Quatsch, ist er nicht. Deine Beine sind nur zu kurz!“
Wir gackerten albern, als er mich vom Tresen hob – er war wirklich stark. Er hielt mich an seine Brust gedrückt, drehte sich um und suchte mit den Augen den Raum ab. „Wohin, Jan?“, fragte er kichernd. Er kicherte die verdammte Frage!
Aber dann runzelte er die Stirn. Ich folgte seinem finsteren Blick zu meiner großen, schwarzen, Geräusche produzierenden Ledercouch. Dann trafen sich unsere Blicke wieder. „Auf keinen Fall!“, sagten wir gleichzeitig, und prusteten erneut vor Lachen.
„Bett!“, keuchte ich. „Schlafzimmer!“ Aber Kiddo war bereits unterwegs. Sekunden später fielen wir auf die Matratze, federten kurz auf und ab, und dann war er auf mir und überall zugleich, mit seinen Händen und seinem Mund, als wollte er mich bei lebendigem Leib verschlingen. Das Gackern und Kichern verstummte und wurde von Seufzen und Stöhnen abgelöst.
„Bademantel …“ stieß ich zwischen Küssen hervor. „Weg damit.“ Kiddo richtete sich auf, setzte sich auf seine Fersen und zerrte ungeduldig an dem Stoff – ich bog den Rücken durch, und er riss das Ding unter mir weg. Der Bademantel flog im hohen Bogen aus dem Bett, zusammen mit unseren letzten Zurückhaltungen.
Bevor ich mich wieder aufs Bett zurücksinken lassen konnte, schob Kiddo einen Arm unter meinen Rücken, umfasste meine Taille und hob mich auf seinen Schoß, als würde ich nichts wiegen. Mit dem anderen Arm griff er nach dem Gleitmittel, das von gestern immer noch neben dem Kopfkissen lag, öffnete einhändig die Verschlusskappe und drückte etwas auf seine Finger.
Als er anfing, meinen Eingang zu massieren und zu dehnen, riss ich mit den Zähnen bereits eine Kondomverpackung auf. Nach vergangener Nacht brauchte ich nicht viel Vorbereitung. Ich spuckte das Stückchen Folie, das ich abgebissen hatte, aufs Bett und rollte das Kondom über Kiddos Ständer. „Ich bin so weit. Fick mich.“
Er zog seine Finger aus mir heraus, hob mich mit beiden Händen an den Hüften hoch und pflanzte mich mit, wie es schien, einem einzigen, zielsicheren Manöver auf seinen Schwanz. Wir schrien gleichzeitig auf, als ich auf ihn sank und er tief in mich eindrang. Es brannte – aber es brannte so, so gut …
Er ergriff erneut meine Taille, um mich aufrecht zu halten, oder … um mich festzuhalten? So dass ich mich nicht bewegen konnte?
Oh nein! Nicht das wieder!
Vielleicht wollte er ja eine Minute, um sich zu beherrschen und nicht vorzeitig zu kommen, aber das war das ganz sicher nicht, was ich wollte! Er füllte mich so perfekt, dass ich in diesem Moment keine Rücksicht auf seine Ausdauerprobleme nehmen konnte. Ich sah ihm in die Augen und sagte fest: „Nein – nicht dieses Mal!“ Dann packte ich seine Knie hinter mir, stützte mich ab und begann langsam, ihn zu reiten.
Anfangs versuchte ich es mit einem sanften Rhythmus, damit er nicht sofort kam. Aber es fühlte sich so verdammt gut an, der Winkel war genau richtig, und sein harter Schwanz traf den perfekten Punkt in mir. Schon bald gab ich jede Zurückhaltung auf und ritt ihn schnell und hart.
Kiddo ließ meine Taille nicht los, aber seine Hüften kamen mir entgegen, stießen aufwärts, wenn ich auf ihn hinuntersank. Er half mir mit seinen Händen, hob mich hoch und zog mich wieder hinab, und mit jedem Mal drang er tiefer in mich ein.
Ich fragte mich kurz, wieso er sich jetzt so gut beherrschen konnte, denn ich selbst fühlte bereits, wie meine Eier sich hoben und mein Arsch sich rhythmisch um seinen Schwanz zusammenzog. Kiddo schaute mich unter halb geschlossenen Lidern an, den Kopf leicht zurückgeneigt, den Mund offen, und er wirkte sehr konzentriert. Aber ich konnte mich nicht länger zurückhalten.
„Oh Gott“, stöhnte ich. „Ich komme, ich komme. Hör nicht auf … oh, Scheiße!“
„Ja?“, seufzte er mit samtener Stimme.
Bevor ich ekstatisch die Augen verdrehte, sah ich noch, wie das unglaublichste Lächeln sein Gesicht erhellte. Ein kurzes, euphorisches Lachen mischte sich unter sein erregtes Atmen – es klang unfassbar erotisch.
Und dann überwältigte mich der heftigste Orgasmus meines Lebens, und ich kam scheinbar endlos – fette, weiße Spermaspritzer klatschten an unsere Bäuche. Meine Schreie löschten jedes andere Geräusch im Raum aus, während Wellen der Lust wieder und wieder durch meinen ganzen Körper pulsierten …
Als ich wieder zu Sinnen kam, lag ich flach auf dem Rücken und Kiddo halb auf mir. Er stützte sein Gewicht auf einem Ellenbogen ab, hauchte warme, feuchte Küsse auf meine Brust und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Seine freie Hand lag zwischen meinen Beinen und streichelte träge mein erschlafftes Glied.
Ich hatte keine Ahnung, wie oder wann wir die Position gewechselt hatten, aber mir wurde bewusst, dass Kiddo es wieder getan hatte: Er hatte während meines Orgasmus seinen Schwanz herausgezogen und war selbst nicht gekommen.
Ich will verdammt sein! Was zum Henker?
Ich hob sein Gesicht mit beiden Händen hoch, sodass er mich ansehen musste, und flüsterte: „Kiddo?“
„Hmm?“ Er zuckte nicht mit der Wimper, als ich meinen geheimen Kosenamen für ihn benutzte. Seine Augen waren ein wenig glasig, das Grün dunkler als sonst, und seine sanft geschwungenen Lippen leicht geschwollen von all den Küssen. Seine blonden Locken standen in alle möglichen Richtungen ab. Ich fuhr mit den Finger hindurch und lächelte.
Verdammt. Das hübscheste Frisch-gefickt-Gesicht aller Zeiten.
Dann fiel mir plötzlich etwas auf, und ich beschloss, ihm zuerst die gute Nachricht mitzuteilen. „Herzlichen Glückwunsch!“, sagte ich.
Seine Hand zwischen meinen Beinen erstarrte, und er hob fragend die Brauen.
„Du hast mir gerade meinen allerersten Hands-free Orgasmus verschafft“, erklärte ich. „Danke dafür.“
„Was bedeutet das?“ Er war verwirrt, begriff aber dennoch, dass meine Verkündung etwas Gutes sein musste, und ein drolliges, schiefes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.
„Das bedeutet, du bist der erste Mann, bei dem ich nur durch anal gekommen bin, ohne Schwanz-Stimulation, nur vom Ficken.“
Kiddo rollte sich auf die Seite, und ich tat dasselbe, so dass wir einander gegenüber lagen. Seine Hand wanderte in meine Taille, und er ließ sie dort liegen. Seiner Miene nach zu urteilen, hatte meine Erklärung ihn, wenn überhaupt, nur noch mehr verwirrt.
„Du meinst, du bekommst sonst keine Orgasmen auf … normale Art?“, fragte er.
Ich schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Normale Art? Großer Gott … was heißt das überhaupt? Nein, es ist in der Tat wirklich nicht so leicht, so zu kommen. Jedenfalls nicht für mich.“
„Oh. Ich dachte … na ja, das wusste ich nicht“, sagte er fasziniert. Meinte er das ernst?
„Tja. Nun weißt du es. Die meisten Männer, selbst die überzeugtesten Bottoms, brauchen zusätzlich zur Penetration noch ein bisschen mehr, um zu kommen. So sehr ich die ,normale Art’, wie du es nennst, genieße“ – ich machte mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft – „kein Orgasmus für mich ohne Wichsen.“
„Aber nicht dieses Mal“, stellte er fest und lächelte – ein wenig selbstzufrieden, wie ich fand.
„Nein, nicht dieses Mal,“, bestätigte ich und erwiderte sein Lächeln. „Es war fantastisch, Chris.“
Er beugte sich zu mir und küsste mich zärtlich. „Na dann … gratuliere ich dir auch“, flüsterte er. „Würdest du mir verraten, wie ich das gemacht habe? Weil … das wäre eine sehr nützliche Information, weißt du?“
„Chris!“ Ich lachte. „Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung.“
„Schade.“ Er seufzte, lächelte aber noch immer glücklich.
„Vielleicht hat es weniger etwas damit zu tun, wie man es macht, sondern mehr damit, wer es macht?“, überlegte ich laut.
Seine Augen wurden ganz weich, und er küsste mich erneut. „Das ist ein schöner Gedanke.“ Er streichelte meine Taille. „Kann ich dich ein wenig halten, Jan?“
Anstelle einer Antwort schmiegte ich mich an seine Brust. Kiddo schlang seine Arme um mich, vergrub seine Nase in meinem Arm und atmete tief ein. Etwas Hartes zuckte an meinem Bauch und erinnerte mich an ein gewisses Problem.
„Chris, ich will, dass du weißt, ich bin clean, okay? Ich lasse mich regelmäßig testen, du musst dir also keine Gedanken machen.“
„Okay“, sagte er nach ein paar Sekunden. „Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, und du hast mir ein Kondom übergezogen, also … aber danke, dass du mir das sagst.“
Er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht? „Ich wollte damit nur sagen, es ist sicher. Von meiner Seite jedenfalls, mit oder ohne Kondom.“
Er neigte den Kopf zurück, um mich anzusehen. „Wieso sagst du das?“, fragte er, und nun klang er beunruhigt. „Nur zu deiner Information: Ich habe regelmäßig umfassende Gesundheitschecks, weil ich im Altenheim arbeite. Und ich bin ebenfalls clean. Ich würde nie–“
„Chris“, unterbrach ich ihn. Dann griff ich zwischen uns und legte meine Hand auf seinen nunmehr halb harten Schwanz, der unter meiner Berührung jedoch sofort wieder zu neuem Leben erwachte. „Das ist der Grund, warum ich dir das alles sage. Du hättest mit mir zusammen kommen können … in mir. Aber das hast du nicht, genau wie letzte Nacht. Und ich verstehe das nicht. Wenn es nicht um AIDS geht, oder andere Krankheiten …“ Ich lachte verlegen. „Schwanger kann ich nämlich nicht werden, weißt du?“
Er seufzte schwer. „Es ist kompliziert.“
Ich wartete darauf, dass er fortfuhr, aber er das tat er nicht. Stattdessen nahm er meine Hand und zog sie von seinem Ständer weg.
„Was ist das Problem, Chris?“ Ich war überraschend gekränkt über seine Zurückweisung. Aber dann legte sich wie ein Schleier derselbe seltsame Ausdruck über seine Augen, der mich in der vergangenen Nacht so traurig gemacht hatte. Es dauerte nicht länger als eine Sekunde, dann war er wieder verschwunden. Aber in diesem kurzen Moment hatte ich es deutlich gesehen.
Angst! Wovor um Himmels Willen kann er nur Angst haben?
„Hast du vor irgendetwas Angst?“, fragte ich geradeheraus.
Er verschränkte seine Finger mit meinen und küsste meinen Handrücken. Dann nickte er. „Todesangst, um ehrlich zu sein“, flüsterte er mit einem schwachen Lächeln. „Es hat nichts mit dir zu tun, Jan. Bitte, das darfst du erst gar nicht denken. Es liegt allein an mir selbst; ich bin so ein Freak.“
„Aber wovor hast du Angst?“, fragte ich leise. Ich war nun völlig verwirrt. „Und du bist kein Freak.“
Erneut presste er meine Hand an seine Lippen und drückte sie fest. Er schloss die Augen und murmelte etwas an meiner Haut. Ich war nicht sicher, aber es klang wie „Ertrinken“.
Bevor ich weiter nachhaken konnte, öffnete er die Augen und sagte: „Jan, würdest du mir glauben, wenn ich dir sagte, dass ich gerade den wunderbarsten Moment meines Lebens habe? Ich weiß, du willst nur helfen, und dass ich mich gut fühle, und das macht den Moment nur noch besser. Ich verspreche dir, ich werde irgendwann versuchen, dir alles zu erklären, aber …“ Er verstummte.
„Nicht dieses Mal?“, schlug ich vor und lächelte, um ihm zu zeigen, dass ich ihm glaubte.
„Ja“, sagte er und lächelte dankbar. „Nicht dieses Mal.“
Kapitel 20
Wir sind echt scheisse darin
Oh, diese Lippen …
Jeder seiner zärtlichen Küsse fühlte sich an wie ein erster Kuss. Ich war wie ein Teenager, mit Herzklopfen und Schmetterlingen und allem Drum und Dran, als wir dalagen, uns an den Händen hielten und knutschten und herummachten wie Schulkinder. Nur konnte ich mich nicht erinnern, dass es sich je so unglaublich angefühlt hatte, als ich ein Teenager war. Ich hätte diese Lippen den ganzen Tag lang küssen können, um die wilden, kleinen Kreaturen in meinem Bauch wieder und wieder aufflattern und umherwirbeln zu lassen.
Wir feierten Kiddos „Moment“. Ich schluckte all meine Fragen und Sorgen herunter, um ihn seinen wunderbaren Moment haben zu lassen, und an irgendeinem Punkt vergaß ich sie völlig. Ich glaube, das war, als er an meiner Unterlippe leckte und Zutritt begehrte. Ich öffnete meinen Mund für ihn und stöhnte, als unsere Zungen sich vereinten. Meine komplette Anatomie reagierte mit einer erneuten Woge des Begehrens.
Ich spürte, dass Kiddo an meinen Lippen grinste, bevor er ein leises Lachen von sich gab. „Ich sollte das wirklich mit meinem iPod aufnehmen.“
„Was aufnehmen?“, fragte ich ein wenig benebelt. Mein Denkvermögen war wieder einmal auf Standby.
„Diese kleinen Laute, die du von dir gibst“, antwortete er. „Die sind besser als Musik. Ich könnte sie in einer Endlosschleife laufen lassen und den ganzen Tag hören.“
Ich lachte. „Du hast sie nicht alle. Du bist verrückt.“
„Das bin ich. Verrückt nach dir“, gab er zu und drückte meine Hand.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie aus dem Nichts klopfte seine Frage wieder an die Hintertür meines Verstandes: „Willst du mein fester Freund sein?“ Die warme, friedvolle Stimmung, die uns in den letzten paar Minuten wie in einer Seifenblase eingehüllt hatte, wies plötzlich kleine, feine Risse auf. Ich seufzte.
Kiddo neigte den Kopf zurück und schaute mich an. „Was ist los?“
Mist, ihm entging einfach nichts .
„Ähm … nichts“, antwortete ich ausweichend. „Ich habe nur Durst. Zeit aufzustehen und–“
„Nein, bleib liegen“, unterbrach er mich eifrig. „Ich hole was. Was hättest du gern? Oh, warte – du hast sowieso nur Cola Light, richtig? Ich bin gleich wieder da – beweg dich nicht.“
Er küsste meinen Handrücken, dann ließ er los und stand auf. Er ging um das Bett herum, und ich musste schmunzeln, als er dabei verschämt mit beiden Händen seine Genitalien festhielt. Zu drollig! Aber zu meiner Freude bekam ich einen Moment lang freie Sicht auf seinen kleinen, festen Hintern, bevor er zur Tür hinaus war.
Regieraum? Kann ich davon eine Wiederholung haben? In Zeitlupe, bitte .
Ich seufzte erneut. Wie jedes Mal, wenn Kiddo sich räumlich von mir entfernte, fühlte ich mich ernüchtert. Ich versuchte, dagegen anzukämpfen, weil ich nicht willens war zuzulassen, dass das unseren – Kiddos – Moment verdarb, aber es war nicht leicht. Gott, wie lange konnte es denn dauern, zum Kühlschrank zu gehen und wieder her zu kommen?
Bitte komm wieder her .
Als er zurückkehrte, trug er zwei Coladosen. Und seinen Rucksack. Außerdem hatte er seine Boxershorts angezogen. Instinktiv zog ich die Bettdecke über meine unteren Regionen – ich kam mir plötzlich sehr entblößt vor.
Kiddo warf den Rucksack aufs Bett, dann öffnete er eine Getränkedose und reichte sie mir, bevor er sich zu mir auf die Matratze setzte. „Warum hast du dich zugedeckt?“, fragte er und zupfte an der Decke. „Ist dir kalt?“
„Nein, ich wollte nur …“ begann ich abwesend, ohne recht zu wissen, was ich eigentlich sagen wollte. Ich starrte die rosa und gelben Polkadots an und hatte das starke Gefühl, dass sie irgendwie mein schönes, weißes Laken dekontaminierten. „Warum hast du … das mitgebracht? Brauchst du eine Injektion oder so?“
Meine Frage schien ihn zu verblüffen. „Nein. Ich hatte nur so eine Idee. Aber jetzt, wo du fragst …“
Scheiße. Ich hatte Wolf versprochen, ein Auge darauf zu haben.
„Du hast nach dem Frühstück nicht deinen Blutzucker gemessen!“, rief ich mit beschämend quiekender Stimme. „Und du hattest Cornflakes … und Zucker!“
„Beruhige dich, Jan, ich mache das jetzt sofort, okay?“ Er nahm seinen Rucksack, stand auf und ging zur Tür.
„Was glaubst du, wo du hingehst?“, fragte ich aufgebracht.
Er blieb stehen und drehte sich um. „Äh … ins Bad?“
„Auf keinen verdammten Fall, Chris! Du kommst schön hierher und lässt mich deine Werte sehen und den ganzen Scheiß. Los, hierher, und setzen!“
Kiddo verdrehte übertrieben die Augen, seufzte dramatisch und murmelte: „Ja, Chef.“ Aber er schmunzelte dabei.
„Sehr witzig!“, grummelte ich. Dann schaute ich argwöhnisch zu, wie er sein Blutzuckermessgerät vorbereitete. „Du … du musst dich jetzt stechen, oder? Du brauchst ein bisschen Blut zum …“
Sein Lachen unterbrach mich. „Mann, ich wollte ja diskret sein, Jan, aber du hast mich nicht gelassen. Jetzt entspann dich. Ich weiß, dass dir nicht schlecht wird, wenn du Blut siehst. Du hattest kein Problem mit deinem … Nachbarn, als ich …“ Er verstummte. Sein Gesicht war plötzlich wieder sehr ernst. Er sah mich nicht an, als er die Fingerkuppe drückte, in die er soeben mit einer feinen Lanzette gestochen hatte. Ein kleiner Blutstropfen quoll hervor, er hielt den Teststreifen daran, und das Messgerät begann von fünf rückwärts zu zählen.
„Ist er wirklich nur dein Nachbar?“, hörte ich Kiddo fragen, während ich beobachtete, wie sich die Zahlen auf dem Display änderten.
„Er ist auch ein Freund. Na ja, das war er jedenfalls“, antwortete ich. Der Countdown endete, und ein Wert wurde angezeigt. „Jesus, 296? Oh Scheiße, das ist hoch, oder? Wie ist der normale Wert?“
Kiddo lachte leise. „Kein Grund zur Panik, ehrlich. Ich habe vor Kurzem gefrühstückt, also ist er hoch. Das ist okay.“
„Oh, das ist todsicher nicht okay!“, widersprach ich empört und klang auf absurde Weise wie Officer Northberg aus Elfenherz . „Ich hätte–“
Kiddo brachte mich mit einem Kuss zum Schweigen. „Nein, hättest du nicht“, murmelte er an meinen Lippen. „In ein paar Minuten geht der Wert wieder runter, und das war’s.“ Dann zog er die Verschlusskappe von seinem Insulinpen und stellte die Dosis ein. „Und ich möchte jetzt wirklich nicht über meinen Blutzucker reden. Das ist langweilig und auch nicht der Grund, warum ich meinen Rucksack geholt habe.“
„Und warum hast du ihn geholt, wenn nicht, um mir die Unannehmlichkeit zu ersparen, dich ins Koma fallen zu sehen? Erleuchte mich bitte“, nörgelte ich.
Kiddo nahm ein Stück Haut an seinem Bauch zwischen Daumen und Zeigefinger, drückte es zusammen und hielt die Spitze des Pens dagegen. Ich zuckte zusammen, als sich die feine Nadel in die Haut bohrte. Kiddo blickte auf und sagte: „Ich verrate es dir, wenn du mir sagst, wieso du dich zugedeckt hast.“
„Ich habe zuerst gefragt.“
Nachdem er den Kolben ganz heruntergedrückt hatte, zog er die Nadel heraus und verschloss den Pen wieder. Er seufzte. „Wir sind wirklich Scheiße darin.“
„Worin?“
„Das ist die Antwort auf deine Frage“, antwortete er kryptisch. „Wir beide sind total Scheiße darin, miteinander zu reden. Wir kommen nie weiter. Also dachte ich mir, wir könnten ein bisschen Hilfe gebrauchen. Und alles, was dazu nötig ist, ist in meinem Rucksack. Deshalb habe ich ihn geholt.“
Ich starrte immer noch auf die Stelle an seinem Bauch, wo er sich das Insulin gespritzt hatte. Ein kleiner, aber erschreckend dunkler Bluterguss bildete sich um den frischen Einstich, ich konnte buchstäblich zusehen, wie er erblühte. Sein Anblick auf der ansonsten makellosen Haut meines hübschen Jungen machte mich sauer. Entrüstet deutete ich auf die Stelle. „Ist das normal?“
Er senkte den Kopf, um zu sehen, wovon ich redete, dann zuckte er mit den Schultern. „Oh, das … passiert manchmal. Stumpfe Nadel. Ich hätte wahrscheinlich eine frische benutzen sollen.“
„Wolf hatte recht“, sagte ich anklagend. „Du bist schlampig mit deiner Therapie.“
„Ja, ja. Du bist dran. Warum hast du dich zugedeckt? Und willst du nun wissen, was ich mir überlegt habe, um uns zu helfen, damit wir endlich gegenseitig unsere Fragen beantworten, oder nicht?“
„Natürlich will ich das wissen“, sagte ich schnippisch. „Und ich hab’ die Decke hochgezogen, weil es mir unangenehm war, so nackt dazusitzen. Ich meine, wieso hast du deine Unterhose angezogen, hm?“
Er zuckte verlegen die Achseln. „Na ja …“
„Genau!“ Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. „Also was hattest du nun für eine Idee?“
„Okay.“ Plötzlich leuchteten seine Augen eifrig. „Hör zu. Ich glaube, wir brauchen ein paar Regeln. Wie bei einem Spiel, okay? Es läuft folgendermaßen: Wir schreiben die Fragen, die wir stellen wollen, auf kleine Zettel.“ Er wühlte in seinem Rucksack und holte einen kleinen Notizblock und zwei Stifte heraus. „Schreib so viele Fragen auf, wie du willst. Was immer du wissen willst. Aber immer nur eine Frage pro Zettel, weil …– danach falten wir alle Zettel zusammen und stecken sie in getrennte Umschläge.“
Du hast auch Umschläge in dem Ding?“, fragte ich. „Super. Wo kriegt man eine so unendlich hässliche, unendliche nützliche Tasche?“
Er lachte und holte das rote Notizbuch (Tagebuch!) hervor, riss zwei leere Seiten heraus und fing an, zwei perfekte Umschläge zu falten, als wäre er der japanische Landesmeister im Origami. Er war wirklich unheimlich geschickt mit seinen Fingern. Ich bekam heiße Wangen.
Du wusstest bereits, wie geschickt er mit den Fingern ist, Wegener .
„Kannst du auch Schwäne und Frösche? Oder vielleicht einen tanzenden Flamingo?“, neckte ich ihn. Es war schwierig, ihm lange zu grollen.
Er lachte laut auf. „Habe ich noch nicht versucht.“ Er gab mir einen der Umschläge und fuhr fort: „Jetzt kommt der spaßige Teil. Das sind die Regeln: Wenn wir alle Zettel hineingetan haben, dann tauschen wir die Umschläge, sodass du meine Fragen hast, und ich deine. Okay? Jeder von uns kann jederzeit sagen , Zieh eine Frage ’ – jetzt oder später, morgen, ganz egal. Jederzeit.“
Für einen kurzen Augenblick stolperte mein Verstand über den Umstand, dass Kiddo offenbar davon ausging, wir würden ein gemeinsames Morgen haben. Aber dann konzentrierte ich mich wieder auf seine Erklärung. Ich war fasziniert.
„Dann muss der andere eine Frage aus dem Umschlag ziehen, sie laut vorlesen und beantworten“, fuhr er fort. „Jeder von uns kann einmal sagen , Erklär mir das ’, wenn entweder eine Frage unklar ist, oder eine Antwort unbefriedigend – aber nur einmal pro Frage. Du kannst bei einer Frage auch , weiter ’ sagen – aber das bedeutet nicht, dass du sie gar nicht beantworten musst. Sie geht dann einfach zurück in den Umschlag, und du ziehst eine andere. Aber zu irgendeinem späteren Zeitpunkt wird die Frage wieder auftauchen. Klar so weit?“
Er schaute mich erwartungsvoll an. Ich schüttelte den Kopf. „Woher hast du dieses Spiel? Hast du dir das selbst ausgedacht?“
„Nein“, sagte er. „Es ist eine der sehr wenigen sinnvollen Übungen, an die ich mich aus meinen sehr sinnlosen Therapiesitzungen erinnere. Also, was sagst du – wollen wir es versuchen?“
„Was für eine Therapie war das?“, fragte ich neugierig.
Er runzelte die Stirn. „Ist das eine deiner Fragen? Dann schreib sie auf und steck sie in den Umschlag.“
„Und wenn du die Frage ziehst, musst du sie beantworten, richtig? Das sind die Regeln?“
„Ja“, bestätigte er. „Ich kann einmal , weiter ’ sagen, aber dann muss ich sie beim nächsten Mal beantworten. Das sind die Regeln.“
Das könnte interessant werden …
„Okay, dann lass uns spielen“, stimmte ich zu.
„Super!“ Er zog die Beine aufs Bett und setzte sich in den Schneidersitz. Dann gab er mir einen Stift und legte den Notizblock zwischen uns auf die Matratze. Als er die Hand zurückzog, machte er mit ihr einen kleinen Umweg, strich leicht über die Bettdecke und zog sie wie zufällig ein Stück nach unten. Meine rechte Hüfte und ein bisschen von meiner Arschbacke wurden dabei freigelegt.
Ich lächelte Kiddo an und rutschte absichtlich ein Stück zur Seite, sodass meine Schamhaare ebenfalls zum Vorschein kamen. Er fuhr sanft mit den Fingerknöcheln über den Ansatz meines Penis und formte mit den Lippen das Wort Danke .
„Du bist ein Augenmensch“, stellte ich fest.
„Ich sagte dir ja, ich schaue dich gern an.“ Seine Finger zogen die Decke noch ein kleines Stück tiefer. „Sehr gern sogar.“
Unwillkürlich wanderte mein Blick in seinen Schoß. Seine Boxershorts konnte nicht verbergen, dass ihm gefiel, was er sah. „Das sehe ich“, sagte ich schmunzelnd.
Lachend zog Kiddo den Rucksack in seinen Schoß und errötete. „Können wir uns jetzt bitte konzentrieren?“
Ich zupfte an dem Rucksack. „Aber ich schaue dich auch gern an!“
„Herrgott, Jan … schreib einfach deine Fragen auf.“
Kapitel 21
Fragen und Antworten
Für eine lange Zeit starrte ich das leere Papier an und wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Es war schockierend, wie extrem sorgfältig ich nur wegen ein paar einfacher Regeln über die beste Formulierung meiner ersten Frage nachdachte.
Ich wollte etwas von seinen Ex-Freunden wissen, ob es welche gab und wie viele. Oder Ex-Freundinnen – diesbezüglich hatte er sich nicht so eindeutig geäußert. Aber wie stellte ich die Frage am besten? Erzähl mir alles über deine sexuellen Erfahrungen? Das war nicht einmal eine Frage, aber es war im Grunde, was ich wollte. Auf keinen Fall würde ich diese Gelegenheit mit einfachen Ja-oder-Nein-Fragen vergeuden. Mein Ziel war es, ihn zum Reden zu bringen.
Ich warf einen Blick zu Kiddo, der einen Zettel nach dem anderen füllte und ordentlich zusammenfaltete. Er schien nicht einmal über seine Fragen nachdenken zu müssen.
Verdammt, Wegener, fang endlich an!
Kiddo hob den Kopf und lächelte mich an. „Alles in Ordnung?“
Ich winkte ab und beugte mich wieder über meine eigenen Zettel. Kiddo kicherte.
Nach einigen Minuten – ich hatte drei Zettel mit Gittern und Spiralen gefüllt, aber noch nicht eine einzige gottverdammte Frage formuliert – fühlte ich Kiddos Hand auf meinem Knie. Ich riss den Kopf hoch und sah, dass er aufgehört hatte zu schreiben. „Ich bin fertig“, sagte er. „Und du?“
Ich seufzte und knüllte meine Kritzeleien zu einem kleinen Ball zusammen. „Ich weiß nicht … vielleicht komme ich besser rein, wenn ich erst angezogen bin und ein bisschen mehr Koffein intus habe. Wir können sowieso nicht den ganzen Tag im Bett bleiben.“
„Wieso nicht?“ Kiddos Hand machte sich entlang meines Beins auf Wanderschaft. „Ich will nicht, dass du dir etwas anziehst.“
Meine sofortige körperliche Reaktion auf seine Berührung war beinahe ärgerlich; so etwas hatte ich mit noch keinem anderen Mann erlebt. Und ich musste zugeben, dass auch der Sex mit Kiddo sich wie etwas völlig Neues anfühlte. Es war fast suchterzeugend, und dabei hatte der arme Junge noch nicht einmal–
„Ah!“, keuchte ich, und dann schrieb ich hastig meine erste Frage nieder: Warum hast du Angst davor, einen Orgasmus zu haben?
Ich war sehr zufrieden mit mir. Die Frage erforderte eine detaillierte Antwort – und ich konnte sogar noch zusätzliche Erklärungen verlangen! Plötzlich wusste ich auch, wie ich die Ex-Freund-Frage formulieren musste. Wie waren deine bisherigen Beziehungen so? Da musste er richtig erzählen. Perfekt!
Und jetzt fiel mir eine Frage nach der anderen ein, und das Häufchen ordentlich gefalteter Zettel neben mir wuchs. Ich blickte nicht ein einziges Mal zwischendurch auf; ich hatte sogar vergessen, dass Kiddo da war. Bis ich ihn sprechen hörte.
„Darauf freue ich mich jetzt schon.“
Mein Kopf schoss hoch. Kiddo grinste mich an. „Worauf?“, fragte ich verdattert.
„Auf die Frage, die du gerade aufgeschrieben hast.“
„Was? Wieso?“ Ich nahm einen Schluck von meinem … Kaffee? Er hat mir Kaffee gemacht? Wann?
„Weil du davon ausgehst, dass ich lüge, wenn ich sie beantworte“, sagte Kiddo vollkommen sachlich. „Ist der Kaffee okay? Milch und einen halben Löffel Zucker, richtig?“
Ich starrte verwirrt den dampfenden Becher an, den ich gerade vom Nachttisch genommen hatte. „Ja, sehr gut. Danke.“ Er war sogar perfekt, ehrlich gesagt – ganz so, wie ich ihn gern trank. Verdammt, ihm entging wirklich nichts – es war beinahe furchterregend. „Wie kommst du darauf, ich würde erwarten, dass du lügst? Du kennst die Frage ja nicht einmal.“
„Das muss ich gar nicht. Aber ich habe dir jetzt schon eine ganze Weile beim Schreiben zugesehen. Es ist faszinierend. Du hast jedes Wort mit den Lippen geformt, während du es geschrieben hast“, erklärte er. „Nur bei der letzten Frage nicht. Erst hast du die Stirn gerunzelt und genickt. Etwa so …“ Er verzog zur Demonstration das Gesicht und nickte betont langsam. „Und dann hast du geschnaubt.“
„Habe ich nicht!“ Ich fühlte mich irgendwie ertappt.
„Mh-hm.“ Kiddo wirkte recht belustigt. „Es war so ein sarkastisches Schnauben, nach dem Motto: aber sicher doch! Du glaubst mir schon im Voraus kein Wort von dem, was ich deiner Meinung antworten werde.“
Mal wieder am Gedanken lesen? Ich schaute auf den Zettel in meiner Hand und fragte: „Und? Wirst du mich anlügen?“
„Niemals.“ Seine Antwort kam in einem einzigen Herzschlag.
„Du kennst nicht einmal die Frage“, wiederholte ich, ohne von den Worten aufzublicken, die ich geschrieben hatte.
„Jan, sieh mich bitte an.“ Plötzlich war der neckende Tonfall aus seiner Stimme verschwunden. Ich hob den Kopf. Die Aufrichtigkeit in seinen Augen griff mir ans Herz. „Ich muss die Frage gar nicht kennen. Ich würde dich niemals anlügen, ganz gleich, warum es geht. Es gibt vielleicht Dinge, die ich dir jetzt noch nicht sagen kann. Aber wenn ich dir etwas sage, kannst du dich hundertprozentig darauf verlassen, dass es die Wahrheit ist, okay?“
Er hatte sich etwas nach vorn gebeugt; die typische, tiefe Falte stand zwischen seinen Brauen, und er sah mir fest in die Augen. Er war so ernst, als ginge es um Leben und Tod.
„Okay“, sagte ich und hielt seinen Blick, ohne zu blinzeln. „Ich glaube dir.“ Er entspannte sich merklich, schien aber immer noch auf etwas zu warten. Nach ein paar Sekunden dämmerte es mir … „Und ich werde dich ebenfalls nicht belügen, Chris.“
Mit einem langen Seufzen verließ auch die restliche Anspannung seinen Körper. Er flüsterte: „Okay.“ Dann beugte er sich hinunter und drückte einen keuschen Kuss auf mein Knie. „Danke.“
Als unsere Blicke sich erneut begegneten, verspürte ich den starken Drang, ihn in die Arme zu nehmen und ihm zu sagen, dass ich … wie sehr ich ihn … dass ich ihn gern hatte. Oder so etwas. Meine Brust wurde etwas eng, und es erschien mir wirklich wichtig, das zu sagen, ihn zu umarmen.
Aber irgendwie war es gerade ungünstig mit den Zetteln und dem Kaffee und allem. Ich wusste nicht, was ich als Erstes tun sollte, und als ich endlich den Stift weggelegt und den Kaffeebecher auf dem Nachttisch abgestellt hatte, war der Moment vorbei. Kiddo sah mich immer noch an, und ich fragte mich, ob er es auch gespürt hatte. Ich wandte den Blick ab und begann, meinen letzten Zettel zu falten, aber Kiddo legte seine Hand auf meine und hielt mich auf.
„Gib ihn mir“, sagte er. „Lass uns so tun, als hätte das Spiel schon angefangen und ich hätte gerade diese Frage gezogen.“
Ich zögerte, denn plötzlich kam mir die Frage auf diesem Zettel albern vor. „Du wirst mich auslachen.“
„Werde ich nicht“, versprach er. „Na komm, so schlimm kann es nicht sein.“ Er drehte sich auf dem Bett, sodass er neben mir saß, mit dem Rücken ans Kopfende gelehnt. Dann schlang er die Arme um meine Taille. Sein Kinn ruhte auf meiner Schulter. Seine Umarmung war warm und seltsam vertraut, und ich lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und atmete seinen Geruch ein.
„Lass sehen“, flüsterte er.
Ich machte die Augen auf, holte tief Luft und faltete das Papier auseinander. Dann schauten wir beide hinunter auf die Worte, die ich geschrieben hatte:
Kannst du Gedanken lesen?
Kiddos Körper verspannte sich spürbar. Plötzlich konnte ich an meiner Seite spüren, wie sein Herz in einen wilden Galopp ausbrach. Nach einem langen Moment des Schweigens sprach er schließlich. Er lachte nicht. Er verlangte nicht zu wissen, was genau ich eigentlich wissen wollte, oder ob ich die Frage überhaupt ernst meinte. Er sagte einfach nur: „Ja“.
Und was mich noch mehr überraschte als seine knappe Antwort: Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er die Wahrheit sagte. Solche Sachen existierten eigentlich nicht, außer in meinen Fantasy-Romanen, aber in Kiddos Welt …
Okay, Wegener, es ist so weit – du hast offiziell den Verstand verloren.
Ich holte noch einmal tief Luft. „Erklär mir das.“
Kapitel 22
Synäs … was?
Erklär mir das.
Mit dieser Aufforderung endete Kiddos glücklicher Moment. Oder vielleicht war der Moment schon vorbei, als er meine Frage nur las. Ich hatte erwartet, dass er lachte oder sich über mich lustig machte. Ich meine, komm … Gedanken lesen?
Du sagst es, Wegener, das hier ist nicht Elfenherz.
Aber als ich mir die Ereignisse unserer kurzen Zeit zusammen zurückrief, musste ich zugeben, es hatte Augenblicke gegeben, da mir diese Idee durch den Kopf geschossen war. Mehr als einmal hatte Kiddo gewusst, was ich dachte, bevor ich mir selber darüber klar geworden war. Und er ließ sich nicht leicht ins Bockshorn jagen; es war, als hätte er einen eingebauten Lügendetektor. Oder als würde er die … Auren von Leuten sehen, falls es so etwas gab. Ihm entging fast nichts.
Bisher hatte ich mir eingeredet, dass er einfach nur besonders aufmerksam war, aber offensichtlich steckte mehr dahinter. Und angesichts seiner Reaktion auf meine Frage war es nichts Gutes.
Ich wartete geduldig darauf, dass er sich an die Regeln hielt und seine Antwort näher ausführte. Er hatte sich kein bisschen bewegt, und sein Kinn ruhte immer noch auf meiner Schulter. Dann drehte er plötzlich den Kopf und drückte mir einen kurzen Kuss auf den Hals. Ich hörte ihn schlucken, bevor er flüsterte: „Weiter.“
„Oh nein!“ Ich wand mich aus seinen Armen und drehte mich zu ihm um, um ihn wütend anzufunkeln. Ich war außer mir. „Das ist gegen die Regeln. Du hast die Frage bereits angenommen, und du hast nie etwas davon gesagt, dass man bei einer Aufforderung, seine Antwort zu erklären, , weiter’ sagen kann.“
Hallo, Stirnfalte! Nein, dieses Mal falle ich nicht auf dich herein, sorry .
„Komm, Kiddo, du kannst jetzt nicht einfach aufhören!“, beharrte ich. „Sonst können wir das ganze Spiel auch gleich lassen.“ Ich hatte das Gefühl durchzudrehen, falls ich nicht auf der Stelle erfuhr, was mit ihm los war.
Seine Stirnfalte vertiefte sich. „So hast du mich schon mehrmals genannt. Warum?“
„Wie genannt?“
„Kiddo.“
„Lenk nicht vom Thema ab, Chris.“
„Tu ich nicht. Ich will’s nur wissen.“
„Dann hoffen wir mal, dass das eine der Fragen in meinem Umschlag ist“, feuerte ich zurück.
Er hob beschwichtigend die Hände und nickte. „Okay“, sagte er, und dann noch einmal: „Okay.“ Er stieß ein langes Seufzen aus, und dann – Schweigen. Ich hätte ihn am liebsten geschüttelt.
„Chris, ich schwöre, wenn du nicht gleich–“
„Du wirst ausflippen“, erklärte er, als wäre das eine unbestreitbare Tatsache.
„Falls es dir entgangen sein sollte – ich bin bereits am Ausflippen!“ Ich schrie beinahe. „Wieso kannst du mir nicht einfach sagen, was zum Henker mit dir los ist?“ Frustriert knüllte ich den Zettel, der das ganze Drama ausgelöst hatte, zusammen und warf ihn gegen Kiddos Brust. Er zuckte zusammen und machte einen schwachen Versuch, den Papierball zu fangen, sagte aber nichts. Sofort kam ich mir albern vor wegen meines Ausbruchs.
Bevor ich mich entschuldigen konnte, öffnete Kiddo den Mund, als würde er mir endlich antworten wollen, aber stattdessen nahm er nur einen hastigen, keuchenden Atemzug. Und dann noch einen. Es klang schrecklich. Als bekäme er nicht richtig Luft. Erst als er die Lippen schürzte, wurde mir klar, dass er versuchte, eine beginnende Panikattacke zu bekämpfen.
„Chris, was ist los? Hast du eine Panikattacke?“
„Nein … ich … ja!“ Seine Augen waren weit aufgerissen. Ich streckte meine Hand aus, und er ergriff sie ohne Zögern. „Nur eine Minute …“, keuchte er tonlos.
Scheiße! Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, außer seine Hand zu halten. Aber ich wusste ja, dass er in der Lage war, die Situation ohne Hilfe zu handhaben, also wartete ich einfach nur. Er fuhr fort, auf diese spezielle Art zu atmen, die er mir erst heute Morgen auf dem Balkon gezeigt hatte, und starrte mir dabei unentwegt in die Augen – als wäre diese Verbindung der Anker, den er brauchte, um nicht durchzudrehen.
Es war schrecklich, ihn so zu sehen, aber ich war nicht gewillt, meine Frage zurückzunehmen. Ich musste einfach wissen, welches Geheimnis er verbarg, und er musste da jetzt durch und endlich mit der Sprache herausrücken. Ich war überzeugt davon, dass die Antwort etwas mit seiner irrationalen Angst beim Sex zu tun hatte, über die er nicht reden wollte. Aber was immer es war, es schien etwas Grundlegendes zu sein, das ultimative Geheimnis meines seltsamen Jungen, die Lösung des Enigmas, das er war. Und ich konnte es nicht auf sich beruhen lassen.
Mein Herz schrie mich an, es gut sein zu lassen, ihn zu erlösen und ihm zu sagen, dass er nicht zu antworten brauchte, aber mein Verstand ließ es nicht zu Wort kommen. Also biss ich die Zähne zusammen und ertrug seinen gehetzten Blick. Ich hielt einfach weiter seine Hand und wartete darauf, dass es vorbeiging. Es gab nur noch eine andere Sache, die ich tun konnte …
„Chris, hör mir zu. Ich verspreche dir, ich werde nicht ausflippen. Hörst du, was ich sage?“
Sein Gesicht zeigte keine sichtbare Reaktion; er atmete einfach nur kontrolliert weiter durch seine geschürzten Lippen. Aber er drückte meine Hand und blinzelte. Zweimal. Ich wertete das als ein Ja.
Für die folgenden zwei Minuten, die für Kiddo, wie ich wusste, eine Ewigkeit waren, sah ich zu, wie er sich langsam beruhigte. Schließlich schloss er die Lippen und atmete durch die Nase. Sein Körper war immer noch angespannt, und meine Hand tat weh, weil er sie so fest umklammerte. Ich erinnerte mich an meinen eigenen erschreckenden Anfall auf dem Balkon, und bevor ich wusste, was ich sagte, flüsterte ich: „Was immer du mir sagen wirst, es wird nichts zwischen uns ändern. Ich werde nicht weggehen, und ich werde dich nicht fortschicken, okay?“
Er schloss die Augen, erlöste mich von seinem eindringlichen Blick. Und zu meiner großen Erleichterung, ließ der unerträgliche Drang, seinem stummen Flehen nachzugeben, ebenfalls sofort nach, und mein Herz hörte auf zu kreischen, wofür ich enorm dankbar war.
Ohne die Augen zu öffnen, begann Kiddo zu sprechen. „Es ist nicht so, als würde ich die Gedanken von Leuten hören“, krächzte er. „Keine Worte, weißt du?“
„Okay.“ Ich ergriff auch seine andere Hand und streichelte mit den Daumen beruhigend seine Handrücken.
„Hast du schon einmal etwas von einem … Zustand namens Synästhesie gehört, Jan?“
Synäs … was?
Ich wühlte in den Ablagen meines Gehirns mit der Aufschrift A llgemeinbildung , fand aber nichts. Es hörte sich überhaupt nicht wie etwas Schlechtes an; es klang schön, wie der Name einer Orchidee oder … einer dieser neuen Freizeitdrogen, dieses Zeug, das einem ständig in den Clubs angeboten wurde. Scheiße! War Kiddo auf irgendwelchen Drogen? Alles in mir sagte nein, aber konnte ich da so sicher sein?
Kiddo blickte auf und musterte mich nervös. Mir wurde klar, dass ich ihm noch gar keine Antwort gegeben hatte. „Ich fürchte, ich habe noch nie davon gehört“, beeilte ich mich zu sagen. „Erklärst du es mir, bitte?“
Er nickte stumm. Offenbar hatte er diese Antwort erwartet. „Es ist eine Art neurologische Störung, abnorme Wahrnehmungen. Leute, die das haben, die … also, es ist …“ Er schluckte. „Ich sehe Dinge.“
Er verengte die Augen und schaute mich an, als würde er sich immer noch gegen den unvermeidlichen Schlag in den Magen wappnen, und die Frage war nicht, ob er kam, sondern nur wann.
„Dinge?“, fragte ich.
Er sprach hastig, als er fortfuhr. „Es gibt auch akustische Phänomene, aber sie sind nicht so stark und auch schwerer zu lesen als die visuellen Muster. Ich lese sie nicht die ganze Zeit, weißt du, ich kann das kontrollieren. Wirklich!“ Er nickte noch einmal, ob um mich zu überzeugen oder sich selbst, war schwer zu sagen. Aber seine letzte Aussage schien ihm besonders wichtig zu sein – Kontrolle, Selbstbeherrschung. Ja, nach allem, was ich bisher gesehen hatte, war Kontrolle sein zweiter Vorname.
„Ich meine, ich könnte … ich kann es immer noch.“ Ein kurzes Schaudern lief durch seinen Körper. Ich ließ eine seiner Hände los und berührte zärtlich seine Wange. Er legte den Kopf in meine Handfläche und atmete langgezogen aus. „Es ist jetzt anders“, flüsterte er.
„Chris, ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was du mir sagen willst. Aber für mich hört sich das nicht so schlimm an, glaube ich. Ich würde gern mehr darüber erfahren, warum es dir solche Angst macht. Was ist das Problem?“
„Okay.“ Er legte seine Hand auf meine, dann drehte er den Kopf und küsste meine Handfläche, bevor er unsere Hände wieder zurück auf seine gekreuzten Beine legte.
„Okay, Time-out!“, sagte ich und zwang mich, etwas munterer zu klingen. „Wäre es leichter für dich, wenn ich Fragen stelle, sodass du nur ja oder nein sagen musst?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht? Ich will es dir wirklich erklären, Jan.“
„Na gut, lass mal sehen … du sagst, du siehst Dinge. Ist so wie Halluzinationen? Wie ein LSD-Trip oder sowas?“ Ich fischte ziemlich im Dunkeln. Aber irgendwo musste ich schließlich anfangen. Die Frage war so gut oder schlecht wie jede andere.
„Ich denke, es ist so ähnlich, aber ich bin nicht sicher. Ich habe noch nie LSD genommen.“
„Oh, tut mir leid. Natürlich nicht. Ich wollte damit nicht andeuten–“
Er lächelte schief und zuckte die Achseln. „Schon gut, Jan. Ist nicht so, als würde ich noch irgendwelches zusätzliches Zeug brauchen, um meinen Verstand zu entfesseln, also …“ Er schien jetzt ein wenig entspannter zu sein, was mich ermutigte.
„Okay, also was … siehst du bunte Farben oder wilde Muster oder …?“
„Farben, Muster, Gitter, Wellen, Funken, alles davon. Kommt drauf an.“
„Wann siehst du diese Dinge?“
„Die ganze Zeit.“ Er zögerte einen Moment, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber dann schüttelte er nur den Kopf und schnaubte. „Die ganze Zeit“, wiederholte er leise.
„Okay. Und diese Dinge, die du siehst, zeigen dir, was Leute denken?“ Mir wurde klar, dass ich mein Versprechen, nicht auszuflippen, ein wenig leichtfertig gegeben hatte. Ich war nämlich recht kurz davor. Diese Unterhaltung war mehr als bizarr. Ich musste mich daran erinnern, dass er immer noch Kiddo war, mein wunderbarer Junge.
Bitte gehen Sie einfach weiter. Es gibt hier nichts zu sehen. Nur Chris, und er liest Gedanken … heilige Scheiße .
„Nicht wirklich. Es ist nichts Übernatürliches, nicht so wie in Fantasyfilmen oder so.
Ist es nicht? Ha.
„Ist es ein verbreitetes Phänomen, diese Synästhetik? Ich meine, findet man darüber was im Internet?“
„Synästhesie“, korrigierte er. „Nein, es ist nicht sehr verbreitet, glaube ich. Aber es ist bekannt, du kannst es googeln.“
„Dann ist es vielleicht eine gute Idee, wenn ich das tue. Bevor wir weiter darüber reden, meine ich.“ Er sah nicht sehr begeistert aus, aber das war mir gleich. Ich hatte das starke Gefühl, dass unser Gespräch wieder einmal nicht wirklich zu etwas führte, und ich war entschlossen herauszufinden, was dieses Synäs-Dingsbums war.
In diesem Augenblick begann Kiddos Rucksack zu singen. Jeff Buckley schaffte es fast durch die ganze erste Strophe von „I Want Someone Badly" , bevor Kiddo hinübergriff, sein Handy herausholte und abschaltete, ohne auf das Display zu schauen.
„Willst du gar nicht wissen, wer dich anruft?“, fragte ich.
„Der Einzige, der mich je anruft, ist Wolf.“
„Oh je, dann rufst du ihn besser sofort zurück! Als er dich das letzte Mal nicht erreichen konnte, drohte er damit, mir die Bullen auf den Hals zu hetzen“, erinnerte ich Kiddo.
Kiddo schüttelte seufzend den Kopf. Ich bekam leichte Panik – ganz ehrlich, ich war wirklich nicht scharf darauf, bei Onkelchen Wolf in Ungnade zu fallen. „Ruf ihn zurück, Chris. Tu mir den Gefallen, bitte.“
Er antwortete nicht, drückte aber die Kurzwahltaste und hielt das Handy an sein Ohr. Als die Verbindung zustande kam, stand er vom Bett auf und ging zur Tür.
„Ja, hi … tut mir leid, nein, war nur schlechtes Timing gerade … ja, es geht mir gut …“
Seine Stimme wurde leiser, als er mein Schlafzimmer verließ, bis nur undeutlich gedämpftes Gemurmel zu hören war. Ich beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, um mir endlich etwas anzuziehen. Die Zeit für Bettgeflüster war ohnehin vorbei, genau wie für Jockstraps oder anderen Firlefanz.
Ich zog normale Boxershorts, Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt an. Ich bekam normal und schlicht sehr gut hin, wenn ich wollte.
Als ich durch den Türspalt lugte, sah ich Kiddo auf dem Sofa sitzen, komplett angezogen. Er telefonierte immer noch mit seinem Onkel, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, während er seine Schuhe schnürte. Offenbar hatte er auch keine Lust mehr auf Bettgeflüster.
„Ich weiß nicht, Wolf … heute?“ Er blickte auf und lächelte mich kurz an, als ich den Raum betrat. „Ich frage ihn … ja, okay … Ich rufe dich in ein paar Minuten zurück … okay, bis gleich.“ Er legte auf, dann erhob er sich und schaute mich aufmerksam an.
„Was?“, fragte ich. Das gefährlich sexy, schiefe Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.
„Sieht aus, als hätten wir die gleiche Idee gehabt.“ Er wedelte mit der Hand zwischen uns hin und her. „Du siehst gut aus.“
Werde jetzt nur nicht rot, Wegener! Ach … zu spät.
„Noch nicht, aber ich arbeite daran“, murmelte ich, während ich mich umdrehte und ins Bad ging. Mit einem Blick zurück über die Schulter fragte ich: „Was hat Wolf gewollt? Es hörte sich gerade so an, als solltest du mich etwas fragen?“
Er folgte mir zögernd und blieb in der Badezimmertür stehen. „Er möchte dich zum Mittagessen einladen.“
„Oh mein Gott!“, rief ich, und Kiddo zuckte zusammen, als hätte ich nach ihm geschlagen. „Nein, nicht du!“, versicherte ich ihm hastig. „Oder … doch, Mittagessen, was zum Henker? Ich meine, echt jetzt, was zum Henker, aber … oh mein Gott. Scheiße!“
„Was ist los?“ In weniger als einer Sekunde stand er hinter mir und sah mir durch den Spiegel besorgt in die Augen.
Ich riss die Hände in die Luft und wimmerte: „Meine Haare! Was hast du mit mir gemacht, um Himmels willen? Sehe ich schon die ganze Zeit so aus? Wieso hast du nichts gesagt?“
Das Desaster auf meinem Kopf als Sex-Haare zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Der Kerl im Spiegel war ein verdammter Neandertaler! Entsetzt nahm ich Bürste und fing hektisch an, die verfilzten Strähnen zu glätten.
Plötzlich griff Kiddo um mich herum und hielt die Hand auf. „Darf ich?“, fragte er leise.
Ich erstarrte und schaute ihn verblüfft im Spiegel an. „Du willst mir das Haar bürsten?“
„Erlaubst du? Bitte“, sagte er.
Widerstandslos ließ ich mir von ihm die Bürste aus der Hand nehmen. Mein dümmlicher Gesichtsausdruck vervollständigte meine Höhlenmensch-Erscheinung, aber ich war wirklich verdattert.
Er will mir das Haar bürsten!
„Es ist total verknotet; das wird ziepen“, protestierte ich jammernd. Wie ein zartes Prinzesschen.
Herrje, wie alt bist du, Wegener, fünf?
Er beugte sich vor, küsste mich in die Halsbeuge und flüsterte: „Nein, wird es nicht. Vertrau mir.“ Dann trat er einen kleinen Schritt zurück und ging ans Werk.
Es war die reinste Wohltat. Herrlich. Kiddo kümmerte sich um mein Haar wie ein Profi, und ich hätte am liebsten geschnurrt. Er teilte einzelne Strähnen ab und hielt sie fest in einer Hand, um zu verhindern, dass die Bürste an den Wurzeln zog. Dann begann er an den Spitzen, die Knötchen herauszukämmen, und arbeitete sich Stück für Stück nach oben.
Es war offensichtlich, dass er das schon früher gemacht hatte, oder dass jemand ihm gezeigt hatte, wie es geht. Vielleicht hatte er eine Schwester? Oder frisierte er die Damen im Altersheim?
Der einzige Mensch, der mir je das Haar gebürstet hatte, war meine Mutter gewesen, so weit ich mich erinnerte. Selbst als ich noch ein Steppke war, wollte ich immer, na ja … hübsch aussehen. Ich hatte als kleiner Junge schon langes Haar.
Meine Mutter hatte sich nie Gedanken um meine Männlichkeit gemacht oder sich überhaupt groß um Geschlechterrollen geschert. Sie liebte mein Haar, ließ es wachsen und bürstete es regelmäßig. Und es war für mich der Inbegriff von Liebe und Fürsorge gewesen, ein warmes, kribbelndes Gefühl, das in meinem Bauch begann und sich langsam ausbreitete, bis hinauf in meine Kehle und meinen Mund, wo es dann blieb … wie das Gefühl von süßer Schlagsahne, die langsam hinten auf der Zunge schmolz.
Genau dieses Gefühl empfand ich nun, während Kiddo mein Haar bürstete. Ich summte leise vor mich hin, schloss wohlig die Augen und ließ mich zurücksinken in dieses Kindheits-Déjà-vu von Liebe und Fürsorge.
„Also, was sagst du?“, hörte ich Kiddo fragen. „Willst du kommen?“
Ich brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, wovon er redete. „Oh. Mittagessen bei Wolf. Richtig. Ich weiß nicht … wieso lädt er mich überhaupt ein?“
Ich wollte die Augen aufmachen, aber Kiddos geschickte Hände hatten sich inzwischen bis ganz nach oben gearbeitet, und die Bürstenstriche auf meiner Kopfhaut lullten mich zu sehr ein. Meine Lider schienen aus Blei zu sein.
„Ich glaube, er will einfach nur den berühmt-berüchtigten Jan persönlich kennenlernen“, sagte Kiddo. „Es ist übrigens ein guter Tag fürs Mittagessen in Parkallee-Sonnenhaus. Dienstags gibt es Pizza. Magst du Pizza?“
„Klar“, murmelte ich.
Die hypnotisierenden Bürstenstriche hörten auf, und ich öffnete die Augen. Kiddo hatte die Bürste zur Seite gelegt und fächerte nun mein Haar mit den Händen auf. Es war vollkommen glatt und glänzte wieder, und die ganze Prozedur hatte kein bisschen wehgetan.
„Das hast du toll gemacht“, lobte ich. „Danke.“
Er lachte leise. „Um ehrlich zu sein, habe ich es wahrscheinlich mehr genossen als du. Du hast wunderschönes Haar, Jan.“ Er bündelte meine knapp schulterlange Mähne in einer Hand und schaute mich über meine Schulter hinweg im Spiegel an. „Pferdeschwanz?“
Ohne Zögern reichte ich ihm ein Haargummi. Mich wunderte inzwischen gar nichts mehr. Muss ich noch extra erwähnen, dass der Pferdeschwanz Marke Kiddo ebenfalls perfekt war?
Ich war ein wenig traurig, dass die wohlige Behandlung schon vorbei war, aber ich spürte immer noch ein wenig dieses Süße-Schlagsahne-Gefühl, und ich hatte mich kaum umgedreht, da hing ich auch schon an Kiddos Hals und küsste ihn leidenschaftlich, bevor ich wusste, was ich tat.
Er stöhnte und zog mich fest an sich. Als unsere Zungen sich trafen – oh, hallo, Schmetterlinge – fragte ich mich kurz …
„Chris“, flüsterte ich an seinen Lippen, „Siehst du … ich meine, jetzt in diesem Moment, siehst du Dinge?“
„Gott, Jan.“ Er lehnte sein Stirn an meine und atmete lang aus. „Ja, das tue ich.“
Ich streichelte sein Haar. „Was, Chris? Was siehst du, Liebes?“
„Violett“, sagte er mit rauer Stimme. „Allein dieses Wort …“
„Welches Wort?“
„Liebes. Das Wort aus deinem Mund ist eine Explosion aus Violett-Tönen. In dem Augenblick, da du es aussprichst. Winzige Sterne und Funken. Sie sind …“ Er schloss fest die Augen, suchte nach Worten. „Sie entstehen aus einer leuchtenden Mitte und umkreisen sie, aber auf verschiedenen Orbits, und sie … kreuzen ihre Laufbahnen, verglühen und entstehen neu, und dann …“
Er öffnete die Augen und ließ die Schultern hängen. „Ich kann nicht, Jan. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.“
„Aber das klingt wunderschön!“ Ich war total bezaubert. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie fantastisch das aussehen musste.
„Ja, das ist es auch … bei dir. Sonst eher nicht. Aber ich habe gelernt, es im Zaum zu halten, also … du musst dir keine Sorgen machen. Ich würde dir nie wehtun, Jan.“
„Wieso … natürlich nicht!“ Ich verstand es nicht. „Ich denke überhaupt nicht, dass ich mir über irgendetwas Sorgen machen müsste. Ich finde es faszinierend, wie dein Verstand arbeitet.“
Plötzlich ließ Kiddo mich los, trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Er sah beinahe wütend aus.
„Faszinierend?“, schnaube er bitter. „Jan, mein Verstand ist ein gefährlicher Abgrund.“
„Wieso sagst du so etwas?“ Mein Herz begann zu rasen. Was meinte er damit. Gefährlich?
„Vergiss es.“ Er straffte die Schultern und schenkte mir ein kleines Lächeln – es wirkte nicht sehr aufrichtig. „Wäre es für dich okay, wenn wir ,Chris, der Freak’ auf meinem Computer googeln würden anstatt auf deinem? Wolf wartet darauf, dass ich zurückrufe und ihm sage, ob du kommst oder nicht.“
Sein Sarkasmus und seine Selbstentwertung taten weh, aber ich zählte innerlich bis zehn und beschloss, es für den Moment dabei bewenden zu lassen. Schön! Vielleicht würde es ganz aufschlussreich sein, Onkelchen zu besuchen und zu sehen, wo und wie Kiddo lebte. Mein Herz tat noch ein paar weitere holperige Schläge, bevor es sich wieder beruhigte.
„Sag ihm vielen Dank, und ich komme gern“, antwortete ich geschäftsmäßig. „Wann, sagtest du, ist heute Pizza-Time?“
„In einer Stunde. Die alten Damen essen um zwölf, aber das Personal isst etwas später, so um eins. Wir sollten trotzdem bald aufbrechen, wenn wir den guten Stoff nicht verpassen wollen – die berühmte Pizza Hawaii á la Parkallee-Sonnenhaus, Spezialität für die Sorg- und Zahnlosen.“ Und da war das schiefe Grinsen wieder.
Tja, verdammt.
„Klingt verlockend“, murmelte ich.
Kiddo machte mich echt wahnsinnig. In einem Moment hätte ich ihn am liebsten übers Knie gelegt, und zwei Sekunden später verwandelte er mit seinem Charme besagte Knie in Pudding. Ich erwiderte verlegen sein Grinsen.
„Aber das Ganze ist schon ein bisschen komisch, findest du nicht?“, sagte ich. „Ich komme mir vor, als würde ich den Eltern vorgestellt oder sowas.“ Und einer ganzen Kompanie Großmütter noch dazu.
Kiddo lachte, als er sein Handy nahm. „Nein, so ist das nicht. Kein bisschen. Du wirst schon sehen.“
Kapitel 23
Marsch, Fahrt und Aufprall
Kiddo hatte recht. Es war kein bisschen so wie der Vorstellungsbesuch bei den Eltern. Meine Erinnerungen an jenen Dienstagnachmittag – erst mit Kiddo, dann mit Kiddo und Wolf, und am Ende wieder allein mit Kiddo – waren stets ein verschwommenes Durcheinander.
Außer ich unterteilte im Kopf das unerwartete Auf und Ab der Ereignisse in den Marsch , die Fahrt und den Aufprall . Das half mir, die Dinge in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. Es half mir allerdings nicht, alles zu begreifen, was an diesem Tag passierte. Denn nach dem Aufprall, in Kiddos Zimmer, wurden die Geschehnisse nur noch surrealer.
Aber der Reihe nach …
Der Marsch
Es war seltsam, mit Kiddo an meiner Seite bei hellem Tageslicht zum Bahnhof zu gehen. Die ganze Zeit fragte ich mich, was für ein Bild wir beide wohl in den Augen eines Fremden abgeben mochten. Ich fühlte mich irgendwie bloßgestellt und erwartete beinahe, jemand würde gleich mit dem Finger auf uns zeigen und sagen: „Ich weiß, was ihr seid!“ , was meinen elfenhaften Begleiter mit Sicherheit in die Flucht geschlagen hätte. Unangenehm.
Aber ernsthaft, was waren wir? Freunde? Ein Paar für einen Tag? Ein Opfer des Twinkjammers und sein Bettspielzeug, wie mein aufgebrachter Nachbar (und nun Ex-Liebhaber) Kiddo so nett bezeichnet hatte? Ich weigerte mich, das so zu sehen. Aber immerhin war ich der MANN – in Großbuchstaben.
Ja, genau.
Kiddo schien ebenfalls nicht besonders glücklich zu sein. Er ging mit gesenktem Kopf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, und starrte auf seine Füße. Aber von Zeit zu Zeit warf er mir kurze Blicke aus dem Augenwinkel zu.
Scheiße, beobachtet er mich? Sieht er … Dinge?
„Kann ich dich etwas fragen Chris?“
„Sicher.“
„Die violetten Dinge, die du gesehen hast, als ich ,Liebes’ sagte“ – ich musste mich kurz räuspern, bevor ich fortfahren konnte – „ähm … was haben die dir über meine Gedanken verraten?“
„Jan …!“, stöhnte er.
„Aber du hast gesagt, es ist wie Gedanken lesen. Also muss das ganze violette Funkeln und Wirbeln doch eine Bedeutung haben. Richtig?“
Wir hatten beinahe den Bahnsteig erreicht. Ich drehte mich um und lief die letzten paar Schritte rückwärts vor ihm her. „Komm schon.“ Ich duckte mich ein wenig und neigte den Kopf, damit er mich ansehen musste. „Chris?“
Er sah auf, mit leicht gequältem Blick. „Du wirst keine Ruhe geben, oder?“
„Stimmt. Werd’ ich nicht.“
Der kleine Vorstadtbahnhof war um diese Tageszeit verlassen. Wir blieben an derselben Stelle stehen, wo er am Tag zuvor auf mich gewartet hatte. War das wirklich erst gestern gewesen?
Kiddo wandte den Blick ab und starrte erneut auf seine Füße. Immer wieder trat er nervös mit der Schuhspitze gegen die Kante eines losen Pflastersteins. Nach fünf- oder sechsmal Treten sagte er: „Ich hab’ gesehen, dass du es meintest.“
Mein Körper ging mit einem kleinen Adrenalinstoß in Alarmstufe Eins über. „Dass ich was meinte? Liebes? Natürlich meinte ich das. Ist mir so rausgerutscht. Du warst so niedergeschlagen, und ich wollte einfach … es ist nur so ein Kosewort; Leute sagen das andauernd, weißt du? Es hat keine tiefere Bedeutung, es ist nur …“
Abgelenkt von seinem manischen Treten, das mit jeder Sekunde heftiger und schneller wurde, verlor ich meinen Redefluss. Mir wurde bewusst, dass ich ohne Sinn und Verstand faselte.
Und dann begann Kiddo plötzlich leise zu reden, und die Bitterkeit in seiner Stimme war bestürzend. Er knurrte seine Worte beinahe, während er auf den Boden starrte und weiter gegen die Steinplatte kickte.
„Du hast recht; Leute sagen es andauernd. Und wenn sie es tun, ist es wie eine Satellitenschüssel im Platzregen.“
(Kick!)
„Anstelle einer klaren Botschaft bekommst du nichts als Statik rein, rosa Rauschen und graues Flackern, und es verursacht dir Kopfschmerzen.“
(Kick!)
„Du versuchst, dein Empfangsgerät besser einzustellen, aber es hilft nichts.“
(Kick!)
„Du schaltest hin und her, weil du einfach nicht fassen kannst, dass niemand je meint, was er sagt. Aber wohin du auch siehst, es ist auf allen Kanälen das Gleiche. Schließlich gibst du auf und schaltest das ganze Ding einfach ab.“
(Kick!)
„Knistern und Rauschen und Flackern – das ist, was ich bei dem sehe, was Leute andauernd sagen , Jan. Das ist die Welt, in der ich lebe. Daran ist nichts schön oder faszinierend. Mir wird schlecht davon.“
Das Kicken endete, und Kiddo hob den Kopf. „Es macht mich wütend, die ganze Zeit, und manchmal …“ Er verstummte und schloss für eine Sekunde die Augen, bevor er betont hinzufügte: „Ich muss mich ständig beherrschen.“
Ich starrte ihn einfach nur an und versuchte zu begreifen, was er mir soeben enthüllt hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein musste, mit so verstörenden Visionen zu leben. Mir tat das Herz weh, als das Bild langsam sackte.
In einem hilflosen Versuch, ihn zu trösten, streichelte ich unbeholfen seine Oberarm. Jetzt tat es bedauerte ich es, ihn so gedankenlos gedrängt zu haben.
„Es tut mir leid, Chris.“ Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.
„Das muss es nicht. Ich habe den ganzen Mist schon vor Jahren aufgegeben. Ich versuche, so wenig wie möglich mit Leuten zu reden. Und wenn ich reden muss, dann kann ich diese Wahrnehmungen fast auf Null herunterschrauben. Mit Leuten zu reden gehört sowieso nicht zu meinen Stärken, wie du ja weißt. Können wir jetzt das Thema wechseln, bitte? Der Zug kommt übrigens.“
„Okay“, sagte ich und machte einen Schritt auf ihn zu. Ich zögerte kurz, weil ich nicht sicher war, ob er eine Umarmung wollte oder nicht. Aber er kam mir entgegen und zog mich in seine Arme. Sein Mund war dicht an meinem Ohr, und über den Lärm der einfahrenden Regionalbahn hinweg hörte ich seine eindringlichen Worte:
„Als du mich Liebes genannt hast, hast du nicht geflackert, Jan.“ Er küsste mich auf die Schläfe, presste seine Lippen heftig auf meine Haut. „Du hast nicht geflackert“, wiederholte er.
Dann ließ er mich los, nahm meine Hand und zog mich zum wartenden Zug.
Die Fahrt
Sobald wir in dem kaum besetzten Abteil waren, ließ ich mich auf eine der Sitzbänke fallen. Kiddo blieb für einen Moment stehen und schaute mich fragend an. Ich klopfte auf die Sitzfläche neben mir und wurde dafür mit einem Lächeln belohnt – dem ersten, seit wir meine Wohnung verlassen hatten. Es war eigentlich nur die schwache Andeutung eines Lächelns, aber ich fühlte mich trotzdem so, als wäre mir eine Last vom Herzen genommen worden.
Kiddo setzte sich neben mich, und ich lehnte mich ohne zu zögern an seine Schulter. Einen Moment später drehte Kiddo den Kopf, gab mir einen Kuss auf die Schläfe und seufzte in mein Haar.
Ich schloss die Augen, um die wenigen anderen Passagiere auszublenden. Ich wollte ihre Mienen nicht sehen.
Zwar wusste ich, dass ich nicht so alt aussah, wie ich war, und wahrscheinlich achtete sowieso niemand wirklich auf uns, aber ich konnte nicht anders – es war mir ein wenig unangenehm, in der Öffentlichkeit allzu kuschelig mit Kiddo zu werden.
Das Bedürfnis, für ihn da zu sein und ihn meiner Freundschaft zu versichern, war jedoch stärker. Also blieb ich, wo ich war, und versuchte mich zu entspannen.
„Hey“, sagte ich. „Wir haben ein paar Minuten. Gib mir deinen Rucksack.“
Anstatt ihn mir zu reichen, umklammerte er das hässliche Ding nur noch fester. „Warum?“
Herrje, ich werde ihn dir schon nicht klauen!
„Ich will nur eine Frage aus meinem Umschlag ziehen. Ich finde, jetzt bin ich mal mit Antworten dran. Wenn du Lust hast?“
„Oh … ja, klar.“ Sein Gesicht leuchtete auf. Er öffnete seinen Rucksack und nahm das Origami-Kunstwerk heraus, das seine Fragen an mich enthielt. Ich griff hinein und rührte scherzhaft mit dem Zeigefinger die gefalteten Zetteln ordentlich durch, bevor ich einen herauszog und damit vor Kiddos Gesicht herumwedelte.
Er lachte leise. Mein Herz machte einen kleinen Freudensprung – Kiddo lachte wieder!
„Okay, lass mal sehen.“ Ich faltete den Zettel auseinander und las laut: „ Kann ich mir deine Ausgabe von Elfenherz ausleihen? Was?“ Ich hüstelte. „Wieso willst du dir das ausleihen? Warum ausgerechnet dieses Buch?“
Er antwortete nicht, sondern sah mich nur streng an und hob betont eine Augenbraue. Offenbar wartete er auf etwas. Besagten die Regeln denn nicht, dass ich auch bei einer Frage nach einer genaueren Erklärung verlangen durfte?
Oh! „Erklär mir das!“ Ich verdrehte die Augen, und er lachte erneut.
„Okay. Ich habe das Buch bei dir gesehen, und du hast es praktisch zu Tode geliebt. Oder … das warst doch du, ja?“
Ich nickte unbehaglich.
„Der Einband ist abgegriffen, die Seiten haben Eselsohren, und es sind lauter Post-its und Notizzettel drin. Kein anderes Buch in deinem Regal sieht so aus. Ich bin nur neugierig, weil es dir so viel zu bedeuten scheint. Außerdem habe ich den Klappentext gelesen, und der Name der Hauptfigur ist Chrysander, beziehungsweise Chrys. Ich fand das einen witzigen Zufall.“
So witzig.
„Ich könnte mir das Buch natürlich auch selbst kaufen, aber ich würde wirklich gern deins lesen, und deine Notizen dazu. Also … kann ich es ausleihen?“
„Nein“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
Er zuckte lächelnd mit den Schultern. „Okay.“
„Willst du nicht, dass ich dir meine Antwort erkläre?“
„Nein. Ich verstehe schon, wenn dir das zu persönlich ist. Ich werde mir das Buch einfach kaufen.“
Puh, das war knapp! Es war schon peinlich genug, dass er es lesen wollte und nun wahrscheinlich wusste, dass ich auf Teenager-Lektüre stand. Aber zumindest würde er nicht meine persönlichen Anmerkungen und Notizen sehen. Großer Gott, ich hatte Gedichte über Chrysander verfasst! Und irgendwo zwischen den Seiten steckte ein Entwurf für ein Fanshirt-Design, falls ich mich recht erinnerte.
Ich war froh, dass er meine Ablehnung nicht persönlich nahm und sie ihm offenbar nichts ausmachte; er lächelte immer noch. Gut.
„Soll ich noch eine andere Frage ziehen?“ Ich hoffte, dieses Mal mehr Glück zu haben.
„Ja, bitte.“ Sein Arm um meine Taille drückte mich erwartungsfroh.
Ich lächelte erleichtert, nachdem ich den nächsten Zettel auseinandergefaltet hatte; diese Frage war harmlos. „ Falls Jan die Kurzform von etwas ist, wie lautet dein voller Vorname? “, las ich laut vor. „Okay, die Antwort ist: Keine Kurzform, ich heiße einfach nur Jan.“
„Wirklich? Okay. Der Name passt perfekt zu dir.“
„Findest du?“
„Möchtest du , Erklär mir das’ sagen?“, neckte er mich und rieb seine Nasenspitze an meiner Wange. „Ich glaube nicht, dass es eine Regel gibt, die – autsch!
Ich hatte ihn auf die Brust geboxt. „Lass. Den. Quatsch“, forderte ich und pikste ihn bei jedem Wort mit dem Zeigefinger in den Bauch.
„Okay, okay!“ Er wand sich und lachte.
Es war verrückt, wie gut es sich anfühlte, ihn so zu sehen. Die Welt war ein hellerer Ort, wenn Kiddo lachte.
„Der Name ist eigentlich schon eine Kurzform, nämlich von Johannes“, erklärte er, nachdem ich meine Folter eingestellt hatte. „Aber ursprünglich entstammt er dem hebräischen Wort Jochanan aus dem Tanach, der jüdischen Bibel, und bedeutet ,Gott ist gnädig’. Man könnte also sagen, Jan ist ein Geschenk Gottes.“
„Mh-hm.“ Ich sah zweifelnd zu ihm auf. „Woher weißt du sowas?“
Er zuckte die Achseln. „Um ehrlich zu sein … ich hab’s gestern gegoogelt, nachdem wir uns im Zug einander vorgestellt hatten. Es gab da eine ganze Reihe von Namen, die mit Jan anfingen, oder deren Kurzform Jan war. Ich habe mich etwas in die Materie eingelesen in der Hoffnung, ich würde Gelegenheit bekommen, dich mit meiner Brillanz zu beeindrucken.“ Er schaute mich schmunzelnd an. „War es die Mühe wert? Bist du beeindruckt?“
„Sehr“, bestätigte ich. „Ich fange beinahe an, meinen Namen zu mögen.“
„Aber nachdem ich dein Buch gesehen habe – das du mir nicht leihen willst – gefällt mir dein Name sogar noch besser.“
„Wieso das?“, fragte ich argwöhnisch.
„Weil die andere Hauptfigur Janette heißt, was sich“ – er küsste mich sanft auf die Stirn – „mit Jan abkürzen lässt, also“ – noch ein Kuss auf meine Nase – „Jan und Chrys.“ Der letzte Kuss fand meine Lippen und scheuchte wieder einmal meinen inneren Schwarm von Tagfaltern aus ihrer Mittagsruhe auf.
Ich schluckte. „So, so.“ Offenbar hatte ich mich geirrt – es gab keine harmlosen Fragen bei Kiddo.
Kiddo nahm meine Hand und verschränkte unsere Finger miteinander. „Ich fand das schön. Aber keine Angst, ich werde dich nicht Janette nennen.“
„Ja. Nein, ich meine … bleiben wir vorerst einfach bei Jan, okay?“
„Okay.“
Der Aufprall
Als wir an der Station Parkallee aus dem Zug stiegen, hatte ich mich so an das Gefühl von Kiddos Hand in meiner gewöhnt, dass ich ganz vergaß, mich deswegen komisch zu fühlen. Es gefiel mir viel zu gut. Mir gefielen auch seine kleinen Küsse auf meiner Wange und meinem Hals. Aber am meisten gefiel mir zu sehen, wie glücklich es Kiddo machte, dass ich ihm erlaubte, mich wie seinen festen Freund zu behandeln. Und so gingen wir Hand in Hand durch den Park.
Ja, es war der Park. Wir redeten unterwegs nicht, aber als wir die Ecke passierten, an der wir unsere erste Begegnung hatten, drückte Kiddo kurz meine Hand. Als ich zu ihm aufsah, lächelte er mich so liebevoll an, dass mein Bauch zu kribbeln begann.
Nach wenigen Schritten kam Parkallee-Sonnenhaus in Sicht. Ich wand mich innerlich bei dem Gedanken, dass ich Kiddo praktisch auf der Türschwelle der Seniorenresidenz sexuell belästigt hatte. Zu meiner Überraschung nahmen wir nicht den Haupteingang, sondern gingen weiter an der hohen Hecke entlang, bis wir einen schmalen Seiteneingang erreichten. Ich schaute Kiddo fragend an.
„Es ist besser, wenn wir nicht durch das Hauptgebäude gehen, sonst kommen wir vor Sonnenuntergang nicht bei Wolf an“, erklärte er grinsend. „Nach dem Mittagessen führe ich dich ein wenig herum. Dann siehst du, warum.“
Ich zuckte die Achseln. „Wenn du das sagst.“
Und falls ich dadurch fürs Erste die Begegnung mit den betagten Bewohnern der Einrichtung vermeiden konnte, würde ich mich nicht beschweren. Onkelchen Wolf war für einen Tag völlig ausreichend in Sachen Seniorentreffen.
Wir kamen zu einer Gruppe kleiner Nebengebäude, die von weitläufigen Grünflächen mit Koniferen, Büschen und kleinen Laubbäumen umgeben waren. Kiddo hatte recht – es war wirklich schön hier, und man konnte leicht vergessen, dass es sich um ein Altenheim handelte.
Es waren allerdings auch weit und breit keine Rentner zu sehen, wahrscheinlich weil es Mittagszeit war. Die einzig anwesende Person war definitiv zu jung, um einer der Bewohner zu sein. Es war ein Gärtner, der einen der Büsche beschnitt – ein ziemlich gut gebauter Gärtner in gebückter Haltung.
Netter Hintern. Wenn so das Personal hier aussieht, sollte ich mir fürs Alter rechtzeitig einen Platz reservieren .
Mir fiel erst auf, dass Kiddo mich geradewegs in Richtung des sexy, Heckenscheren schwingenden Kerls zog, als er mir ins Ohr flüsterte: „Okay, bist du bereit?“
Bereit wofür? Wollte er mich zuerst seinen Arbeitskollegen vorstellen? Ich hatte mich darauf vorbereitet, seinen grantigen und überbehütenden Onkel zu treffen, und um ehrlich zu sein, wollte ich das so schnell wie möglich hinter mich bringen.
Wir waren nur noch wenige Schritte entfernt, und ich öffnete gerade den Mund, um zu protestieren, als der Gärtner sich aufrichtete und zu uns umdrehte. Ich klappte meinen Mund wieder zu und fragte mich unwillkürlich, ob es so etwas wie ein Mindestalter gab, das mich davon abhalten könnte, auf der Stelle hier einzuziehen.
Ich hab’s mir anders überlegt – bitte stelle mich deinen Arbeitskollegen vor!
Die Rückenansicht war ja schon recht anziehend gewesen, aber die Vorderseite des Gärtners war umwerfend, mit breiten Schultern unter seinem weißen T-Shirt und bemerkenswert muskulösen Armen. Er war ein wenig kleiner als Kiddo, aber kein bisschen weniger attraktiv. Sein Haar war ultrakurz und dunkel, genau wie der Drei-Tage-Bart, und passte gut zu seinem markanten, männlichen Gesicht. Der Kerl sah aus wie ein Action-Filmstar.
Als wir näher kamen, warf er die Heckenschere ins Gras, grinste breit und zeigte eine makellose Reihe weißer Zähne. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig oder Anfang vierzig. Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab und kam uns entgegen. Mir fiel auf, dass er leicht humpelte.
„Hey“, sagte er strahlend. „Schön, dass ihr hier seid.“ Als er vor uns stehen blieb, konnte ich seine Augen sehen. Sie waren grün, genau wie Kiddos.
Ich hörte Kiddo neben mir sagen: „Ja, ich bin heil und unversehrt zurück, stell dir nur vor.“
Er ließ meine Hand los, und dann vollführten er und der Hecken schneidende Sexgott eine dieser einarmigen Kumpel-Umarmungen und klopften sich gegenseitig auf den Rücken.
Ich stand völlig willenlos daneben und starrte die beiden an, bis Kiddo schließlich eine Hand an meinen Rücken legte und sagte: „Wolf, das ist mein Freund Jan. Jan, Wolf.“
Was zum … Onkelchen?
„Freut mich, dich kennenzulernen, Jan“, sagte Wolf und streckte seine Hand aus.
Ich musste ein paarmal blinzeln, um mein Gehirn wieder in Gang zu bringen, bevor ich in der Lage war, die angebotene Hand zu schütteln und zu antworten. „Die Freude ist ganz meinerseits.“ Kein Scheiß!
Wolfs Augen ruhten einen Moment lang auf mir. Es war das vertraute Smaragdgrün und derselbe eindringliche Blick. Und dann zog er einen Mundwinkel hoch, und ich musste schlucken — die reife Version dieses sexy, schiefen Grinsens war echt nicht fair.
Wolf neigte den Kopf zur Seite, und sein Lächeln wurde breiter. Fasziniert beobachtete ich, wie sich kleine Lachfältchen an den äußeren Augenwinkeln bildeten, als er sagte: „Ich hatte dich mir größer vorgestellt.“
„Gleichfalls.“
Wolf lachte herzhaft. „Touché! Aber Chris hat vergessen zu erwähnen, wie gut du aussiehst.“
„Danke“, sagte ich verunsichert.
Scheiße, flirtet Wolf mit mir?
Kiddo legte seinen Arm um meine Taille und zog mich an sich. Ich hüstelte und sagte: „Nun, Wolf, du bist auch nicht gerade, wie ich mir Chris’ Onkel vorgestellt habe, wenn ich das so sagen darf.“
Scheiße, flirte ich zurück?
Kiddo zog mich noch ein Stück fester an sich; es war fast unangenehm, und ich wand ich mich ein wenig und drehte den Kopf, um ihn anzusehen. Überrascht stellte ich fest, dass er finster auf einen Punkt irgendwo zwischen mir und Wolf starrte. Erst als ich seinem Blick folgte, merkte ich, dass Wolf immer noch meine Hand hielt … was irgendwie schön war. Es war eine gute Hand. Keine Pianohand, aber sie war kräftig und warm, mit deutlichen Schwielen. Eine Arbeiterhand.
Kiddo atmete lang und geräuschvoll aus. Aus dem Augenwinkel sah ich seinen Kopf hochzucken, als Wolf sagte: „Und ich muss dir noch dafür danken, dass du gestern für Chris da warst. Ich habe wohl ein bisschen überreagiert am Telefon, also entschuldige bitte nochmals.“
„Oh nein, keine Ursache. Es war mir eine Freude, ihn bei mir zu haben“, antwortete ich. Ich bekam heiße Wangen, als mir klar wurde, wie sich das anhörte. Verlegen riskierte ich noch einen Blick zu Kiddo und erschrak.
Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, und er starrte auf irgendetwas Unsichtbares neben Wolf oder hinter Wolf oder … was auch immer. Ich wusste sofort, dass er Dinge sah, und dass ihm diese Dinge nicht gefielen. Kein bisschen.
Wolf bemerkte es ebenfalls und ließ meine Hand los, als hätte er sich an ihr verbrannt.
Ohne den Blick von dem, was auch immer er sah, abzuwenden, sagte Kiddo: „Jan, könntest du einen kurzen Moment hier warten? Ich bin gleich wieder da.“
„Sicher.“ Der Klang seiner Stimme machte mir ein wenig Angst. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Kiddo ließ mich los, legte Wolf fest eine Hand auf die Schulter und führte seinen Onkel entschlossen weg von mir und in Richtung eines der Gebäude. „Wir müssen kurz reden“, hörte ich ihn sagen, bevor die beiden Männer im Inneren des Hauses verschwanden. Die Tür blieb einen Spalt offen.
Was sollte das? Auf gar keinen Fall würde ich hier stehenbleiben wie ein folgsamer Pudel, der das Bleib!-Kommando bekommen hatte. Ich ging zum Haus, bis ich in Hörweite war und hielt den Atem an. Und was an meine Ohren drang, war … ich konnte es kaum glauben.
Chris: „ … sonst nicht. Wir bleiben nicht zum Essen. Ich werde ihn ein bisschen herumführen, dann gehen wir wieder.“
Wolf: „ Was?“
Chris: „ Du hast mich verstanden.“
Wolf: „Was ist los, Chris?“
Es entstand eine Pause. Ich wartete, während mein Herz wie verrückt klopfte.
Wolf: „Chris?“
Chris: „Mir gefällt nicht, wie du ihn ansiehst.“
Wolf: „ Wovon redest du überhaupt?“
Chris: „ Du kannst dir vielleicht selbst etwas vormachen, aber nicht mir. Das weißt du, Wolf! Ich werde ihn nicht hierher zurück bringen.“
Wolf: „Du übertreibst, Chris. Ich habe ihn angesehen, na und? Wie soll ich ihn denn bitte schön nicht ansehen? Du hast ihn mir gerade vorgestellt, schon vergessen? Und ich gebe ja gern zu, dass er ein schöner Anblick ist, aber das bedeutet nicht, dass ich–“
Chris, sehr laut: „Halt einfach die Klappe, Wolf! Ich weiß, was ich gesehen habe, okay?“
Wolf: „Du musst dich beruhigen, Chris. Du verlierst die Kontrolle.“
Chris: „Ich weiß verdammt nochmal selbst, dass ich gerade die Kontrolle verliere. Und ich kann nicht das Geringste dagegen tun, Wolf, es funktioniert einfach nicht mehr! Das habe ich dir am Sonntag zu erklären versucht; hast du nicht zugehört? Er … irgendwie hat er das Schloss geknackt, und ich weiß nicht, wie ich es wieder reparieren soll, okay? Ich schaffe es gerade so, meine Filter aufrecht zu erhalten. Also ja, ich kontrolliere mich im Moment nicht besonders gut, und wenn ich sehe, wie du Jan mit den Augen fickst, macht das die Sache nicht gerade besser!“
Kiddo fauchte wie eine Wildkatze. Die ganze Szene war absurd und beängstigend, und mein Herz raste. Ich konnte nicht fassen, dass er mit seinem Onkel einen Streit anfing … wegen mir!
Nach einigen Augenblicken Stille sprach Kiddo weiter, mit so leiser und tiefer Stimme, dass ich mich sehr anstrengen musste, um ihn zu verstehen. Es war fast ein Grollen.
Chris: „Gott, Wolf, ich will das nicht, aber jetzt gerade ist der Drang, dich zu … verletzen, fast unerträglich. Alles wird schwarz, und du weißt, wie es dann ist. Ich würde dir am liebsten die Kehle herausreißen oder irgendwas. Ich muss hier raus.“
Wolf: „Tut mir leid, Chris. Ich hatte keine Ahnung.“
Chris: „Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist. Wenn wir bleiben, wird jemand verletzt werden. Begreifst du das?“
Wolf: „Ich verstehe. Dann ist es wohl besser, wenn ihr geht. Ich nehme nicht an, dass es einen Unterschied macht, wenn ich dir sage, dass ich keinerlei … Absichten gegenüber Jan hege?“
Chris: „ Nein. Ich weiß, was ich gesehen habe.“
Ich fragte mich, was genau er glaubte gesehen zu haben.
Wolf: „Und was hast du gesehen?“
Ich hielt den Atem an, während ich auf Kiddos Antwort wartete. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bevor ich wieder seine Stimme hörte. Jetzt war es mehr ein Flüstern, und ich verstand nur Satzfragmente.
Chris: „Ich sah, wie … zu verlieben …siehst du nicht … auf keinen Fall zulassen …gegen den Scheiß anstinken … verstehst du das nicht?“
Ich hörte Wolf etwas murmeln, verstand aber kein Wort, dann zischte Chris:
„Fasss … mich nicht an!“
Wolf: „Okay.“
Chris: „Wir sehen uns morgen.“
Ich wusste, Kiddo würde jetzt jeden Moment wieder aus dem Haus kommen, aber ich war zu schockiert, um mich zu bewegen und so zu tun, als hätte ich nicht gelauscht. Als er in der Tür auftauchte, stand ich einfach wie erstarrt da.
Er schaute mich für einen langen Moment stumm an. Dann kam er zu mir. Er hielt meinen Blick, bis er nahe genug war, um seine Stirn an meine zu legen. Ich merkte, dass er immer noch vor Zorn vibrierte. Er hob leicht die Hand und hakte nur seinen Zeigefinger um den meinen. Seine Augen waren geschlossen, als er durch seine zusammengebissenen Zähnen fragte: „Du magst Wolf, oder?“
Kapitel 24
Wolf
Was soll ich jetzt sagen? Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Kiddo bebte vor unterdrückter Wut; er atmete schnaufend durch die Nase. Offenbar riss er sich mühsam zusammen, aber er war wie eine tickende Zeitbombe. Mit seinem Zeigefinger fest um den meinen gehakt, schwang er nervös den Arm hin und her, und unsere Hände stießen bei jedem Zurückschwingen gegen meinen Oberschenkel.
Ich schwöre, ich konnte hören, wie er mit den Zähnen knirschte, und er hatte noch immer nicht wieder die Augen geöffnet. In diesem Moment machte Kiddo mir ernsthaft Angst.
Mag ich Wolf?
Ich konnte Kiddo nicht belügen. Aber ich wollte auch kein weiteres Öl ins Feuer gießen. Was wollte er von mir hören? Die Sekunden tickten dahin, während ich nach einer Antwort suchte. Scheiße, er wusste sowieso immer alles; er sah Dinge .
Mach den Mund auf, Wegener.
„Warum fragst du mich das?“
Keine Reaktion. Nur das nervtötende Schlagen unserer Hände gegen mein Bein. Um es zu beenden, wand ich mich aus seinem Griff und packte sein Handgelenk.
„Chris, ich habe Wolf gerade zum ersten Mal getroffen und das nur für was … zwei Minuten?“
Er neigte den Kopf zur Seite, dann rollte er ihn von einer Schulter zur anderen; ich hörte einen Wirbel in seinem Nacken knacken. Als er die Augen öffnete, zuckte ich unwillkürlich zurück – sie waren wie lichtlose Abgründe.
Ich ließ sein Handgelenk los und trat instinktiv einen Schritt von ihm weg. Das war ein Automatismus – ich war der Kleinere. Ich war immer der Kleinere. Der Instinkt, im Angesicht einer Bedrohung den Rückzug anzutreten, war tief in mir verwurzelt.
„Natürlich magst du ihn“, sagte Kiddo tonlos. „Er ist ein toller Kerl, oder?“
„Ja, er wirkt wie ein toller Kerl, und ich glaube, ich mag ihn“, gab ich zu. „Und ich verrate dir sicher auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass er sehr attraktiv ist und seinen Charme einzusetzen weiß. Aber ich will verdammt sein, wenn ich weiß, was zum Henker hier gerade passiert ist. Du machst mir Angst.“
Kiddo schüttelte langsam den Kopf. „Du musst keine Angst vor mir haben. Ich sagte dir doch, dass ich dir nie wehtun könnte.“ Er klang zu Tode erschöpft.
„Aber du wolltest Wolf verletzen. Das hast du gesagt!“, entgegnete ich aufgebracht.
Er schloss die Augen und nickte. „Wie viel hast du gehört?“
„So ziemlich alles. Ich hörte, wie du sagtest, du würdest ihm am liebsten die Kehle herausreißen, Chris. Und es klang für mich nicht wie ein Witz. Und all die anderen Dinge, die du gesagt hast, ich meine, ernsthaft … ich verstehe nicht, wieso dein Onkel sich überhaupt so einen Scheiß von dir gefallen lässt.“
Ich redete mich langsam in Fahrt.
„Und was sollte das mit ,schwarz’ und ,was beim letzten Mal passiert ist’? Was ist passiert? Hast du in einer deiner Satellitenschüssel-Statik-Launen jemanden umgebracht? Muss ich von jetzt an meine Türschlösser doppelt checken? Scheiße, ich weiß einfach nicht, wer du bist, Chris!“
Er machte einen Schritt auf mich zu, blieb aber wie angewurzelt stehen, als ich vor ihm zurückwich. „Es tut mir leid“, flüsterte er. „Ich hätte dich nicht hierher bringen sollen.“
„Verdammte Scheiße, Chris!“ Zorn stieg in mir auf, und ich war dankbar dafür. Wütend zu sein war auf jeden Fall besser, als Angst zu haben. „Du hast mich nicht hierher gebracht. Ich bin kein Hündchen, das du an der Leine hergeführt hast, und ich bin auch nicht dein Scheiß-Boyfriend, also spar dir das, okay? Wolf hat mich eingeladen, und ich habe die Einladung angenommen. Deshalb bin ich hier.“
Kiddo fiel bei meinem Ausbruch die Kinnlade herunter, und er atmete heftig durch den offenen Mund. Seine Augenlider waren halb geschlossen, so als hätte er Mühe, wach zu bleiben.
„Du hast recht“, sagte er, immer noch mit dieser tonlosen Zombiestimme. „Verzeih mir bitte. Aber wie auch immer — ich bin nicht … in der Verfassung, mit dir und Wolf zu essen. Wolf wird dir alles erklären, da bin ich sicher. Frag ihn einfach. Er kann solche Sachen gut erklären. Aber ich kann nicht. Tut mir leid.“
Und damit drehte er sich um und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Immer noch schnaubend vor Wut sah ich ihm fassungslos nach, als er hinter Wolfs Haus verschwand. Innerlich schrie ich.
Fick dich, Kiddo! Scheiß auf dich und deine Launen und deine Empfindlichkeit. Und scheiß auf deinen Synästhesie-Gedankenlese-Mist, und auf deinen sexy Arsch auch!
„Fick dich!“, fauchte ich.
„Jan?“
Als ich mich umdrehte, sah ich Wolf in der Tür des Hauses stehen. Ich riss die Arme in die Luft. „Was zum Henker ist euer Problem?“, fuhr ich ihn an.
Wolf kam ein paar Schritte auf mich zu; sein Humpeln war ein wenig deutlicher als zuvor. Er berührte leicht meine Schulter und fragte: „Alles in Ordnung?“
Als ich ihn nun anschaute, sah ich nicht mehr den heißen Typ von vor wenigen Minuten. Alles, was ich sah, war ein freundliches Gesicht, in dem sich aufrichtige Besorgnis spiegelte. Mein Kinn begann zu zittern, und meine Augen brannten.
Na, toll!
„Nein, es ist gar nichts in Ordnung“, jammerte ich.
„Ach, Mann …“, seufzte Wolf, und im nächsten Moment lag sein Arm um meine Schultern. Er zog mich an seine Seite und rieb tröstend ein wenig meinen Oberarm.
Mehr war nicht nötig – die Tränen ließen sich nicht länger zurückhalten. Ich verbarg mein Gesicht an Wolfs verschwitztem und mit Grasflecken verschmierten T-Shirt, um nicht loszuschluchzen wie ein Fünfjähriger, der im Supermarkt seine Mami aus den Augen verloren hatte.
Wolf legte auch seinen anderen Arm um mich und wiegte uns beide leicht hin und her. „Schhh … ist schon gut“, murmelte er beruhigend.
„Was ist den eigentlich passiert?“, fragte ich kläglich. „Was ist nur mit ihm?“
In kaum mehr als vierundzwanzig Stunden hatte Kiddo mich mit seinen Geheimnissen und Launen und seiner Unberechenbarkeit in ein wahres Nervenbündel verwandelt. Und ich hatte keine Ahnung, wieso ich mir das antat oder wieso er mir überhaupt so unter die Haut ging. Na ja, abgesehen von dieser Elfenherz -Sache, die sowieso vollkommen albern war.
„Er kriegt sich wieder ein, keine Bange. Es wird alles gut“, fuhr Wolf fort mich zu trösten, während er geduldig darauf wartete, dass ich mich zunächst einmal wieder einkriegte. Der Mann hatte es auch nicht leicht; sicher bereute er seine Einladung schon.
Seine Worte machten keinen großen Unterschied für mich, aber ich fand Trost an seinem Körper. Mein Kopf lag an seiner Brust, und ich fühlte seinen gleichmäßigen Herzschlag und das beruhigende Vibrieren seiner tiefen Stimme.
Mit einer Hand strich er mir sanft über den Kopf, sein anderer Arm lag fest um meine Schultern. Es war wie ein Versprechen auf Freundschaft und Schutz, und mein eigener Körper reagierte instinktiv. Ich schlang meine Arme um seine Taille und gewann langsam meine Fassung zurück.
Wolf wartete, bis ich wieder ruhig und gleichmäßig atmete, nur unterbrochen von gelegentlichem, verstohlenen Schniefen, bevor er erneut etwas sagte.
„Wie wär es jetzt mit Pizza und einem Bier?“
Ich schnaubte.
„Du erinnerst mich an meine Oma, Gott hab sie selig. Sie dachte auch immer, alles würde sich mit einer warmen Mahlzeit kurieren lassen“, murmelte ich gedämpft in sein T-Shirt, das jetzt ein wenig feucht von meiner peinlichen Heulerei war. Aber Wolf roch gut, nach frischer Luft und Erde und Mann.
„Aber ich kann noch eine Schippe drauflegen“, sagte er. „Mein verbessertes Angebot lautet: Pizza, Bier und ein paar Antworten. Was hältst du davon?“
Wolf ließ mich los und legte mir beide Hände auf die Schultern. Er drückte mich jedoch nicht weg, sondern wartete darauf, dass ich mich bewegte.
Zögernd hob ich den Kopf von seiner Brust und trat einen Schritt zurück. Ich rieb mir mit den Handballen die Augen und antwortete: „Wenn du den Einsatz noch erhöhst auf Pizza, Bier, ein paar Antworten und ein Tempotuch, bin ich dabei.“
Er lachte leise. „Deal.“
Die Pizza aus der Küche des Altenheims war grauenvoll. Eine lauwarme, matschige Katastrophe. Vielleicht brauchten sie Platz für neue Rentner und versuchten die derzeitigen Bewohner zu vergiften, indem sie ihnen solches Zeug auftischten?
Die Krümel, die offenbar noch vom Menü des Vortages an meiner Gabel klebten, machten die Mahlzeit auch nicht verlockender. Ich lehnte höflich dankend ab. Glücklicherweise schrieb Wolf meinen mangelnden Appetit scheinbar meiner emotionalen Verfassung zu und fragte nicht weiter.
Das Bier allerdings war mir sehr willkommen, auch wenn es in Sachen Temperatur der Pizza verstörend nahe kam. Ich trank selten Alkohol, schon gar nicht auf leeren Magen, und so fühlte ich mich schon nach wenigen Schlucken ein wenig schwummerig, und die Dinge erschienen mir deutlich weniger dramatisch.
Ich zupfte ein weiteres Papiertuch aus der Spenderbox, die Wolf großzügigerweise für mich auf den Tisch gestellt hatte, und putzte mir ausgiebig und fortissimo die Nase.
Wolf, der noch kein einziges Wort geäußerst hatte, seit wir das Second Hand-Möbellager betreten hatten, das er als Küche bezeichnete, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und fragte: „Besser?“
„Ja, viel besser, danke.“
Ich sah auf und stellte fest, dass Wolf im Gegensatz zu mir die Naturkatastrophe Hawaii in der Tat für etwas Essbares hielt. Er hatte seine Portion verputzt, ohne mit der Wimper zu zucken, und pickte nun mit dem Zeigefinger Krümel von seinem Teller und steckte sie in seinen Mund. Es war ein verstörender Anblick, gelinde gesagt.
Ich wandte den Blick ab und studierte aufmerksam das zerknüllte Papiertuch in meinen Händen. „Gott, ich sehe bestimmt furchtbar aus.“
„Darüber lässt sich streiten“, murmelte Wolf und schob zu meiner Erleichterung endlich den Teller zur Seite.
„Normalerweise bin ich nicht so leicht zu erschüttern. Ich weiß nicht, was mit mir los war.“ Ich lächelte ihn verlegen an, aber er lachte nur in sich hinein.
„Mach dir keinen Kopf deswegen, Jan. Chris ist eine Nervensäge, so viel steht fest. Ich war überrascht, dass du noch nicht völlig fertig warst, als du hier ankamst.“
„Ach ja? Wieso das?“
„Weil du, äh …“, er verstummte und zeigte mit dem Finger auf meine unberührte und mittlerweile kalte Pizza des Grauens. „Isst du das noch?“
Großer Gott … Ich schüttelte den Kopf. „Bedien dich.“
„Danke.“ Er schnappte sich meinen Teller, und ich beobachtete mit morbider Faszination, wie er den pizzaförmigen Giftmüll zu einer Wurst zusammenrollte und dann herzhaft hineinbiss. Beim Essen war die Familienähnlichkeit zwischen ihm und Kiddo bemerkenswert.
„Du wolltest mir gerade sagen, warum es dich überrascht hat, dass ich–“
Kauend und nickend hielt Wolf einen Finger in die Höhe, um anzuzeigen, dass er mir in einer Sekunde antworten würde. Nach weiterem Kauen und Nicken schluckte er geräuschvoll und sagte:
„Du hast fast vierundzwanzig Stunden am Stück mit ihm verbracht, und du hast weder die Polizei gerufen, noch bist du mit einem blauen Auge hier aufgetaucht, und du konntest immer noch in ganzen Sätzen sprechen. Damit hast du den Rekord gebrochen.“
Er biss ein weiteres Stück von der Pizzarolle ab und grinste mich kauend an.
„Wieso erzählst du mir nicht mehr über diesen … Rekord? Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir ein paar Antworten versprochen.“
„Mmh … mmh … ja.“ Er nickte und zwang einen weiteren Bissen seine Kehle hinunter. „Das war der Deal. Hey, bist du sicher, dass du keinen Hunger hast? Es gibt noch Nachtisch.“
Du meine Güte! „Ich bin sicher, danke. Du kannst meinen haben, wenn du willst.“
„Oh, gut! Okay, aber zuerst …“ Er nahm noch einen Bissen, dann zeigte er bedeutungsvoll mit dem Rest der Pizzarolle auf mich, während er kaute. „Ähm … mmh …“
Ich wartete ungeduldig darauf, dass er endlich schluckte. Wolf wedelte mit der Pizzarolle ein paarmal hin und her, um dem, was immer er sagen wollte, vorab Nachdruck zu verleihen. Dann hüpfte endlich sein Adamsapfel und er fuhr fort: „Zuerst muss ich dich meinerseits ein oder zwei Dinge fragen, wenn das okay ist.“
Ich seufzte. „Sicher.“
Eine rötliche Substanz quoll aus dem letzten Rest der Rolle und lief an Wolfs Handgelenk herunter. Er fing sie mit dem Zeigefinger seiner anderen Hand auf, dann sah er sich suchend auf dem Tisch um. Ich reichte ihm ein Papiertuch aus der Box, und er nahm es mit einem Nicken entgegen – aber nicht, bevor er das letzte Stück Pizza in seinen Mund manövriert und mit dem Daumen nachgeschoben hatte, als wollte er sichergehen, dass es nicht ausbüchste.
Ich wartete.
Kau. Kau. Schluck. „Okay“, begann er. Kau. Schluck. „Wie viel hat Chris dir schon erzählt? Oder muss ich ganz bei Null anfangen?“
Erleichtert darüber, dass Wolf seine Mahlzeit endlich beendet hatte, antwortete ich: „Er hat mir von seiner Synästhesie erzählt, und dass er diese Dinge sieht.“
„Tatsächlich? Das ist bemerkenswert.“ Wolf wirkte überrascht.
„Ja. Aber es ist ihm nicht leicht gefallen. Er …“ Ich zögerte. „Er bekam eine Art Panikattacke, als ich ihn danach fragte.“
Wolf nickte. Er sah mir direkt in die Augen. Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, hob er seine Bierflasche und nahm einen langen Schluck, dann stellte er sie wieder auf den Tisch, behielt sie aber in der Hand. Nach ein paar Sekunden, in denen er mich weiter anstarrte, ließ er die Flasche los, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Jan?“
Ich hob die Brauen. „Ja?“
„Sag mal … hast du Chris letzte Nacht flachgelegt?“
Kapitel 25
Die Risse in meinem Herzen
Was zum Henker? Ich bekam glühend heiße Wangen und wurde mit Sicherheit rot wie eine Tomate. Das war jetzt wirklich …
Chris’ Notizbuch (Tagebuch!) :
… peinlich.
Ich hätte ihn nicht hierher bringen dürfen.
Ich hätte es wissen müssen.
Es passiert wieder.
Und ich habe es nur noch schlimmer gemacht.
Wolf bestand nicht darauf, dass ich es laut aussprach; mein hochroter Kopf war Antwort genug. Kopfschüttelnd sagte er: „Hätte ich mir eigentlich denken müssen.“
Ich musste meine ganze Willenskraft aufwenden, um seinem Blick standzuhalten und mich nicht zu entschuldigen. Wieso fühlte ich mich immer noch so, als hätte ich etwas Verbotenes getan? Kiddo und ich hatten nicht Falsches getan, verdammt.
Und Wolf schien auch gar nicht verstimmt zu sein, nur überrascht, oder ein wenig … enttäuscht? Wir griffen gleichzeitig nach unseren Bierflaschen und nahmen ausgedehnte Schlucke, während wir einander über die Flaschenhälse hinweg fixierten.
„Nun“, sagte Wolf schließlich, nachdem er sich den Mund mit dem Handrücken abgewischt hatte. „Wegen vorhin. Ich weiß, es ist verstörend, wenn man zum ersten Mal erlebt, wie Chris die Beherrschung verliert, aber ich kann dir versichern, dass er sich inzwischen wieder beruhigt hat, also–“
„Es war nicht das erste Mal“, unterbrach ich ihn.
Erneut griffen wir nach unseren Bieren. Dieses Mal hielten wir beide auf halbem Weg an, mit den Flaschen kurz vor unseren Mündern. Ich fragte mich, ob er das absichtlich machte.
Wolf hob eine Augenbraue. „Wirklich? Was ist passiert?“
„Er machte irgendwelches Kung Fu oder Karate oder sowas mit meinem Nachbarn. Ziemlich beängstigender Scheiß. Ging aber nicht allzu schlimm aus, nur ein bisschen Nasenbluten“, antwortete ich betont gelassen und brachte mein Bier den Rest des Weges an meine Lippen.
Wolfs Flasche nahm die entgegengesetzte Richtung und landete mit einem lauten Knall auf dem Tisch.
„Was?“ Plötzlich war er aufgebracht, beugte sich nach vorn und packte die Tischkanten zu beiden Seiten. „Bitte sag mir, dass niemand die Bullen gerufen hat!“
Ich sagte: „Niemand hat die Bullen gerufen.“
„Scheiße!“ Er sprang auf und fing an, in der kleinen Küche auf und ab zu laufen und etwas vor sich hin zu murmeln, das ich nicht verstand.
Unwillkürlich bewunderte ich erneut seine schmalen Hüften und den festen Hintern, aber mir fiel auch auf, dass er jetzt bedeutend stärker hinkte, als ich es zuvor gesehen hatte.
„Wirklich, es war keine große Sache“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
Er blieb stehen und drehte sich zu mir um.
„Keine große Sache? Jan!“ Mit einer nur allzu vertrauten Geste fuhr er sich mit der Hand durch sein Haar – das allerdings zu kurz war, um den gleichen Effekt zu haben wie bei Kiddo. „Sollte dein Nachbarn ihn wegen Körperverletzung verklagen, dann haben wir hier ein echtes Problem. Chris ist bereits vorbestraft. Er ist noch auf Bewährung, verdammt!“
„Oh?“ Mein Herz setzte für einen Schlag aus. „Weswegen? Was ist passiert? Ist Chris gefährlich?“
Und was, wenn er es war? Spielte das jetzt überhaupt noch …
Chris’ Notizbuch:
… eine Rolle?
Konnte es überhaupt noch schlimmer werden?
Jan hat geglüht.
Jan hat geflirtet.
Er hat mit Wolf geflirtet.
Rosa und gelber guter Kerl Wolf.
„Scheiße, nein! Er ist nicht gefährlich.“ Wolf nahm seine humpelnden Bahnen in der Küche wieder auf. „Chris ist ein guter Junge. Er hat nur sowas wie das Monopol darauf gepachtet, in beschissene Situationen zu geraten. Der ewige Sündenbock. Diese Geschichte zu erzählen, ist jedoch nicht an mir. Aber wie auch immer … als beim letzten Mal so eine Scheiße passierte, wurde er verknackt. Ein Jahr auf Bewährung, plus gemeinnützige Arbeit. Deshalb ist er hier.“
Er blieb erneut stehen und sah mich stirnrunzelnd an. „Denkst du, dein Nachbar wird die Füße stillhalten?“
Eine Moment lang war ich abgelenkt vom Anblick seiner Bizeps, die sich spannten und wölbten, während er vor seiner Brust die Hände rang. Dann hörte ich seine Fingerknöchel knacken, was mich wieder zurück in die Gegenwart riss.
„Ich bin ziemlich sicher, dass er nichts unternehmen wird. Dafür habe ich gesorgt“, versicherte ich ihm.
Wolf entspannte sich sichtlich. „Gut. Ich hoffe, du hast recht, Jan.“ Er drehte sich um und humpelte zum Küchenschrank. Neben dem kleinen Gaskocher stand ein verdächtiges, in Alufolie gewickeltes Etwas, das er nun auspackte.
„Was ist mit deinem Bein, falls dir die Frage nichts ausmacht?“
Seine breiten Schultern zuckten. Ohne sich umzudrehen, sagte er: „Es ist weg.“
Weg? So wie … ab? Amputiert?
„Scheiße … Wolf, tut mir leid, ich wollte nicht–“
„Schon gut, kein Ding. Motorradunfall. Schon ein paar Jahre her. Sie haben es direkt unterhalb des Knies abgenommen. Ist nicht so dramatisch, und das verdammte Bein wächst auch nicht wieder an, nur weil es dir leid tut, also lass einfach gut sein, okay?“
Er drehte sich zu mir um. In jeder Hand hielt er einen Plastikbecher, gefüllt mit einer weißlichen Substanz. Mit einem verlegenen, schiefen Grinsen fragte er: „Bist du sicher, dass du keinen Nachtisch willst?“
Oh, bitte!
„Ich versichere dir, du kannst meinen haben. Was ich will, sind Antworten, Wolf. Du hast deine bekommen; jetzt bin ich dran. Was hat Chris gesehen, als wir draußen auf dem Rasen standen? Passiert so etwas oft? Ist er dann immer so? Und was hat Chris gemeint, als er sagte, er will dich verletzen? Meinte er das ernst?“
Und was, um Himmels Willen, meinte er, als er sagte, alles wird …
Chris’ Notizbuch:
… schwarz?
Wirklich?
Beschissenes Schwarz.
Zweimal in zwei Tagen –
schwarz schwarz schwarz schwarz.
Es liegt an ihm.
Alles wegen ihm.
Aber dann auch wiederum nicht.
Ich bin es. Scheiß-Schwarz. Scheiß-Ich.
„Diese Dinge, die er sieht … ich habe Vertrauen in seine Visionen, weißt du? Es ist verrückt, ich weiß, und offensichtlich bin ich der Einzige, der ihn nicht für völlig irre hält. Aber ernsthaft – er weiß Sachen. Es ist erstaunlich. Glaubst du mir?“
Ich nickte. „Ein bisschen wie Gedanken lesen, oder?“
„Nein, nicht wirklich.“
Wolf schob sich einen Löffel von dem, was er für Vanillepudding hielt, in den Mund. Zum Glück gab es dabei nichts zu kauen, so dass die Unterbrechungen dieses Mal nur von kurzer Dauer waren.
„Oder ja, vielleicht ein bisschen wie Gedanken lesen, vielleicht ein bisschen wie Hellseherei, wer weiß? Tatsache ist: es ist zuverlässig. Es ist eine Gabe. Auch wenn Chris es als Fluch empfindet.“
„Warum?“
„Als er ein Kind war, wusste keiner, was mit ihm los war. Die ganze Zeit redete er von bunten Farben und so Zeugs. Sie dachten, er hätte Halluzinationen oder wäre schizophren, stopften ihn mit Beruhigungsmitteln voll, Ritalin und haufenweise anderem Mist. So wurde es mir jedenfalls erzählt. Ich kannte ihn noch nicht, als er klein war.“
Ein abtrünniger Klecks Pudding hing in seinem Mundwinkel, und er verstummte kurz, um ihn mit der Zunge aufzulecken. Dann fuhr er fort:
„Jedenfalls trichterten sie ihm ein, dass es etwas Schlimmes wäre, diese Visionen zu haben, eine Krankheit. Bevor er fünfzehn wurde, hatte er schon mindestens zehn verschiedene Therapien bei zehn verschiedenen Seelenklempnern hinter sich. Meistens hatten sie ihn einfach nur mit irgendwelchen Drogen ruhig gestellt, glaube ich.“
Er schob den leeren Plastikbecher weg, zeigte mit dem Löffel auf mich und fügte bedeutungsvoll hinzu: „Aber er ist wie ein schlafender Drache. Weißt du, was ich meine?“
Scheiße, werd jetzt nicht poetisch mit mir. Spuck’s aus!
„Nicht wirklich, Wolf.“
„Tja, wie ich schon sagte, sie stellten ihn ruhig. Zähmten den Drachen, sozusagen. Sie brachten ihm bei, seine Visionen zu unterdrücken oder … sie einfach zu ignorieren, ich weiß nicht genau. Damit er sich besser in die Gesellschaft einfügte. Aber das ging total nach hinten los. Er verwandelte sich von einem fröhlichen Knirps in ein deprimiertes, stilles Kind, und an Stelle von besserer Sozialisierung war das Ergebnis totale Isolation.“
Er stach aufgebracht mit dem Löffel in die Luft. „Ich glaube, er dachte, wenn er überhaupt nichts sagt, kann ihm niemand vorwerfen, etwas Falsches zu sagen. Oder so ähnlich. Jedenfalls wurde alles nur noch schlimmer. Und die Seelenklempner fügten der Schizophrenie, die schon eine totale Fehldiagnose war, noch Autismus hinzu. Bumm!“
Er riss die Hände hoch und spreizte die Finger, um eine Explosion zu illustrieren. Der Löffel landete klappernd auf dem Tisch.
„Scheiße“, murmelte Wolf.
„Scheiße!“, keuchte ich.
„Genau“, sagte Wolf, hob den Löffel auf und wischte ihn abwesend an seinem T-Shirt ab. Dann griff er nach dem zweiten Puddingbecher und begann, die schleimige Substanz mit dem Löffel umzurühren.
Plötzlich erstarrte er mitten im Rühren und sah mich mit hochgezogenen Brauen an. „Letzte Chance, Jan.“ Er wackelte mit dem Becher vor meinem Gesicht.
„Danke, aber danke, nein“, antwortete ich betont. „Was ist jetzt mit dem schlafenden Drachen?“
„Genau. Was ich erklären wollte: Diese Synästhesie, das ist keine Krankheit. Und sie geht auch nicht weg, okay? Sie ist immer noch da und wird Chris bis an sein Lebensende begleiten. Es ist keine Krankheit, also gibt es auch keine Heilung. Chris kontrolliert sie nur. Er macht all diese mentalen Übungen, die sie ihm eingetrichtert haben, nennt sie Wälle und Schlösser und Filter und was weiß ich noch alles. Er lebt in ständiger Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.“
Einen Augenblick lang hörte Wolf auf zu reden und zu essen und starrte gedankenverloren in seinen Puddingbecher, als wären darin Erinnerungen verborgen. Dann fuhr er fort:
„Chris hat mir keine Einzelheiten verraten, aber er scheint sich aus seiner Kindheit zu erinnern, dass etwas Schlimmes passiert, wenn er sich von seinen Wahrnehmungen und Visionen überwältigen lässt. Jedenfalls verwendet er viel Kraft darauf, sie im Zaum zu halten. Besonders die ,Schwarzen’. Die hat er, wenn er wirklich sauer wird.“
Wolf stieß ein finsteres Lachen aus. „Ich meine, richtig sauer. Die Schwarzen sind die, die ihn jedes Mal in echte Schwierigkeiten bringen, kann ich dir sagen.“
Scheiße, ja. Ich dachten an den gesstrigen Abend zurück. Der Drachen war definitiv erwacht, als Tom bei mir aufgetaucht war. Kiddo hatte vollkommen seine…
Chris’ Notizbuch:
… beschissene Fassung verloren.
Beschissene Wutanfälle.
Zweimal in zwei Tagen.
Es hat sich überhaupt nichts geändert.
Ich habe mich nicht geändert.
Ich habe Jan in die Flucht gejagt.
Habe ihm Angst eingejagt.
Scheiß-Angst.
Scheiß-Schwarz war stärker als ich.
Keine Kontrolle.
Ich sollte mich von Jan fernhalten.
Aber ich will mich nicht
„Und was meinte Chris mit ich hätte ,das Schloss geknackt’? Ich habe gar nichts gemacht. Ich wusste von all dem ja bis vor ein paar Stunden überhaupt noch nichts“.
Verdammt, Kiddos Geschichte brach mir das Herz. Wie konnte man nur so mit einem Kind umgehen? Ich fühlte mich plötzlich wieder schuldbewusst, so als hätte ich irgendwie noch zu seinem Elend beigetragen. Ich hasste das Gefühl.
Ich brauche noch ein Bier.
Offenbar lag Hellseherei genauso in der Familie wie gutes Aussehen, grüne Augen und schiefes Grinsen. Wolf brachte die leeren Plastikbecher weg und kehrte mit zwei neuen Flaschen von dem guten Stoff zurück an den Tisch. Wir stießen damit an wie zwei alte Kumpel, dann antwortete Wolf auf meine Frage.
„Ich habe keine Ahnung, Jan, aber sieht so aus, als wärst du der Auserwählte.“
„Was soll das denn nun wieder bedeuten? Wie in Matrix?“ Ich verstellte meine Stimme und intonierte tief und sonor: „Du bist der Auserwählte! Rote Pille oder blaue Pille?“ Dann lachte ich, aber ich hatte die dumpfe Vorahnung, dass mir nicht gefallen würde, was als Nächstes kam.
„Du machst seine kostbare Kontrolle zunichte, Jan. Er kann seine Visionen nicht dämpfen oder ignorieren, wenn er mit dir zusammen ist. Das hat er mir gesagt. Du negierst Jahre des Trainings und der selbst aufgezwungenen Zurückhaltung, einfach nur indem du atmest. Ist das nicht toll?“ Etwas daran schien Wolf aufrichtig zu freuen.
„Mache ich irgendetwas falsch?“
Er lachte. „Du hast Chris von einem Roboter in ein lebendes Wesen zurückverwandelt und fragst mich, ob du etwas falsch machst? Scheiße, Jan – so lange ich Chris kenne, hat er immer alles ganz tief in sich …“
Chris’ Notizbuch:
… vergraben, immer alles heruntergefahren,
Wälle darum errichtet, die Türen verschlossen.
Gesegneter grauer Frieden,
gesegnete stille Taubheit,
gesegnete Einsamkeit.
Aber Jan?
Es gibt keine Verteidigung gegen dich!
Du bist durch die Risse in meinem Herzen eingedrungen und hast es von innen geöffnet.
Hast die Schönheit zurückgebracht
und den Zorn.
Die Freude und die Angst.
Das Leben.
„Er wartet auf dich, weißt du?“, sagte Wolf leise. Und als er mich in diesem Moment ansah, ähnelte so so sehr Kiddo, dass mir ganz flau im Magen wurde. Nach ein paar Sekunden lehnte er sich im Stuhl zurück und murmelte: „Der kleine Scheißer ist ein echter Glückspilz.“
Was nun wirklich keinen Sinn ergab.
Ich schluckte. „Du meinst, er wartet jetzt auf mich?“
„Darauf kannst du deinen Arsch verwetten“, sagte Wolf lachend. „Ich kann dir genau sagen, was bei ihm gerade abläuft. Er ist von hier aus schnurstracks in sein Zimmer gegangen. Da hat er sich dann ausgezogen und für, sagen wir, eine halbe Stunde oder so seinen Sandsack gefoltert, um Dampf abzulassen, okay? Danach hat er geduscht und sich dabei vielleicht einen runtergeholt, um noch mehr Dampf abzulassen. Scheiße, der Junge steht mächtig unter Dampf.“
Er lachte erneut, aber mit einem leicht sarkastischen Unterton. Wieso war er plötzlich so frustriert? Vielleicht war er genauso angetrunken wie ich. Wir redeten jetzt schon beinahe seit zwei Stunden, und ich zählte sechs leere Flaschen auf dem Tisch. Ich fühlte mich in der Tat beschwipst.
„Jedenfalls …“, fuhr Wolf fort. „Ich wette, er sitzt jetzt an seinem Schreibtisch und füllt sein kleines, rotes Notizbuch mit kleinen Zeilen voller Selbstverachtung – was auch so ein Mist ist, den sie ihm in einer seiner Therapien beigebracht haben. Aber ich halte das für Blödsinn. Es macht die Sache kein Stück besser.“
„Ich bin ein bisschen betrunken. Ich finde, ich sollte jetzt nach Hause gehen“, murmelte ich.
„Tja, ich finde, du solltest jetzt zu meiner Vordertür hinausspazieren, eine scharfe Kurve nach rechts um mein kleines Anwesen herum nehmen und dann an die grüne Tür an der Rückseite klopfen. Das ist, was ich finde.“ Er wandte den Blick ab und fügte hinzu: „Mach, dass er sich besser fühlt, Jan. Geh.“
Ich erhob mich von meinem Stuhl. „Die grüne Tür?“
Wolf nickte und griff nach seiner Bierflasche, obwohl sie leer war. Ohne aufzublicken, sagte er leise: „Er ist ein guter Junge, Jan, und ich liebe ihn. Sei gut zu ihm, okay?“
„Das mache ich“, flüsterte ich. Dann drehte ich mich um und ließ Wolfs seltsame kleine Küche und die von Pizza und Bier geschwängerte Luft hinter mir zurück. Und ich ließ auch meine Zweifel und Ängste zurück.
Ich würde gut zu Kiddo sein. Das hatte er …
Chris’ Notizbuch:
… verdient. Meine Schuld.
Ich habe das Schwarz gewinnen lassen
Wieder einmal. Scheiß-Schwarz.
Aber ich will Jan.
Bitte
BITTE
bitte, Gott, lass mich das haben!
Lass mich das haben!
Lass mich das h
Als ich an besagte grüne Tür klopfte, und nichts passierte, war mein erster Gedanke, dass Wolf sich geirrt haben musste und Kiddo doch nicht hier war. Aber ich wollte verdammt nochmal, dass er hier war. Ein irrationaler Ärger stieg in mir hoch.
Ich klopfte erneut, fester dieses Mal, und rief seinen Namen. Es war ein Geräusch zu hören, wie das Schaben von Stuhlbeinen auf einem Holzfußboden. Ich lauschte einen Moment lang und wartete auf Schritte, die sich näherten, aber es blieb alles still. Ich hob die Hand, um noch einmal zu klopfen, erstarrte aber mitten in der Bewegung, als die Tür plötzlich aufschwang und meine Knöchel beinahe mit Kiddos Brust kollidierten.
Ich konnte keinen Beweis für die erwähnte Folter eines Sandsacks sehen, aber nach Kiddos feuchtem Haar zu urteilen, hatte er in der Tat geduscht. Und er hatte sich umgezogen. Er trug ein schlichtes, weißes Kragenhemd und Blue Jeans, und er sah zum Anbeißen aus. Mir fiel auf, dass ich ihn bisher immer nur in schwarzen Sachen gesehen hatte. Abgesehen davon aber gab er immer noch genau das gleiche Bild ab wie vor zwei Stunden, als er mich in der Gesellschaft seines unersättlichen und redseligen Onkels zurückgelassen hatte: unglücklich, verspannt, tiefe Stirnfalte. Mit einer Hand umklammerte er so fest die Türklinke, dass seine Knöchel weiß wurden, mit der anderen hielt er einen Schreibstift in der Faust wie einen Dolch.
Wir starrten einander schweigend an. Dann fingen wir gleichzeitig an zu sprechen.
„Jan, ich–“
„Chris, was–“
„Du zuerst“, forderte er mich auf.
„Willst du mich nicht hereinbitten?“
Mit argwöhnischem Blick öffnete er die Tür etwas weiter und trat zur Seite, um mir Platz zu machen.
„Danke“, sagte ich, schob mich an ihm vorbei und betrat das bizarrste Zimmer, das ich je gesehen hatte.
Kapitel 26
Das weiße Zimmer
Es war weiß, überall. Nicht nur die Wände, sondern auch der Boden, die Decke und alles andere war weiß angestrichen. Es gab kaum Möbel – ein Bett, eine umgedrehte Holzkiste als Nachttisch, ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch, ein Stuhl und noch ein paar Kisten. Alles weiß. In einer Ecke war ein Haufen von wer-weiß-was, abgedeckt mit einem weißen Laken.
Nicht ein einziges Bild oder Poster schmückte die Wände, noch gab es sonst irgendwelche Deko. Nur der erwähnte Sandsack – weiß natürlich – baumelte von einem dicken Hacken in einem Deckenbalken und schwang leicht hin und her.
Der ganze Raum wirkte wie der klinische Aufbau für ein verrücktes Menschenexperiment, und nicht wie ein Zimmer, in dem irgendjemand freiwillig leben wollen würde.
Als ich mich umdrehte, stand die Tür immer noch offen, und Kiddo hatte sich kein Stück bewegt. Ich gestikulierte in den Raum hinter mir.
„Du weißt, dass man hier drin schneeblind werden kann, oder?“
„Ich weiß“, antwortete er ohne irgendein Anzeichen von Humor. Dann verengte er die Augen und musterte mich von oben bis unten auf eine Weise, die ich ärgerlich fand, bevor er nüchtern feststellte: „Du bist nicht mehr sauer auf mich.“
„Oh, darauf würde ich mich an deiner Stelle nicht verlassen“, gab ich zurück und verengte meine Augen ebenfalls. Gut zu ihm zu sein, bedeutete nicht zwangsläufig, ihm die Oberhand zu lassen.
Ohne den Blick abzuwenden, griff Kiddo hinter sich und zog langsam die Tür zu. Die Innenseite war … weiß. Dann äußerte er noch eine von seinen nüchternen Feststellungen, so als hätte ich in dieser Angelegenheit gar nichts zu sagen.
„Du bist nicht hier, um dich zu verabschieden.“
Ich schnaubte. „Nein, bin ich nicht, Meister Allwissend. Aber ich kann dir sagen, ich habe mächtig die Nase voll von deinen Launen und deinem Getue.“
Mit zögernden Schritten kam Kiddo auf mich zu, während ich weiterschimpfte:
„Du bist eine solche Nervensäge; am liebsten würde ich dir den Hintern versohlen, damit du zur Vernunft kommst. Und wenn du nicht bald anfängst, mit mir zu reden wie ein erwachsener Mensch, verliere ich vielleicht ganz das Interesse an deinen Antworten.“
Nicht schlecht, Wegener, nicht schlecht.
Kiddo stand jetzt direkt vor mir, und wie üblich, wenn er so nah war, hatte ich Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren.
„Ich mache keine Witze, Chris“, beendete ich lahm meine Ansprache. „Lies meine Gedanken!“
„Das tue ich“, sagte er schlicht, nahm mein Gesicht in beide Hände und – küsste mich.
Oh Scheiße …
Oberlippe, Unterlippe. Mein ganzes Leben lang hatten meine Lippen einander in perfekter Harmonie ko-existiert. Mir war nie klar gewesen, dass ein Lippenpaar sich so einsam fühlen konnte, bevor Kiddo seinen Mund auf meinen presste und die Gemeinschaft vervollständigte. Meine Lippen gaben sich dem Kuss ohne Zögern hin und öffneten sich willig. Seine Zunge berührte meine. Nicht wie ein Eindringling, sondern umwerbend, fast schüchtern, um Erlaubnis bittend. Und ich gewährte sie, von ganzem Herzen.
„Danke“, flüsterte er. Er unterbrach den Kuss gerade lang genug, um das Wort auszusprechen.
Wofür? Ich wollte es laut fragen, aber ich war zu berauscht, um zu sprechen. Der Kuss war zärtlich und süß, und in diesem Moment war mir die Antwort nicht wichtig genug, um ihn zu beenden.
Kiddos Daumen streichelten meine Wangen; seine Finger liebkosten die empfindlichen Stellen hinter meinen Ohren. Ich seufzte selig in seinen Atem.
„Danke dafür, dass du mir verziehen hast“, beantwortete er meine unausgesprochene Frage, während seine Lippen über mein Kiefer fuhren.
Ich wollte den Kopf drehen, um unsere Münder wieder zu vereinen, aber mein Hals war wie Butter in seinen Händen. Kiddo bog sich meinen Körper zurecht, wie es ihm gefiel, und küsste meine Wange, meine Schläfe, mein Ohrläppchen. Dann hauchte er in mein Ohr: „Ich bin so froh, dass du hier bist. Ich bin so gottverdammt froh, dass du nicht weggelaufen bist, Jan.“
Ich wankte ein wenig und stolperte gegen seine Brust. Hastig legte er eine Hand in mein Kreuz und bewahrte mich vor weiterem Unheil. „Was … hey, fall nicht um!“
„Sorry“, murmelte ich. Meine Nase war in der Kuhle zwischen seinen Schlüsselbeinen gelandet. Ich atmete tief ein, erfreute mich an seinem Duft und kicherte. Ich kicherte wie ein Schulmädchen!
Er küsste mich auf den Kopf. „Ich hab dich, Jan. Bist du betrunken?“
Betrunken. Liebestrunken.
„Bier“, sagte ich, obwohl ich wusste, dass es nicht der Alkohol in meinem Blut war. Es war Kiddos bloße Gegenwart, die mich high machte. Ich war trunken von seinen Zärtlichkeiten. Als hätten die beiden Stunden, in denen wir getrennt waren, jegliche Desensibilisierung, die ich in den letzten beiden Tagen gegenüber seinen Berührungen entwickelt haben mochte, wieder zunichte gemacht. Seine Hände und sein Mund waren Gift und Medizin zugleich, berauschend und heilend.
Ich fühlte, wie er den Kopf schüttelte. Dann schnaubte er. „Wolf!“
„Ja“, sagte ich. „Er war so warm.“
Kiddo verspannte sich.
„Es!“, korrigierte ich mich hastig. „Ich meinte das Bier. Es war warm! Ist mir zu Kopf gestiegen.“
Kiddo entspannte sich wieder.
Ich spürte erneut, wie sein Kopf sich bewegte, aber dieses Mal war es ein Nicken. Sein Gesicht war immer noch in meinem Haar, als er sagte: „Der Kühlschrank ist kaputt.“
Nach einem Moment, fügte er hinzu: „Das ist ein seltsames Gespräch.“
„Ja, finde ich auch“, stimmte ich zu. Und im nächsten Augenblick bebten unsere Schultern vor unterdrücktem Lachen.
Ich hob den Kopf, und als ich das Lächeln auf seinem schönen Gesicht sah, rutschten mir die Worte heraus, bevor ich etwas dagegen tun konnte. „Du hast mir gefehlt.“
Sein Lächeln schwand, und er blinzelte ein paarmal, scheinbar genauso überrascht von meinem Geständnis wie ich selbst. Dann wurden seine grünen Augen weich; er atmete geräuschvoll aus und zog mich fest in seine Arme. „Jan, ich … Gott, du hast mir auch gefehlt.“
Sofort fühlte ich mich in seinen Armen etwas weniger wie eine schlenkernde Gliederpuppe. Mein Körper erinnerte sich daran, dass zwei gesunde Arme an ihm befestigt waren, und wie er sie benutzen konnte. Glücklich erwiderte ich Kiddos Umarmung.
Also … bin ich gut zu ihm, oder was?
Kapitel 27
Die Dinge, die man nicht
googeln kann
„Egal, was da steht – geh einfach davon aus, dass es zehnmal so schlimm ist. Ich bin sogar unter Freaks ein Freak.“
Ich ließ Kiddos Laptop los und warf entrüstet die Hände in die Luft. „Herrje, nun hör aber mal auf mit dem Scheiß, okay?“ Ich drehte den Kopf nach rechts, wo sein Kinn auf meiner Schulter ruhte. „Ernsthaft, es wird langweilig jetzt.“
Er holte tief Luft.
„Kann ich bitte ein Okay haben?“, fragte ich, die Hände immer noch erhoben.
„Okay“, sagte Kiddo.
Ich lehnte mich zurück an seine Brust und griff über meine Schulter, um seinen Kopf für einen Kuss heranzuziehen.
„Du bist kein Freak. Ich will davon nichts mehr hören. Und jetzt lass es uns hinter uns bringen“, sagte ich mit Bestimmtheit. Ich fuhr damit fort, den Begriff Synästhesie in das Suchfeld zu tippen, dann drückte ich die Enter-Taste.
Nachdem ich ihm eine kurze Zusammenfassung der Dinge gegeben hatte, die Wolf mir enthüllt hatte, war Kiddo überraschend ruhig geblieben. Er hatte sogar erleichtert gewirkt. Vielleicht weil es ihm auf diese Weise erspart geblieben war, mir all die unangenehmen Geschichten selbst zu erzählen. Vielleicht auch, weil mich seine abgefuckte Kindheit und seine gegenwärtigen Probleme mit der Justiz nicht vertrieben hatten. Ich wusste es nicht. Aber ich war froh, dass er zur Abwechslung cool blieb.
Es war nicht einmal mein Vorschlag gewesen, uns endlich hinzusetzen und zu googeln. Vielmehr hatte er selbst darauf bestanden. Um reinen Tisch zu machen, hatte er gesagt. Und ich war schließlich hier, um gut zu ihm zu sein, richtig?
Und da waren wir nun. Da es in seinem Zimmer nur den einen Stuhl gab, hatten wir es uns auf dem Bett bequem gemacht. Er saß am Kopfende, und ich lehnte zwischen seinen leicht angezogenen Beinen mit dem Rücken an seiner Brust und hatte seinen Laptop auf meinen Knien.
Als sich auf dem Bildschirm die Wikipedia-Seite öffnete, die ich angeklickt hatte, begann er, mit seinen Daumen nervöse, kleine Kreise auf meine Hüftknochen zu zeichnen.
Den ersten Absatz überflog ich recht schnell; ich war nicht besonders daran interessiert, etwas über die griechische Herkunft des Wortes zu erfahren. Da war auch eine Illustration mit bunten Ziffern und Buchstaben. Laut Bildunterschrift stellte es eine Möglichkeit dar, wie jemand mit Synästhesie sie möglicherweise wahrnahm. Ich deutete darauf, aber bevor ich fragen konnte, schüttelte Kiddo den Kopf und sagte: „Kinderkram.“
Ich scrollte durch den nächsten Absatz, der sich mit der „Kinderkram“-Form von Synästhesie befasste. Aber dann blieb ich an einer Stelle hängen: Der Artikel erklärte den Unterschied zwischen neurologischer Synästhesie, die als genetisch erachtet wurde, und einer erworbenen Synästhesie, die sich etwa nach Drogenmissbrauch oder als Folge eines Schlaganfalls entwickeln konnte.
Erneut schien Kiddo zu wissen, was mir durch den Kopf ging. „Genetisch“, sagte er mit rauer Stimme.
„Dann ist es schon immer so gewesen? So lange du dich erinnern kannst“
„Immer“, antwortete er.
Ich nickte und las weiter, wurde aber immer verwirrter. Da war eine Menge wissenschaftliches Blabla, das mir nicht im Geringsten half, Kiddos Situation besser zu verstehen. Ich wurde ungeduldig, aber gerade, als ich etwas dazu sagen wollte, fand ich Folgendes:
Synästheten berichten häufig, dass sie sich der ungewöhnlichen Natur ihrer Wahrnehmungen gar nicht bewusst waren, bis ihnen klar wurde, dass andere Menschen die Welt nicht auf dieselbe Weise erleben. Einige erzählen, dass sie das Gefühl hätten, ihr ganzes Leben lang ein Geheimnis gehütet zu haben.
Ich erinnerte mich an das, was Wolf mir erzählt hatte, und begann zu begreifen, wie schmerzvoll es für ein Kind sein musste zu entdecken, dass es nicht nur anders war als andere Kinder, sondern dass sein Anderssein als falsch betrachtet wurde, und schlimmer noch, als seine Schuld! Ich verstand Kiddos bis heute währende Anstrengungen, es geheim zu halten, und es machte mich unheimlich traurig.
Ohne nachzudenken griff ich hinter mich und streichelte sein Haar. Er seufzte. Dann hob er die Hand, legte sie über meine auf dem Trackpad und führte meine Finger, um auf der Seite weiter nach unten zu scrollen. Schließlich hielt er an und markierte einen einzelnen Satz:
Die meisten Synästheten bezeichnen ihre Erfahrungen als angenehm oder neutral. In seltenen Fällen aber berichten sie, dass ihre Wahrnehmungen zu einem Grad von Reizüberflutung führen können, der als unangenehm oder gar schmerzhaft empfunden wird.
„Reizüberflutung?“, fragte ich. „Ist es das, wovor du Angst hast, wenn wir …“
Er nickte.
„Und diese Schwarz-Sache, wenn du die Beherrschung verlierst – liegt das auch an Reizüberflutung?“
Noch ein Nicken.
„Chris, das ist alles so verwirrend. Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich verstehe, wie das für dich ist.“
Seine Finger auf meinen setzten sich erneut in Bewegung. Dieses Mal hielt der Mauszeiger an einem Absatz über die verschiedenen Ausformungen von Synästhesie. Der Teil, den Kiddo markierte, trug die Überschrift Klang-Farb-Synästhesie . Das war es?
… ähnlich wie Feuerwerk: Stimmen, Musik und bestimmte Umweltgeräusche wie das Scheppern von Geschirr oder das Bellen von Hunden lösen Farben und einfache Formen aus, die auftauchen, sich bewegen und schließlich verblassen, wenn der Klangreiz endet. Für manche ist der auslösende Reiz auf einen bestimmten Klangtyp begrenzt (z.B. nur auf Musik, oder sogar nur auf einen bestimmten musikalischen Ton); bei Anderen wird die Synästhesie von einem breiten Spektrum von Klängen ausgelöst. Klänge ändern häufig die wahrgenommene Farbe, die Helligkeit, sowie die Richtung und Schnelligkeit der Bewegungen. Manche Synästheten sehen Musik wie auf einer „Leinwand“ vor sich …
Ich hörte auf zu lesen und zeigte auf den betreffenden Absatz. „Ist es so für dich?“
„Schlimmer“, antwortete er. „Aber ja, so ziemlich. Das heißt, wenn ich es unter Kontrolle habe.“
Erleichtert darüber, dass er endlich seine Stimme wiedergefunden hatte, schloss ich den Laptop. Ich hatte erst einmal genug von all dem wissenschaftlichen Kauderwelsch.
„Aber wie kannst du es überhaupt kontrollieren? Sie sagen hier“, ich tippte auf den Deckel des Laptop, „dass diese Wahrnehmungen völlig unwillentlich kommen.“
„Sie irren sich“, erklärte er entschieden. „Ich sagte dir schon, dass ich ein Fr … ein besonderer Fall bin.“
Ich musste mich nicht zu ihm umdrehen, um zu wissen, dass jetzt gerade die Sonderfall-Falte zwischen seinen Augenbrauen stand. Aber falls er glaubte, so einfach wieder in seine gottverdammte Selbstverachtung zurückfallen zu können, dann kannte er mich nicht besonders gut.
Ich stellte den Computer zur Seite, drehte mich zu ihm um und positionierte meine Beine über seine. Dann verschränkte ich meine Finger in seinem Nacken.
„Für mich bist du ganz sicher ein besonderer Fall, aber keiner von der schlechten Sorte“, sagte ich zu ihm. „Das weißt du, oder?“
Die Stirnfalte blieb.
Ach komm schon, Kiddo!
„Kann ich ein Lächeln bekommen?“, gurrte ich und schlang meine Beine um seine Hüften. „Im Tausch gegen einen Kuss vielleicht?“ Zögernd, wie gegen seinen Willen, wanderte einer seiner Mundwinkel aufwärts.
Na bitte!
Ich hatte keine Ahnung, wo ich diese verführerisch-neckende Persönlichkeit plötzlich herbekam – hoffentlich nicht von einem erneuten Anfall des Twinkjammers – aber wenn ich bei Kiddo damit erreichte, was ich wollte, dann war ich gewillt, Wolfs warmem Bier die Schuld zu geben und den ganzen Tag mit den Wimpern zu klimpern wie eine Dragqueen, falls nötig.
„Das ist schon besser“, sagte ich sanft und beugte mich vor, um ihn zu küssen. Gott, ich küsste ihn so gern! Seine Hände streichelten meine Oberschenkel, die vertraute Hitze entzündete sich in meiner Magengegend und weiter unten in–
Bleib bei der Sache, Wegener!
Ich beendete den Kuss, bevor ich meine Fähigkeit, klar zu denken, vollends einbüßte, und flüsterte: „Nicht all deine synästheti …sischen Wahrnehmungen sind unangenehm, richtig?“
Kiddo schnaubte ein kleines Lachen. „Synästhetischen.“
„Ja gut, aber richtig?“
Er leckte sich die Lippen, bevor er antwortete: „Richtig.“
„Wie diese zum Beispiel.“ Ich küsste seinen Hals, direkt unter seinem Kinn. „Hat das eine Farbe?“
Er stöhnte leise. „Nein, es ist … es hat einen Klang.“
Ich fuhr mit beiden Händen hinunter zu seiner Brust, während ich weitere Küsse an seinem Hals verteilte. „Also einen Klang“, murmelte ich und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. „Ist es ein schöner Klang?“
Ohne meine Lippen von seiner Haut zu lösen, öffnete ich Knopf Nummer zwei. „Aber keine Farbe, hm. Schade.“ Ich schob meine Hüften ein wenig nach vorn. „Was war es noch beim letzten Mal … violett? Ich mag violett“, schnurrte ich und machte mit Knopf Nummer drei weiter.
Seine Lider flatterten, und er öffnete die Augen. „Bitte tu mir das nicht an“, seufzte er, aber sein Körper leistete nicht den geringsten Widerstand. Seine Hände hatten sich zu meiner Taille hochgearbeitet, und er streichelte mit den Daumen meine Rippen.
„Warum nicht?“, fragte ich und öffnete Knopf Nummer vier. „Gib die Kontrolle auf, nur für einen Moment, ja?“ Und weil ich ein echtes Luder sein konnte, fügte ich betont hinzu: „ Liebes ?“
Sofort wurde sein Griff um meine Taille fester, und er stieß ein tiefes Stöhnen aus. „Gott, Jan … hör auf. Du weißt nicht, was du von mir verlangst.“
Ich zog sein nun offenes Hemd aus dem Bund seiner Jeans, dann küsste ich langsam einen Pfad von seiner Brust bis hinunter zu seinen definierten Bauchmuskeln und flüsterte an seiner Haut: „Warum fällt dir das so schwer? Was ist nötig, damit deine Schutzmauern fallen?“
„Gar nichts. Ich muss einfach nur aufhören, sie mit aller Kraft aufrecht zu halten“, murmelte er. Seine Brust hob und senkte sich heftig.
Ich hörte auf, ihn zu küssen, setzte mich gerade hin und starrte ihn ungläubig an. „Das ist es? Das ist alles?“
„Aber ich kann nicht, Jan. Ich werde dir wehtun oder … Ich weiß nicht. Es geht einfach nicht. Es ist unmöglich.“
Er war so aufgewühlt, dass ich meine Verspieltheit auf der Stelle vergaß. Offenbar angewidert von sich selbst, machte er Anstalten, mich von sich herunterzuschieben. Ich ergriff seine Hände, um ihn davon abzuhalten, und nach ein bisschen halbherzigem Gerangel gab er auf und sackte gegen das Kopfende des Betts.
„Jan, bitte …“
Kiddo wand eine Hand aus meinem Griff, um sich das Gesicht zu reiben und mit den Fingern durch sein Haar zu fahren, aber seine andere Hand hielt die meine ganz fest. Er zitterte, oder vielmehr: vibrierte am ganzen Körper, und er atmete flach und hastig. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wovor ihm so sehr graute.
„Chris, rede mit mir.“
Sein Blick ruhte auf unseren vereinten Hände, als er seine Finger mit meinen verschränkte und krächzte: „Ich habe sowieso schon keine Abwehr bei dir, Jan. Es ist nur ein ganz schmaler Grat, der mich von der Reizüberflutung trennt, wenn ich mit dir zusammen bin. Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren. Ich habe Angst davor, mich ganz und gar zu verlieren, und–“
„Aber das ist ja, wie es sein soll, weißt du das denn nicht?“ Ich beugte mich nach vorn, sodass er mich ansehen musste. „Darum geht es doch … sich zu verlieren, die Kontrolle aufzugeben, sich ganz der anderen Person hinzugeben … dem Gefühl, dem Menschen, mit dem du Liebe machst.“
Er atmete zitternd aus. „Ich glaube nicht, dass ich das kann.“
„Willst du es nicht versuchen? Für mich?“
Kiddo schloss die Augen und verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen.
„Wie wäre es, wenn wir es ganz langsam probieren, Schritt für Schritt?“, schlug ich vor. „Du musst gar nichts tun. Entspann dich einfach und überlass mir die ganze Arbeit.“
Eine Schauer lief durch seinen Körper. „Gott, Jan, ich wünschte, ich könnte das.“
„Ich weiß, dass du es kannst. Du sagst, Klänge sind die stärksten Trigger? Ich werde kein einziges Wort sagen. Ich werde keinen Piep von mir geben, das verspreche ich.“
Das kriege ich hin … denke ich?
„Ich werde dich nur berühren, und du kannst mir sagen, wenn es dir zu viel wird. Oder du kannst sagen, ich soll ganz aufhören. Jederzeit.“
Er behielt die Augen geschlossen. Eine einzelne Träne löste sich von seinen Wimpern und lief an seiner Wange hinab, als er zögernd nickte. Ich küsste sie behutsam fort.
„Hab keine Angst“, flüsterte ich.
Und bitte, bitte weine nicht!
Es brach mir das Herz. Ich wünschte mir nichts dringender, als ihm diesen Kummer zu nehmen, damit er sich frei fühlen konnte. Frei von Angst. Frei von Schuld. Frei von Zurückhaltungen. Ich wollte, dass er die Freiheit hatte, Freude und Lust zu empfinden, sich begehrt und auf gute Art besonders zu fühlen. Ich wollte, dass er glücklich war.
Ich küsste seine Finger, die immer noch mit meinen verschränkt waren. „Lass mich kurz los; ich will nur die Tür abschließen, aber ich komme sofort zurück, okay?“
Er ließ meine Hand los, und ich kletterte vom Bett herunter. Als ich die arktische Landschaft seines Zimmers durchquerte, erregte ein leuchtend roter Fleck auf seinem weißen Schreibtisch meine Aufmerksamkeit. Sein Notizbuch. Tagebuch, was auch immer.
Der rote Einband schien mich anzuschreien, als wollte er mir etwas Wichtiges mitteilen. Und als ich den Schlüssel in der Tür drehte, die nur von außen grün, aber von innen so weiß war wie alles andere hier drin, traf mich die Erkenntnis.
Ich drehte mich um. „Chris?“
Er öffnete die Augen, und ich breitete die Arme in einer Geste aus, die den ganzen Raum umfasste. „Warum ist eigentlich alles hier weiß?“
Er antwortete nicht sofort. Ganz langsam ging ich zurück zum Bett und hielt dabei seinen Blick fest. „Es ist eine Leinwand, habe ich recht? Dieser ganze Raum ist eine Leinwand.“
Ich setzte mich auf die Bettkante. „Du gibst die Kontrolle auf, wenn du allein in diesem Zimmer bist, stimmt’s?“
Er schluckte. „Ja.“
Heilige Scheiße!
„Dann kannst du es also tun. Du tust es die ganze Zeit schon.“
„Ja.“
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Wieso hatte ich das nicht sofort erkannt, als ich das Zimmer betreten hatte. Es war so offensichtlich, wozu das ganze Weiß diente. Die Abwesenheit jeglicher Farben, keine Ablenkung, keine Überlagerung, keine Interferenz. Kiddo hatte sich einen sicheren Raum erschaffen, in den er sich einschließen konnte, um sich heimlich seinen Visionen und Empfindungen hinzugeben, als wären es illegale Drogen.
„Und du genießt es, wenn du ganz allein hier bist, oder? Genießt du es, die Kontrolle aufgeben zu können?“
„Ich kann dann für eine kleine Weile ich selbst sein.“
Oh, Kiddo …
Ich hätte heulen können. Schon wieder! Aber was um alles in der Welt hatten sie ihm nur angetan? Ich griff nach seinem Hemd und zog es ihm von den Schultern.
„Leg dich hin, Liebes“, sagte ich, während er aus den Ärmeln schlüpfte. „Ich möchte, dass du jetzt mit mir ganz du selbst bist.“
Er sank auf seinen Rücken und legte einen Unterarm über seine Augen. Seine Hände waren zu festen Fäusten geballt. Ich seufzte. Das würde nicht leicht werden.
Wenn er wenigstens erstmal aufhören würde, so zu zittern …
Ich kletterte aufs Bett und knöpfte seine Jeans auf. „Versuch dich zu entspannen. Es wird alles gut“, sagte ich leise, während ich ihm Jeans und Unterhose herunterzog. Im Gegensatz zu seinem aufgewühlten Verstand schien sein Körper zu wissen, dass es nichts gab, wovor er sich fürchten musste. Er hatte einen Ständer, und ich musste mich ermahnen, nichts zu überstürzen.
Ich schlüpfte aus meinen eigenen Sachen und zog das Gummi aus meinen Haaren. Dann fummelte ich in der Gesäßtasche meiner Jeans nach meiner Brieftasche, holte ein Kondom und ein kleines Tütchen Gleitgel heraus und deponierte beides auf dem Bett. Schließlich legte ich mich neben Kiddo, stützte mich auf einen Ellenbogen und streichelte sanft seinen Bauch. „Bist du bereit?“
„Nein“, sagte Kiddo.
„Für mich siehst du recht bereit aus“, neckte ich. Er sagte nichts. „Möchtest du, dass ich jetzt still bin?“
„Nein, bitte … wenn es nicht zu viel verlangt ist, rede bitte weiter mit mir.“
Ich berührte sanft seinen Arm. „Chris, Liebes …“ Ein neues Stöhnen rumpelte durch seine Brust. „Bitte sieh mich an.“
Widerwillig hob er den Arm, drehte den Kopf und öffnete die Augen. Sie waren tränenfeucht.
„Vertraust du mir?“, fragte ich ihn.
„Ich vertraue mir selbst nicht, Jan.“ Er verzog das Gesicht und kniff sofort wieder die Augen zu.
Aus Sorge, er würde wieder anfangen zu weinen, fuhr ich rasch fort: „Lass mich dich glücklich machen, Chris. Ich will das so sehr, aber ich brauche ein bisschen Hilfe von dir. Ich möchte, dass versuchst, dich zu entspannen, ganz so, als wärst du allein hier. Kannst du das für mich tun?“
„Ich werde es versuchen“, versprach er.
„Das ist alles, was ich verlange.“