7.

Arthur reagierte nicht auf die Nachrichten, die Allegra ihm schrieb. Auch Gabriella war nicht zu erreichen. »Es ist, als wäre die Familie Sorento untergetaucht«, beschwerte sich Allegra. »Verdammt, ich würde wirklich gern mit ihm reden, auch wenn wir uns vorhin gezofft haben.«

Florentine legte Allegra tröstend einen Arm um die Schultern. »Ach, Arthur tut das, was er am besten kann: lernen. Oder recherchieren. Du kanntest ihn vorher nicht, aber Arthur igelt sich gerne ein, wenn er eine Aufgabe hat. Der taucht schon wieder auf, keine Sorge. Er hat dich sehr gern. Hm, ich glaube, er hat keine große Erfahrung in Sachen Beziehung.«

»Ich auch nicht«, sagte Allegra ein bisschen kläglich. »Also Arthur ist nicht mein erster Freund. Aber der erste, bei dem es mir so richtig ernst ist. Was ist eigentlich mit dir?« Allegra wollte das Thema Arthur im Moment nicht weiter vertiefen. »Du wirst gar nicht mehr rot, wenn Lorenzo dich anschaut.«

Florentine lächelte verlegen. »Zwischen uns hat sich etwas verändert. Ich habe ihn angehimmelt, da war er mit Sofia zusammen. Keine Chance für mich. Und jetzt ist er frei – also zumindest halbwegs –, und ich finde ihn immer noch toll, aber das Kribbeln ist weg. Vielleicht war ich in die Kopie von Lorenzo verknallt, die Sofia und Mortensen aus ihm gemacht haben? Ich weiß es auch nicht.«

Ein Kopie von Lorenzo, das klang gruselig. Aber Allegra wusste genau, was Florentine meinte. Die Agenten, die von Mortensen und Sofia im Traum manipuliert worden waren, hatten immer deutlichere Ausfallserscheinungen gezeigt, nur hatten die Agenten die Anzeichen übersehen.

Allegra tippte auf ihrem Handy herum, scrollte sich durch die News-Timeline und stutzte. Sie hatte wenig Zeit, Nachrichten zu schauen, französische Tageszeitungen waren ihr zu anstrengend und brachten ohnehin kaum etwas über das Leben in Deutschland. Also hielt sie sich durch diverse Online-Dienste auf dem Laufenden. »Eh … schau mal.« Sie hielt Florentine ihr Handy hin. »Der Schönburg hat ein weiteres Interview gegeben und kompletten Unsinn geredet. Sie gehen davon aus, dass er betrunken war.« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. So, wie der damals bei uns auftrat. Der ist so ein ganz zielgerichteter, klarer Typ gewesen.«

»Vielleicht der Stress?« Florentine tippte auf den Link, der einen größeren Artikel öffnete. »Man sagt doch immer, dass Politiker oft nur mit Aufputschmitteln durch ihre 20-Stunden-Tage kommen.«

»Ja schon. Aber der nicht.« Plötzlich richtete sich Allegra, die froh war, etwas zum Nachdenken zu erhalten, kerzengerade auf. »Sag mal, wenn ich eine bestimmte Person im Blick habe, wie finde ich ihren Traum?«

Florentine, der es ebenso ging, kombinierte blitzschnell. »Du willst Schönburg besuchen?«

»Hm, ja. Ich würde gerne wissen, ob mit ihm alles in Ordnung ist. Erinnerst du dich an Mike? Der war auch nicht betrunken, obwohl es so aussah.«

»Das ist keine so schlechte Idee.«

»Arthur hat Gabriellas Traum gefunden, weil ihre Träume seinen ähneln. Aber wie findet man einen komplett fremden Traum?«

»Du brauchst etwas, das dich zu ihm leitet. Sonst stocherst du nur im Nebel.«

»Schönes Wortspiel. Das tue ich ohnehin.« Allegra dachte an ihre Eltern.

»Lass mich mal überlegen.« Florentine sprang auf und ging in ihr Zimmer, kam mit zwei Büchern zurück. »Das ist Stoff fürs zweite Jahr, so weit waren wir noch nicht, habe ich aus der Bibliothek. Ach Mist, Frakturschrift, da brauche ich immer länger zum Lesen. Das andere ist Gott sei Dank neuer.«

»Oder wir fragen Corlaeus«, sagte Allegra, die Adairs Warnung, keine Alleingänge zu unternehmen, noch im Ohr hatte. Und angesichts dessen, was Laurie geschehen war, war sie gewillt, der Anweisung zu folgen.

»Wir tun beides«, schlug ihre Freundin vor und blätterte in dem dickeren der beiden Wälzer, der Geruch von altem Papier stieg ihnen in die Nase. Florentine nieste. »Das ist alles so vage«, beschwerte sie sich und beugte sich weiter vor, bis ihre Nase fast die Seiten berührte, als würde sich der Text verändern, wenn sie nur nahe genug herankam.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Allegras Herz machte einen kleinen erwartungsvollen Hüpfer. Doch es war nicht Arthur, der da auf den Stufen stand.

»Guten Abend, ihr zwei«, sagte Corlaeus und sah die beiden mit seinen hellen blauen Augen an, in denen Mitgefühl schimmerte. »Ich habe gehört, was geschehen ist. Wie geht es euch?«

»Das gibt’s nicht«, sagte Allegra verblüfft. »Gerade haben wir von Ihnen gesprochen. Kommen Sie doch rein.« Sie rang kurz mit sich, doch dann fragte sie leise: »Wissen Sie etwas Neues von Laurie?«

Corlaeus schüttelte stumm den Kopf. »Noch nichts. Wir lassen es euch wissen.« Er ließ sich auf das Sofa sinken und betrachtete interessiert die beiden Lehrbücher. »Das sieht nach Ablenkung aus. Was sucht ihr denn?«

Allegra berichtete von Schönburg. »Vielleicht ist es ja gar nichts und der Typ ist nur überarbeitet, aber ich habe ein komisches Gefühl.«

»Es könnte tatsächlich eine falsche Spur sein. Aber angesichts der Situation, in der wir uns befinden, schadet es bestimmt nicht, wenn du einen Blick in seinen Traum wirfst«, kommentierte Corlaeus, und Florentine sah ihn erstaunt an. »Sie haben nichts dagegen?«

»Ich möchte, dass Allegra draußen bleibt«, präzisierte er. »Aber Allegra, du könntest versuchen herauszufinden, ob man mit ihm Schindluder getrieben hat. Deine Intuition hat sich schon mehrfach als richtig erwiesen.«

»Und damit kommen wir zu der alles entscheidenden Frage: Wie findet man den Traum von jemandem?«

»Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Am besten wäre es, wenn du eine Kette zwischen ihm und dir herstellen könntest.«

Allegra verstand kein Wort.

»Ach so«, fiel Florentine ein. »Sie meinen, ich kenne jemanden, der kennt wiederum jemanden, und der kennt jemanden, der Schönburg kennt?«

Corlaeus schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände um ein Knie. »Ganz genau, Florentine. Also, gibt es eine Verbindung zwischen dir und diesem Herrn, Allegra?«

Allegra überlegte. »Hm … von mir zu meiner ehemaligen Lehrerin zu ihm? Ich vermute, sie hat ihn damals eingeladen. Aber sicher bin ich nicht, es war eine Veranstaltung der ganzen Schule.«

Corlaeus schüttelte den Kopf. »Geht es etwas konkreter?«

»Ich könnte Quirin fragen, ob er oder seine Redaktion mit ihm Kontakt hatten«, schlug sie zögernd vor.

»Ja, das wäre tatsächlich besser. Du beginnst bei der Person, die du gut kennst, also Elena. Sie leitet dich zu Quirin und so weiter. Du kannst dich sozusagen von Traum zu Traum hangeln, bis du da bist, wo du hinmöchtest.«

»Das klingt aber ziemlich kompliziert.« Allegra sah sich schon Stunden durch die Traumzeit irren. »Und vor allem dauert’s ja ewig, bis ich da bin. Gibt es keine einfachere Methode?«

»Es klingt komplizierter, als es ist. Jetzt kläre erst einmal mit Quirin, ob er dir weiterhelfen kann. Ich verlasse mich ohnehin darauf, dass du nicht alleine gehst. Stell dir bitte ein Team zusammen. Ich möchte, dass ihr mindestens zu dritt seid.«

»Kommen Sie mit?« Allegra sah ihn hoffnungsvoll an.

Corlaeus schüttelte bedauernd den Kopf. »Nimm Lorenzo mit, der kennt zumindest die Theorie.« Er beugte sich vor. »Eigentlich bin ich gekommen, um mich von euch zu verabschieden. Ich werde ein paar Tage unterwegs sein, um die Abwehrmechanismen der anderen europäischen Akademien zu koordinieren. Wir können viel per Video-Chat besprechen, aber für manche Dinge muss man in einem abhörsicheren Raum sitzen.«

»Aber das geht nicht! Wir brauchen Sie hier!«, protestierte Allegra. »Sie sind unser Wächter.«

Auch Florentine sah aus, als habe sie einen Schlag auf den Kopf erhalten. »Sie können doch jetzt nicht weg!«

»Adair ist hier, ebenso Madame Pinot. Ihr seid also sicher. Und ich bin ja nicht aus der Welt. Haltet mich auf dem Laufenden«, sagte Corlaeus und erhob sich, umarmte beide Mädchen herzlich.

Als die Tür hinter ihm zufiel, gähnte Allegra. Sie war mit einem Mal furchtbar müde. »Dieser Tag hatte es in sich«, sagte sie. »Ich geh ins Bett.« Sie putzte sich gedankenverloren die Zähne, fuhr sich mit einer Bürste noch einmal durch die Haare und ließ sich dann ins Bett sinken, zog die Decke über sich. Ein Summen ließ sie noch einmal aufschrecken. Der Bildschirm ihres Handys leuchtete auf. Habe es heute nicht geschafft. Aber du hast es gerockt, hab ich gehört. Wegen Laurie nicht die Hoffnung aufgeben. Frühstücken wir morgen zusammen?

PS Ich habe ein neues Tablet. A.

Allegra lächelte ein zaghaftes Lächeln. Der Tag endete nicht so furchtbar, wie sie befürchtet hatte. Ganz leicht duftete es um sie herum nach Aqua di Gio.