Allegra meldete sich bei Madame Anglot ab und winkte den anderen zu. »Bis morgen!«, rief sie.
Alle hoben kurz grüßend die Hand, keiner fragte nach. Dass Allegra einen Sonderstatus besaß, wusste jeder.
Nach dem Duschen zog sie ihre übliche Kampfkleidung an. Sneaker, Leggins, Top. Lorenzos Hoodie band sie sich um die Hüften. Den würde sie im Traumsaal überziehen. Kopfüber bürstete sie ihre Haare durch, richtete sich mit Schwung wieder auf und band alles am Hinterkopf zu einem Zopf zusammen.
Langsam drehte sie sich in ihrem Zimmer um sich selbst. Was machte dieses Zimmer zu ihrem? Es waren Kleinigkeiten. Ein Bild, Fotos, der Duft ihres Parfüms. Es würde nicht reichen, irgendeine Erinnerung an ihre Eltern zu finden. Es musste etwas sein, das in ihr – und in den verlorenen Seelen – Emotionen auslöste, Sehnsucht, ja, ein unbedingtes »Ich-will-Dorthin«. Elena würde ihr in diesem Fall nicht helfen können. Ihre Schwester hatte andere Erinnerungen, andere Bilder im Kopf. Der Traum musste aus Allegras Innerstem kommen, wenn er seinen Zweck erfüllen sollte.
Und das auch noch zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Gefühle sowieso schon Achterbahn fuhren. Arthur … Hatte sie Mist gebaut? Oder war sie zu Recht so sauer gewesen? Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihr, dass sie noch eine halbe Stunde Zeit hatte. Das reichte, um Florentine zu besuchen. In der Zwischenzeit, so hoffte sie, würde sich ihr Unterbewusstsein brav mit der gestellten Aufgabe beschäftigen und ihr danach eine passende Erinnerung liefern.
Florentine lag blass, aber mit wachen Augen in ihrem Bett. Sie richtete sich auf, als die Tür aufging. »Allegra!«, sagte sie. »An dich habe ich gerade gedacht.«
Allegra erkannte den Raum, in dem sie vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls eine Nacht verbracht hatte. Ein schmaler Wasserfall plätscherte fast lautlos an einer Steinwand herab, die grelle Nachmittagssonne wurde durch fliederfarbene Vorhänge gemildert.
»Hey! Du siehst wieder viel besser aus.« Allegra setzte sich zu ihrer Freundin auf die Bettkante und umarmte sie vorsichtig. »Wo ist der Tropf?«
»Schon wieder weg«, berichtete Florentine stolz und wackelte mit der Hand, in der die Kanüle gesteckt hatte. »Nur meine Sauerstoffsättigung überprüfen sie, und immer wieder piepst es. Madame Berger sagte aber, das sei okay.«
»Und schlecht ist dir auch nicht mehr?«
»Na ja, noch ein bisschen. Deswegen muss ich auch noch hierbleiben. Aber wenn ich bis morgen alles bei mir behalte, was ich esse, lassen sie mich raus.«
»Das hört sich gut an.«
Florentine legte Allegra eine Hand auf den Unterarm. »Du hast mich gerettet. Ich glaube, mir war noch nie so schlecht. Wie hast du mich eigentlich hierhergebracht?«
Allegra grinste. »Lorenzo hat dich getragen.«
»Lorenzo, hm?« Florentine machte eine Pause und ließ sich ins Kissen zurücksinken. Von unten herauf sah sie Allegra aus halb geschlossenen Lidern an. »Lorenzo«, wiederholte sie gedehnt, aber bei Weitem nicht so schwärmerisch, wie sie es früher gesagt hätte. Stattdessen fixierte sie Allegra mit einem forschenden Blick. »Warum hast du nicht Arthur gerufen?«
Mit dieser Frage hatte Allegra nicht gerechnet. »Äh …« begann sie, brach wieder ab.
Florentine seufzte. »Ihr zwei müsst so dringend miteinander reden!«
»Haben wir. Heute Morgen. Und ich hab’s vergeigt«, gab Allegra zu.
»Oje.« Florentine sah sie mitleidig an. »Was war denn?«
»Erzähl ich dir ein andermal. Ich muss gleich in den Traumsaal«, wich Allegra aus.
»Dann fass dich kurz«, sagte Florentine streng.
Allegra überlegte kurz, ob sie flüchten sollte, beschloss dann aber, dass es ihr guttun würde, sich ihren Kummer von der Seele zu reden.
Florentine lauschte kommentarlos, als Allegra das Gespräch rekapitulierte.
Zu Allegras Überraschung lächelte sie. »Du warst ein bisschen hart zu ihm, aber Arthur hat auch nicht gerade kommunikativ geglänzt. Und vielleicht solltest du eins bedenken, bevor du ihm vorwirfst, dass er außer seiner Arbeit nichts mehr wahrnimmt.«
»Was denn?«
»Die Sorentos haben in der DI keinen guten Stand. Dafür kann Arthur nichts, aber er weiß es, und er muss damit leben. Die Lamartins gehören zu den tonangebenden Familien. Er tut das, was diese Dr. Ich-bin-so-wichtig von ihm will, ganz einfach. Vielleicht, weil er Angst hat, bei der Akademie in Ungnade zu fallen. Darunter würde möglicherweise auch seine Familie zu leiden haben.«
»Aber er ist doch überhaupt kein angepasster Typ.« Für Allegra war angepasst fast gleichzusetzen mit spießig. »Überleg mal, was für eine Antihaltung er bei Madame Reloy an den Tag gelegt hat!« Das Rebellische an ihm hatte sie von Anfang an angezogen.
»Er ist nicht rebellisch«, widersprach Florentine, als hätte sie Allegras Gedanken gelesen. »Er ist talentiert und clever und hält es nicht aus, wenn jemand nicht mit ihm Schritt halten kann. Das sagt er ja sogar ganz offen. Ich bin Anfang des Jahres auch mit ihm zusammengerasselt, weil ich mit ihm in einer Arbeitsgruppe war und nicht das gemacht habe, was er für sinnvoll hielt.«
»Und was bedeutet das jetzt?«
»Ich denke mal, er fühlt sich für seine Familie verantwortlich. Vor allem jetzt, wo Gabriella hier ist. Dass seine Familie so einen schweren Stand hier hat, ist ihm peinlich, deswegen redet er nicht drüber.«
»Wieso peinlich? Mit mir kann er über alles reden, ich bin seine Freundin!«
»Umso mehr will er vor dir die Fassade wahren. Ist doch klar. Schließlich gehört ihr Hellers auch zu den Überfliegern. Und dann«, Florentine hob den Finger, »kommt noch etwas hinzu: Wenn Arthur eine Aufgabe hat, wird er zum Super-Nerd. Sozial unverträglich. So kennen wir ihn. Also höre auf meine Worte, Schwester: Gib ihm Zeit und – rede. Mit. Ihm.«
Ein paar Sekunden herrschte Stille im Raum, nur das Summen der Geräte und das Plätschern des Wasserfalls waren zu hören.
»Das nenne ich mal eine Analyse! Ich habe immer nur Arthur selbst wahrgenommen, nicht sein Leben oder irgendwas anderes drum herum. Du solltest Therapeutin werden«, sagte Allegra bewundernd.
»Vielleicht. Wenn wir das hier überleben«, sagte Florentine ganz ernst.
»Das werden wir.« Allegra umarmte ihre Freundin erneut. »Ich muss los! Und wenn alles gut geht, erzähle ich dir morgen mehr.«
Sie warf noch einen Blick in Madame Pinots Zimmer, doch die alte Dame schlief, diverse Schläuche hingen an ihrem Körper. Regelmäßiges Piepsen erfüllte den Raum, auf einem Stuhl in der Ecke saß eine Frau – offensichtlich jemand, der Wache hielt – und schrieb in ein Notizbuch. Sie hielt den Finger an die Lippen, und Allegra nickte. Ganz leise schloss sie die Tür und wandte sich zum Ausgang. Am liebsten hätte sie sich jetzt auf ihren Lieblingsplatz zurückgezogen: in den Schatten der Kiefer hinter ihren Bungalow und über Florentines Worte nachgedacht. Sie hatte schon gewusst, dass die Sorentos und Adair nur das Nötigste miteinander sprachen, aber nie darüber nachgedacht, ob das irgendeine Auswirkung auf Arthur hatte. Was für ein Glück, jemanden wie Florentine zu haben!
Madame Berger, Adair und Lorenzo erwarteten sie im Traumsaal.
»Hast du eine passende Erinnerung gefunden?«, fragte Adair.
Allegra horchte in sich hinein. Ihr Unterbewusstsein tat ihr den Gefallen. Ein Lächeln breitete sich langsam auf ihrem Gesicht aus, und sie nickte.
»Dann los. Lorenzo und Jean haben bereits zwei Träume gefunden, mit denen du es versuchen kannst. Da Madame Pinot und Florentine derzeit nicht einsetzbar sind, habe ich die Taskforce um Jean und Sabine erweitert. Sie bewachen die Träume, bis wir kommen, aber lange werden sie nicht halten.« Er wies auf die Sanduhren. »Wir haben eine Stunde, ich denke, das reicht für den Anfang.«
Tatsächlich, da lagen die zwei Studenten, zugedeckt mit der obligatorischen Fleecedecke. Sie hatte sie im ersten Moment übersehen. Allegra zog sich den Hoodie über, legte sich auf die Liege daneben und schloss die Augen. Einen Atemzug später befand sie sich auf der ersten Ebene.
»Der Wechsel klappt ja schon wesentlich schneller als früher«, lobte Madame Berger, die direkt nach ihr auftauchte.
»Danke«, sagte Allegra. »Hallo, Jean!«
Jean winkte ihr zu, um ihn herum schimmerte die bläuliche Aura. »Hallo, ma chère. Schau mal, was wir für dich haben!«
Der Traum hinter ihm wies einige Dellen auf und sah aus, als würde er demnächst in sich zusammenfallen. Ein paar Schritte hinter Jean stand Sabine, die belgische Studentin. Auch sie winkte Allegra zu, richtete ihre Aufmerksamkeit aber sofort wieder auf ihre Aufgabe und sicherte die Umgebung nach allen Seiten ab.
»Wie fange ich an?«, fragte Allegra Madame Berger.
Jetzt erschien Adair neben ihr. Er wies zu dem Traum. »Das Shifting geschieht in drei Schritten. Erst verstärken wir die Membran, kitten alle brüchigen Stellen. Dann gehen wir hinein und erweitern den Traum. Und als drittes pflanzt du deine Erinnerung hinein.«
Jean verzog den Mund zu einem Lächeln, und Allegra konnte förmlich hören, was er dachte: Bei Adair klingt es immer so einfach. Sie rollte andeutungsweise mit den Augen und erwiderte das Lächeln, dann nickte sie. Langsam ging sie um den Traum herum. Wie sie es mit Corlaeus geübt hatte, hielt sie die Hände vor sich, tastete die Membran ab, um die Stellen zu finden, die man reparieren musste. Während Jean und Sabine ein paar Schritte abseits standen, damit ihnen nicht entging, falls jemand Fremdes sich dem Team nähern sollte, kümmerten sich Adair und Madame Berger ebenfalls um den Traum. Unter ihren Händen glühte die Aura auf. Allegra konnte es ab und zu sogar knistern hören, wenn Adair einen beginnenden Riss sorgfältig verschloss. Allegra umrundete den Traum mehrfach, prüfte jede Stelle, die ihr verdächtig erschien, und kittete mehr, als wahrscheinlich notwendig war. Erst als nicht einmal mehr der kleinste Haarriss zu sehen war, gab sie sich zufrieden. Auch die beiden Lehrer traten von der Membran zurück und nickten ihr zu.
»Gut«, meinte Adair. »Hast du gemerkt, dass die Membran keinen Rhythmus mehr aufweist?«
»Ja.« Das war ihr aufgefallen.
»Jetzt können wir damit beginnen, den Traum von innen heraus zu ändern. Wir fangen mit der Form an.«
»Gehen Sie mit rein?« Allegra hatte noch nie den Traum von jemandem betreten, der nicht mehr lebte.
»Ja«, sagte Adair zu ihrer Erleichterung. »Die Stabilisierung übernehmen wir gemeinsam. Es ist kein Träumer mehr darin, der Schaden nehmen könnte, darum müssen wir uns also keine Sorge machen. Sabine und Jean, ihr bleibt hier, wie besprochen.«
Sie nickten. Sie waren fast gleich gekleidet, beide hatten Jeans und ein blaues Tanktop an. Sabine hatte ihre langen Haare zu einem Zopf geflochten, der ihr bis unter die Schulterblätter reichte. Jean sah entschlossen aus. »Alles klar«, sagte er. »Wir halten weiter Wache. Hier kommt keiner rein.«
Die Agenten fassten sich an den Händen. Lorenzos Finger umschlossen warm und sicher ihre Hand, und plötzlich fühlte sie sich irgendwie schuldig. Unsinn, rief sie sich innerlich zur Ordnung. Lorenzo war ihr Kollege, weiter nichts.
Adair streckte die freie Hand aus, verharrte einen Moment lang bewegungslos. Seine Aura glühte auf, dann machte er den ersten Schritt, glitt durch die Membran und zog seine Mitstreiter in den Traum.
Als Erstes stieg ihr der Geruch in die Nase. Es roch muffig wie in einem schlecht gelüfteten Zimmer. Nach alter Bettwäsche, staubigem Teppich. Dann sah sie sich um. Sie befand sich in einem alten Speicher. Die Bodenbretter, die unter ihren Schuhen knarrten, waren der einzige Laut, den sie wahrnahm. Die Dachfenster waren blind und ließen kaum Tageslicht herein, Spinnweben schwebten in den dunklen Ecken zwischen den Dachbalken. Der ganze Raum machte einen baufälligen Eindruck, seine Wände neigten sich leicht nach innen, als würde er im nächsten Moment in sich zusammenfallen.
»Da ist jemand für immer gegangen«, sagte Madame Berger leise. »Möge seine Seele nur guten Träumen begegnen.«
Allegra rann ein Schauer über den Rücken. Der Tod war allgegenwärtig in ihrem Leben. Daran würde sie sich wohl gewöhnen müssen.
»Wir stabilisieren erst einmal alles. Allegra, deine Aura ist am stärksten. Gib du den Ton an. Wir folgen dir.«
»Okay.« Sie stemmte die Hände in die Hüften, betrachtete die morschen Balken, stellte sich vor, wie die Membran von innen prall und lebendig war und in einem gleichmäßigen Rhythmus pulsierte. Langsam streckte sie die Hände aus, blau glühende Aura umspielte ihre Finger, und sie stellte sich vor, dass sie die Membran von innen wie einen Ballon aufblies. Adair und Lorenzo folgten ihrem Beispiel, hoben ebenfalls die Arme und verstärkten Allegras Aura. Tatsächlich wurde der Raum größer, die Wände wichen zurück und verloren ihren baufälligen Eindruck.
Dann begann die Membran zu vibrieren. Erst langsam, unregelmäßig, schließlich etwas schneller, bis der Traum seinen eigenen Rhythmus fand.
Adair nickte zufrieden. »Könnt ihr es auch fühlen? Der Traum beginnt wieder zu leben. Elisabeth, Lorenzo, Allegra – sehr gut!«
»Schritt zwei«, sagte Madame Berger leise zu Allegra. »Jetzt bist du dran. Ändere die Stimmung und gib dem Traum, wenn möglich, deine Erinnerung.«
»Okay.« Allegra atmete tief durch. Sie ließ die Atmosphäre auf sich wirken, nahm sie in sich auf, schmeckte geradezu den Staub. Dann suchte sie nach dem Licht, nach der Freude in sich. Sie fühlte sie in ihrem Bauch, dann in den Schultern, in den Fingerspitzen und ließ alles nach oben steigen.
Wollte sie loslassen.
Doch in dem Moment, in dem das Licht in den Raum strömen sollte, erlosch es wieder wie eine Kerze, die von einem plötzlichen Windstoß getroffen wird.
»Sorry. Noch mal«, murmelte sie.
Sie setzte erneut an. Diesmal stieg das Licht nicht einmal bis in ihre Hände, bevor es ausging. Der muffige Geruch nahm überhand und ließ sie nach Luft schnappen.
Lorenzo legte ihr eine Hand auf den Rücken. »Langsam«, riet er. »Lass nicht alles auf einmal herein. Sonst gehst du unter.«
»Ich versuch’s.« Allegra spannte das Zwerchfell an und holte Luft, wie sie es in den zahlreichen Meditationsstunden gelernt hatte, doch sie konnte ihre Lungen kaum halb füllen. Als würde jemand ihren Brustkorb abschnüren. »Hier ist so viel Leere. Ich weiß nicht, wie ich die füllen soll.« Tränen rannen über ihre Wangen, wann hatte sie zu weinen angefangen? Hilfe suchend sah sie Lorenzo an.
»Du willst zu viel. Ändere nur die Stimmung!«, sagte Adair. Er hatte eine Hand an den Dachbalken gelegt, als könne er in dem Holz spüren, was im Traum vor sich ging.
Allegra versuchte es erneut.
Zwei Mal. Drei Mal.
Immer wieder holte sie das Licht in sich, ließ es nach oben steigen, versuchte den Traum so erneut zum Leben zu erwecken – und schaffte es nicht.
Nach dem vierten Mal sank sie keuchend in die Knie.
»Es geht nicht.« Jetzt fing sie erst richtig an zu weinen.
Madame Berger wandte sich an Adair. »Gönnen wir ihr eine Pause, José.«
»In Ordnung.« Adair sah Allegra mitleidig an. »Das ist auch eine harte Aufgabe, Allegra. Sei nicht traurig. Es gibt noch weitere Träume. Notfalls geben wir diesen auf und versuchen es mit einem anderen.«
Als sie aus dem Traum heraustrat, sahen Jean und Sabine sie erwartungsvoll an. »Da tut sich was! Wir konnten es sogar von außen sehen«, rief Jean.
Allegra schüttelte nur den Kopf. Reden konnte sie nicht. Mit einer Hand wischte sie sich über das Gesicht. Es war ihr peinlich, dass alle ihre Tränen sahen. Sie fühlte sich so entsetzlich erschöpft.
»Wir sehen uns gleich wieder«, erklärte Lorenzo und gab Allegra behutsam einen Stoß, der sie in die Wirklichkeit zurückbeförderte.
Allegra schlug die Augen auf und starrte an die Decke des Traumsaals. Die Sterne leuchteten wie immer am künstlichen Himmel, als ginge sie das alles nichts an. Mühsam richtete sie sich auf und schlang mit klappernden Zähnen die Arme um ihren Oberkörper.
Lorenzo, der Sekunden nach ihr zurückkam, sprang von der Liege und legte ihr eine Fleecedecke um die Schultern. Allegra wollte sich am liebsten nur noch verkriechen. Und war gleichzeitig wütend wie selten zuvor. Auf sich. Dass sie es nicht hinbekam. Was sollte sie Elena sagen?
Sie fuhr sich mit den Handflächen über die Wangen und war irgendwie nicht überrascht, dass sie echte Feuchtigkeit spürte. »Scheiße«, sagte sie dumpf. »Was für eine große Scheiße!«
»Mach dir keinen Kopf«, sagte Jean, der in diesem Moment die Beine von der Liege schwang. »Das ist Schwerstarbeit. Du bist doch schon ganz schön weit gekommen! Hast du wirklich erwartet, dass es beim ersten Mal klappt?«
»Na ja. Eigentlich schon«, murmelte Allegra.
»Wir haben noch mehr Träume für dich gesammelt. Du musst es einfach noch mal probieren«, schlug Sabine vor.
»Ich brauche erst mal einen Tee. Und was zu essen.« Allegra zog die Fleecedecke enger um ihre Schultern. »Mir ist so kalt.« Unter der Decke steckte sie die Hände in die Ärmel von Lorenzos Hoodie. »Soll ich es nachher noch mal versuchen?«, fragte sie Adair, als sie sah, wie er sich aufrichtete.
»Wenn du dich dazu in der Lage fühlst, selbstverständlich.« Der Direktor drehte sich zu Madame Berger um. »Es ist gerade mal fünf. Sie könnte noch einen zweiten Anlauf wagen.«
»Aber erst benötigt sie eine Pause«, antwortete Madame Berger bestimmt und zog eine Schublade auf. Als sie sich wieder umdrehte, hatte sie mehrere Schokoriegel und eine Tüte Studentenfutter in der Hand. »Iss. Keine Widerrede.«
Allegra riss die Verpackung eines Riegels auf und schlang ihn mit drei Bissen hinunter. Die süße Mischung aus Schokolade und Karamell breitete sich augenblicklich in ihrem Körper aus, und sie konnte geradezu fühlen, wie sie sie von innen wärmte.
»Besser?«, fragte Madame Berger lächelnd.
»Besser«, murmelte Allegra und öffnete auch die Nusspackung. Dann besann sie sich auf ihre Erziehung und hielt Lorenzo, Jean und Sabine die anderen Riegel hin. »Wollt ihr auch?«
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Die nächsten Minuten saßen sie auf ihren Liegen und verleibten sich eine ganze Wochenration Zucker ein. Adair und Berger unterhielten sich im Flüsterton, Allegra konnte nicht verstehen, worum es ging. Daher konzentrierte sie sich darauf, mit Füßen und Fingern zu wackeln, bis sie merkte, dass die Durchblutung zurückkehrte. Sie stand auf, ging im Saal zwischen den Ottomanen umher und betrachtete die Sanduhren, in denen der blaue Sand jetzt wieder wie unbeteiligt schwebte, manchmal sogar in einem kleinen Wirbel nach oben stieg. Ein Wunderwerk der Sanduhrenmacher, physikalisch eigentlich unmöglich. Wie schafften sie das? Was war ihr Geheimnis?
Traumshifting war so viel schwerer, als sie gedacht hatte! Letztes Mal, im Kampf gegen Mortensen, war sie so wütend gewesen, dass sie den Traum intuitiv hatte ändern können. Jetzt, wo sie es bewusst und kontrolliert tun sollte, klappte es nicht. Ein bisschen Magie wäre jetzt nützlich, dachte sie. Doch die Akademie Adair war nicht Hogwarts. Sie heftete den Blick auf ein dunkelblaues Sandkorn im unteren Bereich des Glasgefäßes und versuchte, seinem Weg zu folgen. Zusammen mit anderen ließ es sich treiben, bis eine unsichtbare Kraft es auf einmal erfasste und kreiselnd nach oben zog. Dort verlor sie es aus den Augen. Nachdenklich legte sie beide Hände um das große Glas. Selbst dort, wo es sich verjüngte, konnte sie es nicht vollständig umfassen. Unten und oben war es kühl, in der Mitte, wo die Kreiselbewegung des Sandes am stärksten war, war das Glas wärmer.
»Siehst du, wie lange die Sandkörner unten sind, bis sie nach oben steigen?«
Lorenzos Stimme ließ sie zusammenfahren. Hastig nahm sie die Hände von der Sanduhr. »Erschreck mich nicht so. Ich hätte das Ding fast runtergeworfen.«
»Das schaffst selbst du nicht. Dieses Ding wiegt eine halbe Tonne.«
»Oh.«
Lorenzo fuhr mit einem Finger am Glas entlang. Seine Hände waren ganz anders als die von Arthur. Hatte dieser lange, schmale Finger mit Schwielen unter den Fingerkuppen, hatte Lorenzo eher große, kräftige Hände mit einer weiten Spanne. Bauernhände, hätte Allegras Mutter lächelnd gesagt.
»Du hast doch versucht, das Licht in dir aufsteigen zu lassen«, fing Lorenzo an.
Allegra nickte.
»Schau, wie lange der Sand unten kreist. Als wenn er Kraft sammeln würde, um dann nach oben zu kommen.«
»Ja und?«
»Vielleicht hast du das Licht zu schnell nach oben gezogen. Versuch doch mal, es unten zu sammeln, quasi in deinen Füßen, und dann langsam hochzuziehen, ohne dass es die Kraft verliert. Wäre einen Versuch wert.«
»Und das sagst du mir jetzt?«
»Kam mir auch gerade erst. Immerhin hat von uns noch niemand jemals einen Traum gestaltet.«
Allegra grinste ihn an. »Okay, verziehen.«
»Das heißt nicht, dass es beim nächsten Mal gleich klappt«, warnte Lorenzo. »Aber es ist wie immer: Du brauchst die richtige Technik, auch wenn Shiften ein emotionaler Vorgang ist.«
Das klang, als zitiere Lorenzo eine Stelle aus einem Lehrbuch. Solche Sätze war sie eher von Arthur gewöhnt.
Arthur. Allegra schloss für einen Moment die Augen. Anscheinend hatte sich ihr Unterbewusstsein nicht nur mit der Erinnerung an ihre Eltern, sondern auch mit Arthur beschäftigt. Sie würde ihm vorerst einfach Zeit lassen, hatte ihr Inneres beschlossen. Florentines Worte hatten nicht nur gewirkt, sondern auch dafür gesorgt, dass die nagende Anspannung und die Sorge, die sie um ihre Liebe verspürt hatte, etwas abgeklungen waren. Sie würde ihre Aufgabe lösen, Arthur seine, und nach dieser Krise würde genug Zeit sein, um sich auszusprechen.
»Wir können noch mal los«, verkündete sie und stopfte den Rest der Nusspackung in ihre Hosentasche.
Der Traum war an derselben Stelle geblieben. »Seht ihr? Er ist stabil. Wir versuchen es ein weiteres Mal mit ihm, Allegra«, schlug Adair vor.
Deutlich zuversichtlicher, als sie aus dem Traum herausgekommen war, ging Allegra ein zweites Mal hinein, erneut fand sie sich auf dem staubigen Dachboden wieder. Immerhin, die Wände neigten sich nicht mehr nach innen.
Lorenzos Worte im Ohr, begann sie langsamer, kontrollierter, das Licht in sich zu sammeln. Sie zog es hoch, schaffte es bis zum Bauchnabel, dann nahm die düstere Stimmung des Speichers wieder überhand.
»Verdammt«, murmelte sie. »Noch mal.«
Diese Worte wiederholte sie noch ein halbes Dutzend Mal, bevor sie aufgab. Sie schluckte die Tränen, die ihr in der Kehle saßen, entschlossen herunter, ballte die Fäuste und schüttelte den Kopf. »Sorry. Ich krieg’s nicht hin. Der Traum, oder was davon übrig ist, ist stärker als ich.«
»Du wirst es schon schaffen, Allegra.« Der Direktor wirkte gleichmütig. »Nehmen wir einen anderen.«
»Aber nicht jetzt, José.« Madame Berger legte Allegra den Arm um die Schultern, drückte sie tröstend an sich und ließ sie erst los, als sie den Traum verließen.
»Wenigstens bin ich nicht wieder so durchgefroren wie vorhin«, sagte Allegra, als sie die Augen aufschlug, und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sie war zu müde, um gleich aufzustehen.
»Ich hatte dir vorhin noch eine zweite Decke übergelegt«, erklärte Lorenzo, der neben ihr lag.
»Echt?« Allegra hob das Plaid hoch und musterte es. »Tatsächlich. Danke! Das war eine gute Idee.«
Adair, der schon wieder auf den Beinen war, warf sich sein Jackett über die Schulter und sah sein Team anerkennend an. »Wir sind einen ganzen Schritt weitergekommen. Allegra, du solltest dir keine Sorgen machen, bei einem der nächsten Male wird es dir sicher gelingen. Ich muss jetzt ins Büro, mich erwartet eine Telefonkonferenz mit Ruben und zwei weiteren Direktoren. Elisabeth, kommst du mit?«
Madame Berger lächelte. »Jean, Sabine – vielen Dank! Ihr seid für heute fertig. Allegra, Lorenzo, wir treffen uns um elf wieder hier. Jetzt aber erst einmal ab mit euch in die Mensa! Madame Marius hat Lasagne vorbereitet. Garantiert ohne Nebenwirkungen. Guten Appetit.« Damit folgte sie Adair, der bereits zur Tür ging. Beide verschwanden im Gang.
»Essen ist eine gute Idee«, sagte Jean und dehnte die Arme über dem Kopf, bevor er aufstand.
»Habt ihr denn jemanden gesehen? Einen von den Typen mit den roten Hoodies?«, fragte Allegra neugierig.
Jean schüttelte den Kopf. »Nein. Alles ruhig. Nicht wahr, Sabine?«
Diese nickte nur.
»Trotzdem ist mir wohler, wenn wir euch dabeihaben«, sagte Lorenzo. »Mortensen hat seine Leute überall, wir wissen, dass er mehr als interessiert an Allegra ist. Ich möchte keine bösen Überraschungen erleben.« Jetzt bot er Allegra seine Hand und zog sie auf die Füße. »Essen?«, fragte er hoffnungsvoll.
Allegra musste trotz ihrer Erschöpfung lachen. »Ja, essen. Und dann wäre ein Massagesessel genau das Richtige. Haben wir so was hier auf dem Gelände?«
»Ja, haben wir«, sagte Sabine zu ihrer Überraschung. »Hinter dem Sportsaal sind zwei Ruheräume, da stehen welche.«
Sie verließen den Saal, Lorenzo dimmte das Licht herunter, sodass nur noch die Sanduhren, die von unten beleuchtet waren, einen sanften Schein verbreiteten, und verriegelte sorgfältig die Tür. »Die Sache mit der Vergiftung letzte Nacht hat Adair ziemlich mitgenommen, auch wenn er es nicht zugibt. Er fühlt sich für uns verantwortlich.«
»Das ist er ja auch«, unterbrach Sabine. »Wenn wir nicht mal mehr innerhalb der Akademie sicher sind …«
»Sicher sind wir erst, wenn Mortensen wieder hinter Schloss und Riegel sitzt«, sagte Allegra finster. »Bis dahin müssen wir alle die Augen offen halten.« Allegra blieb mitten auf der Treppe stehen. »Da fällt mir noch was ein. Lorenzo, kennst du die Familie Walker?«
»Ja, warum?«
Sie lehnte sich ans Geländer und berichtete kurz von ihrem Gespräch mit Gabriella. »Mir haben sie auch so komische Sachen erzählt. Kannst du dafür sorgen, dass Gabriella von jemand anderem betreut wird, wenn Arthur keine Zeit hat?«
»Für die Versorgung der Zivilisten ist Monsieur Lambert zuständig. Geht ihr schon mal zum Essen, ich versuche es gleich in seinem Büro und komme dann nach.« Er wandte sich um und lief, immer eine Stufe überspringend, die Treppe wieder hinunter.
»Lorenzo hat sich ganz schön verändert«, sagte Sabine nachdenklich. »Ich meine, früher war er auch nett, aber eher distanziert. Mittlerweile könnte man denken, ihr seid BFFs, so fürsorglich, wie er mit dir umgeht.«
»Er ist wirklich nett. Aber wisst ihr was? Florentine hat neulich gesagt, dass wir ja nicht wissen, seit wann Sofia Lorenzo manipuliert hat. Vielleicht kanntet ihr den echten Lorenzo gar nicht. Vielleicht ist das seine wahre Persönlichkeit.«
»Das könnte sein.« Jean strich sich über den Bauch. »Kommt, bevor es zu voll wird. Ich habe Hunger!«
Die nächtlichen Ereignisse hatten sich zwar herumgesprochen, aber niemand schien die Mensa deswegen zu meiden. Die Familien aßen, wie meistens, bei sich in den Bungalows, nur an einem Tisch saß eine Gruppe Kinder, die in atemberaubender Geschwindigkeit Lasagne in sich hineinschaufelten. Ein Junge hatte sich zudem eine große Salatgurke besorgt und schälte sie hingebungsvoll. Madame Marius, die sich kurz zu ihnen an den Tisch setzte, berichtete, dass es allen Patienten wieder besser gehe. Auch Madame Pinot müsse nicht mehr von den Geräten überwacht werden. Sie schloss damit, dass man Gervais aus dem Verkehr gezogen habe. Allegra wollte schon nachfragen, was das genau zu bedeuten habe, überlegte es sich aber anders. Eigentlich wollte sie es nicht wissen. Auch Jean oder Sabine hakten nicht nach.
In diesem Moment erschien Lorenzo. Nachdem er sich an der Essensausgabe Lasagne geholt hatte, setzte er sich zu ihnen an den Tisch. »Alles klar«, sagte er, »ich habe die kleine Sorento unauffällig umorganisiert.« Er schob sich eine große Ladung Lasagne in den Mund, und seine Lippen verzogen sich zu einem genießerischen Lächeln. »Je schlimmer die Situation, desto besser kochen Sie, Madame.«
»Wir brauchen trotzdem keine weitere solcher Krisen«, gab sie zurück und erhob sich wieder. »Es gibt noch Zitronentarte. Wer nachts arbeitet, braucht Kalorien, nicht wahr?«
Da hatte sie recht! Allegra war es eigentlich überhaupt nicht gewohnt, spätabends oder nachts zu essen, schon gar nichts Süßes, aber egal, was sie derzeit nachts in sich hineinstopfte, es setzte nicht an. Traumpatrouillen zehrten an den Kräften, und ihrem Körper war es offensichtlich egal, wann er gefüttert wurde, Hauptsache, er bekam genug.
Nach einem großen Stück Tarte stand sie mit dem Tablett in der Hand vom Tisch auf und verkündete: »Ich schaue noch bei Florentine vorbei. Wir sehen uns nachher, Lorenzo.«
Lorenzo trank seine Cola aus und nickte. »Ruh dich aus. Die nächste Runde wird genauso anstrengend.«
»Kann ich mitkommen?«, fragte Sabine. »Zu Florentine, meine ich.«
»Ja klar.«
Zusammen machten sie sich auf den Weg zur Krankenstation. Die Tür zur Station war verschlossen, und Allegra drückte auf die Klingel. Ein Arzt, den Allegra bisher noch nicht gesehen hatte, öffnete und sah sie fragend an.
Sabine nannte ihre Namen. »Wir wollen Florentine Hansen besuchen«, ergänzte Allegra.
Doch ihre Freundin schlief tief und fest.
Dafür war Madame Pinot wach und freute sich sehr, Allegra und Sabine zu sehen. Sie winkte sie zu sich. »Setzt euch, setzt euch.«
»Denken Sie daran, sich noch zu schonen!« Eine Krankenschwester, die gerade den Tropf austauschte, sah sie besorgt an. Madame Pinot verdrehte die Augen, aber man konnte ihr ihre Erschöpfung ansehen.
»Wie geht es Ihnen, Madame?« Allegra setzte sich auf den Bettrand, Sabine zog sich einen Stuhl heran.
»Schon viel besser. Allerdings sind die Ärzte hier gnadenlos und lassen Alte wie mich nicht so schnell gehen. Florentine wird sicher früher entlassen. Was gibt es Neues?«, fragte sie.
Sabine und Allegra berichteten abwechselnd, was in den letzten Stunden geschehen war. Madame Pinot lauschte schweigend. Ihre Raubvogelaugen glitzerten, als Allegra ihren Bericht damit schloss, dass Lorenzo sich um Gabriella gekümmert hatte. »Interessant, interessant«, murmelte sie. »Nun, dann wünsche ich dir heute Abend viel Erfolg. Es wird Zeit, dass wir Mortensen zeigen, dass die Dream Intelligence nicht so hilflos ist, wie er glaubt. Bitte komm morgen, wenn du ausgeschlafen hast, noch einmal zu mir.« Sie trommelte mit ihren Fingern auf der Bettdecke. »Ich habe da eine Idee …«
»Welche denn?« Allegras Neugier war geweckt.
Doch die alte Dame winkte ab. »Ich muss das alles noch einmal durchdenken. Momentan habe ich ja Zeit dafür. Und jetzt ruht euch aus.«
In einem der Meditationsräume im Erdgeschoss standen tatsächlich zwei große, sehr bequem aussehende Sessel nebeneinander, in die Armlehnen war ein Display integriert. Der Raum war in warmen Gelbtönen gestrichen. In der Ecke stand eine hohe, zylinderförmige Lampe aus Papier. Auf den Fensterbänken lagen bunte Kissen und Decken, wie in einigen der Krankenzimmer strömte ein kleiner Wasserfall mit fast unhörbarem Plätschern an einer Steinwand herab, und auf einem Sideboard stand eine Auswahl an Räucherstäbchen.
»Voilà!«, sagte Sabine stolz. »Mein Lieblingsraum.«
»Cool! Ich wusste gar nicht, dass wir so was haben. Und wir dürfen die Sessel einfach nutzen?«
»Ja natürlich. Hast du was dagegen, wenn ich mich auch reinsetze?«
»Was? Nein, natürlich nicht. Ich freu mich, dass wir Zeit zusammen verbringen.«
»Ich kann mir vorstellen, dass du dich hier manchmal ganz schön einsam fühlst. Du bist eben eine Heller.«
»Was meinst du damit?«
»Na, dass du hier so was wie eine Berühmtheit bist. Ich glaube, dass viele hinter deinem Rücken über dich reden, doch nur wenige mit dir. Stimmt doch, oder?«
»Gut beobachtet«, sagte Allegra überrascht. »Aber ich habe ja euch – und zu Hause in München noch meine Schwester –, und vielleicht habe ich bald auch meine Eltern wieder. Also ist es nicht ganz so schlimm, wie es sich derzeit anhört.« Sie holte sich zwei kleine Kissen und eine rote Decke und ließ sich in einen Sessel sinken. Sofort klappte die Fußstütze auf, während das Display piepste und ein Menü anzeigte.
»Ich würde Programm 3 auswählen. Mit Heizung, das ist total entspannend«, riet Sabine, und als Allegra mit dem Finger darauf tippte, begann der Sessel langsam unter ihr zu rütteln.
»Und du solltest vorsichtshalber den Wecker auf halb elf stellen, für den Fall, dass du einschläfst. Warte, ich mach dir das.«
Danach aktivierte Sabine ihren eigenen Sessel und schloss die Augen.
Allegra schob sich ein Kissen in den Nacken und spürte, wie das Vibrieren intensiver wurde. Von ihrem Platz aus konnte sie durch das große Fenster in den Park sehen. Ein leichter Duft von Kräutern stieg ihr in die Nase, sie konnte die Frösche quaken hören. Herrlich!
Leise Jazzklänge schwangen durch den Raum. Das Display neben ihr blinkte immer wieder grün auf, es zeigte 22:35. Allegra rieb sich die Augen und sah sich verwundert um. Hatte sie tatsächlich drei Stunden geschlafen? Sie schlug die Decke zurück und stand auf. Der Raum war leer, Sabine war schon gegangen. Sie hatte keine Ahnung, wann sich das Rüttel-Programm abgeschaltet hatte, aber sie fühlte sich durchwegs warm und wohlig entspannt. Sie würde Adair fragen, was das für Sessel waren. Das wäre was für ihre Schwester, der nach längeren Mal-Sessions immer Arme und Schultern wehtaten, und Elena hatte im Herbst Geburtstag. Allegra faltete die Decke zusammen und sah aus dem Fenster. Der Park lag im Dunkeln, die Baumkronen zeichneten sich als dunkle Schatten vor dem Nachthimmel ab, hier und da ließ sich eine schnelle Bewegung erahnen – die Fledermäuse waren auf der Jagd. Schließlich schaltete sie die Musik ab und zog ihr Handy hervor.
Während sie geschlafen hatte, waren fünf Nachrichten eingetroffen.
Sag mal, gibt es Teleskoptraumstäbe für die Reise? Zum Zusammenfalten? Das war Elena.
Süße, ich hab mich total dämlich verhalten … gibst du mir noch eine Chance? Was für eine Überraschung! Mit Arthur hatte sie nicht gerechnet.
Dr. Lamartin: Ruf mich morgen an. Es gibt News zu deinen Eltern.
Corlaeus: Allegra, ruf mich unbedingt an, bevor du die nächste Mission startest!
Florentine: Ich hab gehört, ich hab dich verpasst. BTW, Arthur war bei mir!!!!!
Daher wehte also der Wind. Florentine hatte Arthur den Kopf gewaschen, darauf würde Allegra ihren Traumstab verwetten. Jetzt hieß es priorisieren. Was war mit ihren Eltern? Die Sorge hatte sie sofort wieder fest in ihren Fängen. Aber die Ärztin hatte erst für morgen um einen Rückruf gebeten, es schien zum Glück kein totaler Notfall zu sein.
Wer dann? Florentine schlief bestimmt schon. Also Arthur. Sie lehnte sich mit der Schulter an das Fenster und tippte. Mach dir keinen Kopf, ich war auch total blöd. Hab Nachtschicht. Melde mich morgen. A. Dann schrieb sie Elena: Keine Ahnung, aber ich glaube nicht. Ich frag mal nach. Willst du bei Q übernachten? :-D
Sie schickte beide Nachrichten ab, dann wählte sie die Nummer von Corlaeus. Es klingelte nur ein einziges Mal, bevor er abnahm. »Allegra! Wie geht es dir?«
»Ganz okay.«
»José hat mich auf den neuesten Stand gebracht. Du versuchst es weiter, nicht wahr?«
»Die Erinnerung in den Traum zu pflanzen? Ja natürlich. Aber erst mal was ganz anderes: Dr. Lamartin will mit mir reden. Wissen Sie, was los ist? Geht’s meiner Mutter wieder besser?«
»Ich weiß es nicht, ich habe nichts gehört.«
»Oh nein. Was, wenn ich es morgen wieder nicht schaffe?«
»Keine Panik, Allegra. Denk daran, du hast es bereits einmal getan. Es wird dir gelingen, da bin ich mir ganz sicher. Aber jetzt zu meinem eigentlichen Anliegen. Eine Kollegin hat vorhin dafür gesorgt, dass Schönburg wirklich tief schläft. Er ist aus der Klinik entlassen worden und verbringt derzeit zwei Tage in Bayreuth auf einer Konferenz. Sie hat ihn in der Hotelbar abgefangen, jetzt liegt er friedlich in seinem Bett. Ihr könnt wie geplant um elf starten.«
Allegra verzog den Mund. So genau wollte sie das alles gar nicht wissen. »Sie hat ihm was in den Drink gekippt? Schick«, murmelte sie, während sie den Meditationsraum verließ und in den Gang einbog, der zum Traumsaal führte. Kleine, in die Decke integrierte Nachtlichter verbreiteten einen schwachen Schein.
»Ich bin noch nicht fertig. Hör gut zu. Du weißt, Mortensen will dich haben. Ein Talent wie dich würde sich gut machen in seiner Sammlung von ungewöhnlichen Agenten.«
»Ich werde nie auf seine Seite wechseln!«, sagte sie mit Nachdruck.
Corlaeus seufzte. »Ich weiß. Aber er hat dir bereits etwas angeboten, nicht wahr?«
Allegra zuckte zusammen. Dann sagte sie mit etwas Trotz in der Stimme: »Das ist ja kein Geheimnis. Der Typ hat’s ja laut genug rumgeschrien.«
»Ich möchte dich nur warnen«, klang die dunkle Stimme ihres Mentors an ihr Ohr. »Denk daran, welches Ziel er verfolgt. Er wird alles tun, um es zu erreichen – alles, was er sagt, ist eine Lüge, Allegra!«
»Weiß ich doch.« Und trotzdem stellte sie sich einen Moment lang vor, wie es wäre, wenn Mortensen sein Versprechen wahr machen und dafür sorgen könnte, dass ihre Eltern zurückkehrten. Aber was würden sie sagen, wenn sie erfahren müssten, dass Allegra das Angebot ihres Todfeindes angenommen hatte, um sie zu retten? Nein, weder vor ihren Eltern noch vor sich selbst würde sie das rechtfertigen können.
Sie musste es allein schaffen. Mit ihrem Team. Zu ihren Regeln.
»Ich weiß«, wiederholte sie. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich falle nicht auf ihn herein.«
»Wenn das so ist, wünsche ich dir viel Erfolg! Gib den Gefangenen ihre Freiheit wieder.« Mit diesem salbungsvollen Satz legte Corlaeus auf.
Allegra war am Traumsaal angelangt. Sie hielt ihre Karte vor den Scanner.
»Pünktlich wie immer«, lobte Adair. Er registrierte das Handy in Allegras Hand. »Hast du mit Ruben gesprochen?«
»Ja, hab ich.«
Adair nickte. »Sehr gut.« Er verriegelte sorgfältig die Tür hinter ihr. »Wir sind wieder zu viert.« Allegra grüßte in die Runde. »Elisabeth wird Anker sein. Diesmal haben wir Schönborn bereits auf der Karte lokalisieren können, in Quadrant K7. Ich werde vorangehen und die Kette anführen.«
Mit routinierten Bewegungen stellte er die Sanduhr ein, warf noch einen Blick auf den großen Bildschirm neben dem Projektor und murmelte die Koordinaten, um sie sich einzuprägen. Mehr bekam Allegra nicht mit, sie wechselte in dem Moment, in dem sie die grüne Fleecedecke bis unters Kinn zog, in die Traumzeit.
Adair, Lorenzo und Madame Berger tauchten fast gleichzeitig auf. Wie besprochen, bildeten sie eine Kette, und Adair gab das Startsignal. An Tausenden Träumen vorbei rasten sie durch die Nebelwelt, Allegra erhaschte immer wieder Bilder, die aber nicht in ihrem Gedächtnis haften blieben. Als Adair anhielt, schaute sie sich neugierig um. Der dunkle Traum war nicht zu übersehen. »Da ist er«, sagte Allegra leise und wies auf das kleine Gebilde.
»Wie gruselig«, sagte Madame Berger leise.
»Wir gehen hinein und arbeiten in zwei Teams«, verkündete Adair. »Lorenzo und ich erweitern den Traum und stabilisieren die Membran. Du wirst den Punkt finden müssen, an dem der Traum begonnen hat, sich zu wandeln. An dem Schönburg die Kontrolle über ihn verloren hat.«
»Er wurde gezwungen.« Lorenzos Kieferknochen mahlten unter der Haut. Der Arme, das war wohl zu nah an dem, was ihm geschehen war.
»Das ist mir egal«, schnaubte der Direktor. »Weiß jeder, was er zu tun hat?«
Ein dreistimmiges Ja ertönte.
Der Traum war von innen anders als alle anderen, die Allegra bisher gesehen hatte. Es gab keine konkreten Formen, nichts, was man wiedererkennen würde. Nur Leere und Dunkelheit. Nicht einmal einen Boden gab es. Alles schwebte. Allegra strampelte mit den Beinen und versuchte, ein Gefühl für oben und unten zu bekommen. Sie hatte schon immer einmal Schwerelosigkeit ausprobieren wollen, allerdings nicht so. Wenigstens konnte man atmen. Das leichte Flackern ihrer eigenen Aura war die einzige Lichtquelle. Schemenhaft erkannte sie die zwei anderen.
Auch in diesem Traum galt die Maxime, Schönburg möglichst nicht zu begegnen. Sie mussten im Verborgenen arbeiten. Plötzlich berührte sie etwas am Kopf, und sie presste die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien. Mit fliegendem Herzschlag drehte sie sich um. Oh nein, Schönburg!
Da trieb er mit weit ausgebreiteten Armen schon wieder weiter. Um ihn herum hatte sich etwas gebildet, das aussah wie ein Kokon aus Spinnfäden. Nur sein Kopf schaute noch heraus. Es mussten seine weißen Finger gewesen sein, die ihre Haare gestreift hatten. Bevor der Ekel sie übermannen konnte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Aufgabe. Etwas ratlos sah sie Lorenzo an, der inzwischen neben ihr schwebte. »Wie soll ich hier diesen ominösen Punkt finden? Man erkennt ja gar nichts!«
»Warte, bis wir den Raum etwas vergrößert haben«, wies der Mentor sie leise an. »Dann werden wir bestimmt auch Licht bekommen.«
Lorenzo und Adair, die ihre liebe Mühe hatten, sich aufrecht zu halten, machten sich an die Arbeit, und es dauerte nicht lange, da wurde aus dem Schwarz ein erst dunkles, dann helleres Grau. Jetzt war Allegra an der Reihe. Sie konzentrierte sich auf die Rhythmen: auf den leisen, stotternden – und auf den lauteren, fordernden. Das musste Mortensens Einfluss sein. Sie hörte genauer hin. Tatsächlich, der Rhythmus war nicht überall gleich stark.
Sie ließ sich mit ausgestreckten Händen an der Membran entlangtreiben, bis sie die Stelle erreicht hatte, an der das Pochen am leisesten war. »Ich hab’s«, flüsterte sie. Schließlich wollte sie Schönburgs Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen. Immer wieder trieb er an ihnen vorbei, jetzt hatte er die Augen sogar geöffnet, aber er schien sie nicht wahrzunehmen.
Allegra streckte die Hand aus und ließ die Aura um ihre Finger herum aufleuchten. Langsam näherte sie ihre Handfläche dem Punkt an der Membran. Kurz bevor sie sie tatsächlich berührte, spürte sie eine Art Widerstand. Sie schob die Hand millimeterweise nach vorne, und aus einer Eingebung heraus schlug sie heftig gegen die Membran, genau an der Stelle, die sie geortet hatte. Wenn von hier die Manipulation ausging, dann konnte man von hier aus vielleicht auch alles rückgängig machen? Sie wartete gespannt.
Erst geschah gar nichts.
Doch plötzlich erzitterte der ganze Traum, begann sich um sich selbst zu drehen, immer schneller und schneller, dann kippte die Traumkugel nach vorne wie bei einer dieser Fahrgeschäfte, die sich in alle Richtungen drehten, und Allegra schloss die Augen, damit ihr nicht schlecht wurde. Mehrere Sekunden lang hing sie kopfüber, wurde herumgewirbelt wie im Schleuderprogramm einer Waschmaschine, sie hörte Lorenzo erschrocken ein »Madre mia!« keuchen, draußen auf der Nebelebene schrie jemand auf, dann verlor die rasende Drehbewegung an Fahrt, das Rütteln wurde langsamer, und schließlich, so kam es ihr zumindest vor, fand der Traum wieder seinen Schwerpunkt und hielt inne.
Allegra lauschte gespannt.
Nur noch ein Takt war zu hören. Erst leise, unregelmäßig, dann gewann er an Sicherheit und wurde schneller, lauter. Die Umgebung änderte sich ganz allmählich, aus der Dunkelheit schälte sich eine Landschaft heraus, ein Weg, nein, ein Bergpfad. Allegra fühlte Gras unter ihren Schuhen, sie befand sich auf einer Alm, um sie herum erhoben sich massive Gebirgskämme, und über ihr wanderte jemand mit einem Rucksack auf den Schultern und in Jeans und eine neongelbe Regenjacke gekleidet bergauf.
Schönburg.
Er war wieder auf seinem Weg. Allegra wurden vor Erleichterung die Knie weich. Sie ließ sich einfach ins Gras sinken und hörte das Blut in den Ohren rauschen. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. »Gut gemacht«, sagte Adair. Mehr nicht, aber in seiner Stimme klang sehr viel mehr mit. Lob. Bewunderung. Und dieser stählerne Unterton, der so charakteristisch für ihn war. Der seine Entschlossenheit betonte, es richtig zu machen.
»Wir müssen gehen, bevor er uns bemerkt«, drängte Lorenzo.
Sie verließen den Traum so leise, wie sie ihn betreten hatten. Madame Berger erwartete sie mit weit aufgerissenen Augen. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte sie. »Der Traum begann, sich immer schneller und schneller um die eigene Achse zu drehen, ich dachte schon, er platzt auseinander.« Spontan nahm sie Allegra in die Arme. »Großartig, Mädchen! Deine Eltern wären so stolz auf dich! Und wenn alles gut wird, kannst du es ihnen sogar selbst erzählen.«
»Danke«, sagte Allegra leise. Der Erfolg tat ihr nach der Niederlagenserie von heute so richtig gut. »Meinen Sie, er kann jetzt wieder für sich selbst denken?«, wandte sie sich an Adair.
Der Direktor nickte. Einen Moment lang sah er nachdenklich auf die Membran, die von innen leuchtete, wie es sich gehörte, und sagte: »Der Traum gehört wieder ihm, du hast ja gesehen, wie Schönburg sich in seinem Traum bewegt hat. Es geht ihm gut. Ich gehe davon aus, dass die Bergidylle seinem ursprünglichen Traum entspricht. Auch der Rhythmus passt wieder, ich bin sehr zuversichtlich. Jetzt wiederholen wir das Gleiche noch mit ein paar von Schönburgs Kollegen. Das wird Viktor Mortensen zeigen, dass wir nicht hilflos sind – und dass wir seine Pläne durchkreuzen werden. Die Träume und die Seelen aller Menschen sind unantastbar!«
Im Laufe dieser Nacht gelang es ihnen, drei weitere Seelen aus dem Kokon zu befreien, in den Mortensen sie gezwungen hatte. Alles waren Leute aus Schönburgs direktem Umfeld. »Was darauf schließen lässt, dass Schönburg bei Mortensens Plänen eine zentrale Rolle spielt«, murmelte Adair nachdenklich, als sie den letzten Traum verlassen hatten und sich zusammen mit Madame Berger anschickten, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren. »Ich bin gespannt, was Arthur und Olive herausgefunden haben.«
Allegra wartete, bis sie wieder im Traumsaal war, bevor sie die Frage stellte, die ihr auf der Zunge gelegen hatte. »Ich dachte, sie sollen die Handys von Sofia und Jenny hacken.«
»Das ist richtig«, gab Adair zurück. »Aber letztlich ging es ja darum, Informationen über Mortensen, über seine Pläne, zu erhalten. Wer arbeitet für ihn? Wen hat er gedreht? Was ist sein primäres Ziel, welche Pläne verfolgt er langfristig? Das Handy meiner Tochter war dabei nur eine der Variablen. Zudem arbeiten die beiden noch an einem weiteren Projekt. Aber dazu kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mehr sagen.«
In diesem Moment leuchtete die große Sanduhr von innen auf, und Allegra konnte beobachten, wie das letzte Sandkorn zu Boden fiel. »Wow, das war knapp!«, sagte sie zu Madame Berger. Diese hatte die Hände vor der Brust zusammengelegt, streckte die Arme nach oben und hielt für ein paar Sekunden den Atem an. Dann erst öffnete sie die Augen und sah zu Allegra hinüber. »Gutes Timing«, antwortete sie mit einem leisen Lächeln. »Das ist reine Übungssache, das wirst du noch lernen. Aber jetzt«, sie blickte auf die Uhr, »ist es drei Uhr morgens, und wir müssen alle dringend schlafen.«
»Ich bin überhaupt nicht müde.« Allegra wunderte sich über sich selbst.
»Das kommt noch.« Lorenzo legte seine Decke zusammen und legte sie fein säuberlich ans Fußende der Liege. »Direktor, brauchen Sie uns noch?«
Adair winkte ab. »Ihr habt Großes geleistet heute. Allegra, morgen geht es für dich weiter. Schlaf dich aus und komm nach dem Mittagessen, um eins, in den Traumsaal, dann kannst du wieder daran arbeiten, einen Traum zu bauen. Ich bin sicher, es wird dir dann schon besser gelingen als heute. Und morgen Nacht werden wir die nächsten Seelen befreien.« Er klang grimmig und zuversichtlich zugleich.