Nebeneinander verließen Lorenzo und Allegra das Hauptgebäude. Es war nur unwesentlich kühler geworden, und Allegra, die immer noch aufgedreht war, zog sich den Sweater über den Kopf, um ihn sich über die Schultern zu legen. Ein leichter Wind strich über die Bäume, Blätter raschelten. Als die Tür hinter ihnen zufiel, krächzte ein Vogel über ihnen. Danach war es wieder still. Der Mond war nicht zu sehen, ein paar Schleierwolken zogen über den Nachthimmel.
»He, dein Haus ist da drüben«, sagte Allegra und wies zum Bungalow Nummer 14.
»Du glaubst doch nicht, dass ich dich um diese Zeit alleine draußen rumlaufen lasse«, antwortete Lorenzo mit echter Empörung in der Stimme.
»Was soll hier schon passieren?«
»Ich lasse es nicht darauf ankommen.«
Allegra, die auch in München nachts mit dem Rad umhergefahren war, ohne sich zu fürchten, war gerührt. »Danke«, sagte sie schlicht. »Aber …« Sie stockte.
»Was denn?«
Mittlerweile waren sie an Allegras Bungalow angekommen. Es brannte kein Licht, Florentine verbrachte die Nacht ja noch auf der Krankenstation. »Ach, gar nichts«, winkte Allegra verlegen ab. »Oder … Also, ich sag einfach, was ich denke, okay?«
Lorenzo verschränkte die Arme und sah sie auffordernd an. Der Schein der Wegbeleuchtung warf Schatten auf sein Gesicht, sodass eine Hälfte im Dunkeln lag.
»Du musst dich nicht um mich kümmern, weil du Schuldgefühle hast. Ich weiß, dass du nichts dafür konntest. Wir sind quitt, sozusagen.«
Lorenzo schwieg so lange, dass sie schon befürchtete, ihn beleidigt zu haben.
»Ich kümmere mich um dich, weil das meine Aufgabe als Mentor ist«, stellte er dann klar. »Und die Schuldgefühle werden mich den Rest meines Lebens begleiten. Sofia war so lange ein Teil von mir. Sie … fehlt mir, auch wenn ich weiß, dass unsere Beziehung wahrscheinlich nur auf Lügen beruhte.« Er streckte die Hand aus, als wolle er Allegras Wange berühren, zog sie aber hastig wieder zurück. »Du bist ganz anders als sie. Du tust mir gut, das ist alles.« Mit diesen Worten wandte er sich um und ging auf den Weg zurück. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um. »Gute Nacht, Allegra.«
Allegra betrat das Haus, verriegelte die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Das war unerwartet gewesen. Sie mochte Lorenzo und bewunderte ihn, vor allem die Ruhe, die er ausstrahlte. Sie hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wie Lorenzo sie wahrnahm. Aber diese Frage würde sie heute Nacht nicht mehr beantworten können. Jedenfalls löste er in ihr nicht einen Bruchteil der Gefühle aus, die sie für Arthur empfand.
Ohne das Licht anzumachen, nur im Schein der Laterne, die von draußen hereinleuchtete, ging sie durch das kleine Wohnzimmer, vorbei an der Küchenzeile und Florentines Zimmer. Erst im Bad tippte sie auf den Lichtschalter. Obwohl es schon so spät war, stellte sie sich unter die Dusche, ließ das Wasser sämtliche Anspannung von sich abwaschen und schob jeden Gedanken an das anstehende Telefongespräch mit Dr. Lamartin weit von sich. Wäre es ein Notfall, hätte Elena sich gemeldet.
Kaum in ihrem Zimmer, öffnete sie das Fenster und schaute kurz zur Hausecke, wo der Traumstab stand. Alles war, wie es sein sollte. Dann zog sie das Mückengitter herunter und ließ sich aufs Bett sinken. Ihre Knochen fühlten sich an, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Und obwohl sie vorhin doch schon drei Stunden geschlafen hatte, konnte sie gerade noch an Arthur denken, der jetzt wahrscheinlich noch in der Bibliothek über einem Problem brütete, da legte sich die Müdigkeit über sie wie ein Tuch, hüllte sie ein und nahm sie mit in ihren eigenen, gut behüteten Traum.
»Bist du wach?«, flüsterte eine Stimme.
Allegra schreckte hoch, blickte sich mit wirrem Blick um. Gerade hatte sie noch von einem Strand in der Karibik geträumt. Doch als sie sah, wer in der Tür stand, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Flo! Haben sie dich rausgelassen?«
Florentine nickte und schob die Tür weiter auf. Sie hielt eine Tüte in der Hand.
»Komm rein.« Allegra rutschte auf die linke Seite ihres Bettes.
»Ich habe was für dich.« Florentine hob die Tüte hoch, aus der es verheißungsvoll duftete.
»Kaffee und Croissant! Boah!« Allegra richtete sich auf.
»Mit besten Grüßen von Madame Marius. Garantiert unschädlich. Na ja, bis auf den Zucker vielleicht«, ergänzte Florentine, drückte einen Kaffeebecher in Allegras Hände und ließ sich dann quer übers Fußende fallen. Allegra zog gerade noch rechtzeitig die Beine weg. »Hey«, protestierte sie und versuchte, den Kaffeebecher auf ihren Nachttisch zu stellen, bevor eine von ihnen Schaden erlitt. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil, zog die Knie an und biss in das Croissant. Es war noch warm, schmeckte nach Teig und Butter und war das Beste, was Allegra seit Langem gegessen hatte. Dazu noch zwei Schlucke Milchkaffee, und der Tag konnte beginnen!
»Adair war heute Morgen bei mir und hat mir alles erzählt«, berichtete Florentine. »Ey, wir hatten recht. Und du warst super, sagt er.«
»Echt?«
»Du kennst ihn doch. Er sagt dann so was wie: Es ist ihr tadellos gelungen, oder so. Adair ist nicht so emotional, aber wenn er so gestelzt spricht, dass mein Französisch kaum hinterherkommt, weiß man, dass es von Herzen kommt.«
Obwohl Allegra in den letzten Wochen kaum mehr nach Worten suchen musste, sogar oft schon auf Französisch dachte, genoss sie es, mit Florentine Deutsch reden zu können, wenn sonst niemand dabei war.
»Also, wie ist der Stand? Wir wissen, dass Mortensen eine neue DI aufziehen will. Und dass er oder seine Leute Politiker beeinflussen.«
Allegra nickte mit vollem Mund.
»Was haben die Politiker gemeinsam? Arbeiten die alle zusammen?«
»Ja, zumindest ein paar davon. Elena und ich haben darüber geredet, sie hatte ein paar wirklich gute Theorien. Und ich habe weiter nachgedacht. Ich weiß nicht, ob das logisch ist.« Allegra schluckte den letzten Bissen herunter und fegte die Krümel von der Bettdecke kurzerhand auf den Boden. »Schönburg ist nicht nur Politiker, er ist auch im Vorstand von Enkom.«
Florentine zuckte mit den Schultern. »Kenne ich nicht.«
»Die stellen Computerchips her und forschen auch an den Nebenwirkungen von Handystrahlung. Komischerweise hat er sämtliche Posten gestern niedergelegt. Hat auf einer Pressekonferenz was von Überarbeitung erklärt. Dann haben wir gestern Nacht noch einen gefunden. Der ist auch Politiker auf Landesebene und arbeitet in einer Firma, die an biologisch abbaubarem Ersatz für Plastik forscht.«
»Warte mal!« Florentine hob die Hand. »Du willst damit sagen, dass Mortensen Leute dreht, die sich mit unserer Zukunft beschäftigen, richtig?«
»Ganz genau. Nur – was bedeutet das?«
»Wir haben doch neulich schon darüber gesprochen.« Florentine sprang vom Bett auf und ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. »Weißt du, was ich glaube? Mortensen hält sich für so was wie den Retter der Menschheit«, sagte sie nachdenklich. »Er schart Leute um sich, die ohnehin schon um unsere Zukunft besorgt sind, die gleichzeitig aber auch Schlüsselstellen in Politik und Wirtschaft besetzen. Darf ich mal kurz an deinen Rechner?«
Allegra, die gerade die letzten Schlucke Kaffee trank, nickte.
Florentine lehnte sich über den Laptop und tippte ein paar Wörter in die Suchmaske. »Ah, da haben wir es. Enkom ist ein deutsch-französischer Konzern mit Außenstellen in Mexiko und Brasilien. Und …« Sie tippte erneut. »Diese andere Firma, von der du erzählt hast, hat eine japanische Mutterfirma.« Mit einem Knall klappte sie den Laptop zu und drehte sich zu Allegra um. »Firmen, die in Deutschland und Frankreich, aber auch global agieren. Also, damit könnte er tatsächlich einen Wandel bewirken.«
»Mortensen – ein Gutmensch? Spinnst du?« Allegra sah sie mit großen Augen an.
Florentine verschränkte die Arme. »Gutmensch ist das falsche Wort. Er ist nicht gut, nicht im Geringsten. Er ist skrupellos und ein Mörder, und daran kommt man nicht vorbei. Aber seine Ziele sind vielleicht gar nicht so verkehrt.«
Das hatte sie doch schon mal gehört! Die Walkers waren ähnlicher Meinung gewesen. Vielleicht musste man Psychologie studieren, um das so differenziert sehen zu können wie Florentine. Allegra jedenfalls wollte in nichts, was Mortensen tat, etwas Gutes finden. Sie zog Kraft daraus, ihn zu hassen, und bevor ihre Eltern zurück waren, würde sie etwas anderes gar nicht erst in Erwägung ziehen. Sie sprach ihre Gedanken nicht aus, Florentine bedachte sie allerdings mit einem wissenden Blick, als wisse sie genau, was in Allegra vorging. Und das tat sie vermutlich wirklich.
Allegra lächelte schwach. »Ich habe noch zwei Baustellen«, gab sie zu.
»Von einer weiß ich. Hast du von Arthur gehört?«
»Mhm. Wir treffen uns nachher, denke ich. Aber ich muss gleich mit Dr. Lamartin telefonieren, die ist grade in München, wegen meiner Mutter. Davor hab ich echt Schiss. So richtig.«
»Soll ich bei dir bleiben?«, bot Florentine an und setzte sich wieder neben Allegra auf die Bettkante.
»Würdest du das machen?« Allegra sah sie hoffnungsvoll an.
»Ach, ja klar! Stell sie auf Lautsprecher, wenn du magst.«
Allegra holte stockend Luft und krampfte die Hände ineinander. »Was, wenn sie mir sagt, dass ich keine Zeit mehr habe? Wenn es zu spät ist?«
»Über die Brücke gehst du erst, wenn es so weit ist«, sagte Florentine streng. »Du kannst dir Panik vorher nicht leisten. Los, ruf an. Dann weißt du es wenigstens.«
Doch bevor Allegra wählen konnte, hörten sie von draußen lautes Rufen. Mehrere Stimmen skandierten etwas. Florentine ging zum Fenster und öffnete es, beugte sich hinaus. »Die waren vorhin schon da. Hinter dem Hauptgebäude«, bemerkte sie stirnrunzelnd.
»Wie bitte? Wer?« Allegra sprang ebenfalls auf und beugte sich neben ihr aus dem Fenster. Hinter dem Zaun, nahe dem Eingang zur Akademie, konnte sie eine Menschenmenge erkennen. »Was machen die denn da?«, fragte sie verwirrt. »Was rufen die? Ist das eine Demo? Hab ich was verpasst? Ist heute irgendein besonderer Tag in Avignon?«
»Keine Ahnung.« Florentine stützte sich mit den Händen aufs Fensterbrett. »Ich denke, sie wollen was von uns. Oder von Adair. Vorhin haben sie Schilder hochgehalten mit Sprüchen wie ›Sagt die Wahrheit‹ und ›Bildung für alle‹.«
»Hä? Was hat das mit uns zu tun?« Allegra reckte den Hals, um besser sehen zu können, aber die Hecke war zu dicht, die Leute waren nicht deutlich zu erkennen. Nur ihr Geschrei wurde immer lauter. »Ach so, warte mal. Hat Adair nicht neulich gesagt, offiziell seien wir ein Bildungsinstitut? Vielleicht hängt es damit zusammen?«
»Aber warum machen sie jetzt so einen Aufstand? Das ist doch nichts Verwerfliches!« Florentine schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, ich sage dir, das ist alles Mortensens Werk. Der macht Druck. Vielleicht, weil er gesehen hat, dass du es schaffst, die Leute zu befreien, die bisher unter seinem Befehl standen?«
»Hilfe!« Allegra schlug das Fenster zu. »Nicht das auch noch. Wie soll ich mich jetzt konzentrieren?« Etwas hilflos sah sie Florentine an. »Ich glaube, ich gehe noch kurz ins Bad. Dann rufe ich in München an.«
Sie wusch sich übers Gesicht, fuhr mit einer Bürste durch die zerzausten Haare, trug Creme auf. Nachdem sie in eine Leggins und ein T-Shirt geschlüpft war, sammelte sie sich einen Moment. Dann konnte sie es nicht länger hinauszögern und ging zurück in ihr Zimmer. Florentine stand noch am Fenster und sah hinaus. Als sie Allegra hörte, drehte sie sich um und sah sie aufmunternd an.
Allegra griff mit zitternden Fingern nach ihrem Handy, setzte sich aufs Bett.
Wählte.
Es klingelte dreimal, dann ertönte Dr. Lamartins kühle Stimme aus dem Lautsprecher. »Ja bitte?«
»Wie geht’s meiner Mutter?«, fiel Allegra direkt mit der Tür ins Haus, ohne sich mit Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten.
Eine kurze Pause entstand. Florentine fasste nach Allegras Hand und drückte sie.
»Es wäre gut, wenn du heute oder morgen nach München kommen könntest. Vielleicht musst du, so schwer es ist, noch einmal Abschied nehmen. Damit du es nicht bereust, falls …« Dr. Lamartin sprach nicht weiter.
Allegra konnte mit einem Mal nicht mehr atmen. »Was ist passiert? Warum jetzt?«
»Wir haben immer größere Schwierigkeiten damit, sie zu stabilisieren. Noch gelingt es uns, aber deine Mutter hat immer wieder Momente, in denen sie uns entgleitet.«
»Oh nein.« Anstatt weiter mit der Ärztin zu sprechen, unterbrach Allegra spontan die Verbindung. Mit Tränen in den Augen sah sie Florentine an. »Was …«, setzte sie an, räusperte sich, begann erneut. »Was mach ich denn jetzt?«
Sie starrte auf die Bettdecke, auf der sie saß. Violette, weiße, blaue Streifen flossen ineinander. War es so weit? Hatten sie diesen Wettlauf bereits verloren? Musste sie ihre Hoffnung endgültig begraben? In diesem Moment vibrierte ihr Handy.
Florentine nahm es in die Hand und hielt ihr den Bildschirm unter die Nase. Gib nicht auf!!!! E. »Deine Schwester hat recht. Lass dir von der Berger einen Flug für heute Nacht buchen. Davor versuchst du noch einmal, einen Traum zu bauen. Wenn es nicht klappt, fliegst du heim.«
»Das ist eine gute Idee. Danke, dass du hier bist. Das bedeutet mir echt viel.« Allegra schluckte leer.
Florentine nahm Allegra in die Arme und streichelte ihr über den Rücken. »Du bist meine Freundin. Ich bin für dich da, egal, was passiert!« Dann sah sie auf die Uhr. »Es ist schon zwölf. Willst du mal rübergehen? Ich sage nur: Arthur.«
Allegra musste nur seinen Namen hören und wünschte sich auf einmal nichts sehnlicher, als bei ihm zu sein. Sie war froh, mit Florentine diskutieren zu können, aber sie vermisste auch die Gespräche mit Arthur. Er hatte, ähnlich wie Florentine und doch ganz anders, einen speziellen Blick auf die Dinge, die um ihn herum vorgingen. Arthur sah das große Ganze, wo Allegra nur viele kleine Einzelteile erkannte. Er stellte Zusammenhänge her, wenn Allegra noch über das Motiv nachdachte.
Zusammen liefen Florentine und sie kurz darauf durch den Park und näherten sich dem Haupteingang, um sich die Lage dort einmal anzusehen. Die Demonstration auf der Straße war unverändert im Gange. Es mussten ungefähr fünfzig Demonstranten sein. Sie hielten Schilder hoch, auf denen »Vérité« oder »Liberté pour les enfants«, also »Wahrheit« oder »Freiheit für die Kinder« stand. Ein Junge trug ein Schild mit den Worten »Cassez-vous!«.
»Was heißt das denn?«, fragte sie Florentine.
Diese spähte durch die Büsche am Zaun. »Haut ab«, erklärte sie.
Allegra konnte immer noch nicht genau verstehen, was die Demonstranten riefen, aber sie konnte sehen, wie mehrere in Schwarz gekleidete Agenten am Eingang und entlang des Zauns Stellung bezogen. Sie waren nicht bewaffnet, doch Allegra wusste, dass sie alle für den Nahkampf ausgebildet waren. Jean und Stéphane waren darunter, ebenso Sabine, die sich die Haare zusammengebunden hatte und mit den Lederbändern, die sie um ihre Handgelenke geschlungen hatte, recht martialisch aussah. Spätestens jetzt sollten die Demonstranten misstrauisch werden, was das hier für eine Bildungseinrichtung war.
Lorenzo war nirgends zu sehen, ebenso wenig Adair. Madame Berger stand mit Madame Anglot und dem alten Professor Lambert am Eingang und diskutierte mit einer Abordnung Demonstranten.
Mehrere DI-Familien beobachteten das Geschehen neugierig von der Akademieseite aus. Kinder rannten am Zaun auf und ab, einige Demonstranten versuchten, sie in Gespräche zu verwickeln, doch ohne Erfolg. Die DI-Kinder waren auf Verschwiegenheit getrimmt. Sie wussten nicht alle, was auf dem Spiel stand, doch Geheimnisse zu bewahren, lag ihnen im Blut. »Verschwindet!«, schrie plötzlich einer der Väter die Demonstranten an. »Haut ab! Lasst uns in Ruhe!«
Er wurde sofort von Jean zur Ordnung gerufen. »Ruhe, Alfonse! Sie können hierbleiben und zusehen, Ihre Kinder auch, aber das Reden überlassen Sie gefälligst uns.«
Der Vater trat vom Zaun zurück, wandte sich wütend an Jean. »Aber …«
Jean stand so nahe vor ihm, dass sich ihre Nasen fast berührten. Er wich keinen Millimeter zurück. »Kein Aber. Hier auf dem Gelände gelten die Regeln der Akademie. Halten Sie sich daran. Ausdrücklicher Befehl vom Direktor.«
Leise murrend stellte sich der mit Alfonse Angesprochene wieder zu seiner Familie, doch er hielt sich an die Anweisung, starrte nur mit verengten Augen zum Zaun.
»Florentine«, rief Sabine, die sie entdeckt hatte. »Wir brauchen dich hier! Allegra, du sollst in den Traumsaal. Jetzt sofort!«
Florentine und Allegra sahen sich an. »Und wieder muss Arthur warten«, seufzte Allegra. »Wir sehen uns nachher. Ich bin gespannt, wer überhaupt Zeit für mich hat bei dem Chaos, das hier herrscht!« Sie umarmte Florentine kurz, dann rannte sie los.
Auf dem Weg zum Hauptgebäude sah sich Allegra immer wieder um. Vielleicht entdeckte sie Arthur irgendwo und konnte ihn wenigstens ganz kurz sprechen? Sie rannte hoch in die Mensa, doch da war niemand zu sehen. Nur aus der Küche drang Geklapper, das davon zeugte, dass das Mittagessen vorbereitet wurde. Also lief sie die Treppe wieder hinunter, bog in den Gang ab, der zum Traumsaal führte, als sich neben ihr die Tür öffnete und jemand hinaustrat, ohne nach links oder rechts zu sehen. Sie rannten direkt ineinander.
»Au!« Arthur sah blass aus, er hatte tiefe Ringe unter den Augen und sich offensichtlich seit Tagen nicht rasiert. Am liebsten hätte Allegra die Hand ausgestreckt und über seine Wange gestrichen, die ungewohnten Stoppeln dort gespürt. Doch Arthur redete direkt los. »Ich weiß, dass du mich derzeit nicht besonders leiden kannst. Ich kann mich gerade selbst nicht gut leiden.« Hastig fuhr er fort: »Ich muss raus, der Direktor will mich bei den Verhandlungen dabeihaben. Mit den Demonstranten. Und danach wird Dr. Lamartin zurück sein, und ich muss wieder so tun, als wäre nichts mehr zwischen uns.« Damit rannte er zum Ausgang und ließ Allegra verdattert zurück. Was war das denn jetzt schon wieder gewesen?
Ihr blieb keine Zeit zum Nachdenken. Vorm Traumsaal erwarteten sie Adair und Madame Pinot. »Bist du wieder fit, Allegra?«, fragte die alte Dame.
»Ja, danke. Wie ist es bei Ihnen?«, fragte sie höflich. Madame Pinot wirkte dünner und zerbrechlicher als noch vor drei Tagen, aber ihre Augen blitzten unternehmungslustig.
»Gut genug, um mit dir in die Traumzeit zu gehen.«
»Ich möchte verhindern, dass die Situation da draußen außer Kontrolle gerät«, sagte Adair. Er trug – ganz der Direktor – einen schwarzen Anzug, weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. »Also gehe ich diesmal nicht mit dir. Wir warten jetzt nur noch auf – ah, da ist er ja.«
Lorenzo kam um die Ecke gehastet. »Wir haben das gesamte Gelände gesichert, Direktor«, berichtete er außer Atem. »Auch die Stellen am Fluss.«
»Sehr gut. Dann werde ich mich jetzt mit den aufgebrachten Bürgern vor unseren Toren unterhalten und versuchen, die Wogen zu glätten.«
Madame Pinot hielt ihre Karte vor den Scanner und entriegelte die Tür zum Traumsaal.
»Was wollen die eigentlich?«, fragte Allegra.
»Irgendjemand hat dem Stadtrat den Floh ins Ohr gesetzt, dass wir eine Sekte sind und dass wir hier Menschen gegen ihren Willen festhalten, unter anderem Kinder«, erklärte Adair finster.
Allegra konnte sich nur zu gut vorstellen, wer den Floh erfunden hatte. »Warten Sie«, sagte sie schnell, als Adair sich zum Gehen wandte. »Mir sind mit Florentines Hilfe ein paar Dinge klar geworden.« Sie fasste ihre Recherchen kurz zusammen. »Bestimmt hat Mortensen schon herausgefunden, dass wir die Seelen, die unter seiner Kontrolle stehen, befreien. Schönburg ist zurückgetreten, und auf ihn hat Mortensen bestimmt gezählt. Das passt jetzt gar nicht in seinen Plan. Die Demonstranten sind seine Antwort auf unser Eingreifen.«
»Gut kombiniert«, sagte Lorenzo beeindruckt.
Adair nickte. »Ich befürchte, dass du recht hast, Allegra. Das deckt sich mit allem, was auch die anderen Akademien sagen und mit dem, was Ruben herausgefunden hat. Wie dem auch sei. Du kümmerst dich um den Traum, das hat für dich jetzt Priorität. Olive hat mich ins Bild gesetzt.«
»Wenn es nicht klappt, darf ich dann nach Hause fliegen?«, fragte Allegra zögernd. Wenn sie es aussprach, wurde es real. Davor hatte sie furchtbare Angst.
Adair blickte sie zwar verständnisvoll an, verschränkte aber die Arme. »Darüber reden wir nachher. Die Situation an der Akademie erfordert momentan all unsere Kräfte.« Damit verließ er den Traumsaal, und Allegra wusste mit einem Mal wieder, warum er Direktor geworden war. José Adair traf auch unangenehme Entscheidungen, ohne mit der Wimper zu zucken.
Also atmete Allegra ein paarmal tief durch und versuchte, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor ihr lag. Diesmal musste es ihr einfach gelingen! Das war ihre letzte Chance.
Lorenzo aktivierte den Bildschirm mit der Karte, scrollte sich durch mehrere Menüs und tippte dann auf ein grünes, dreieckiges Symbol: »Wir nehmen diesen Traum hier. Der ist noch einigermaßen stabil.«
»Können wir nicht den Traum von gestern nehmen?«, fragte Allegra.
»Leider nein. Wir haben zwar die Membran gefestigt, es ja aber nicht geschafft, den Traum zu befüllen. Und so ist er vergangene Nacht in sich zusammengefallen.«
»Mist«, sagte Allegra halblaut.
»Es ist besser so«, mischte sich Madame Pinot ein. »Dann kannst du ganz neu starten.« Sie stellte die Sanduhr ein. »Lorenzo wird Anker sein. Los, los. Machen wir, dass wir hinüberkommen.«
In Sekundenschnelle wechselten sie in die Traumzeit. Lorenzo drehte sich aufmerksam um sich selbst. »Ah, da ist er. Der rötliche Traum in der zweiten Reihe.«
Madame Pinot und Allegra folgten seinem Blick. Der Traum sah aus wie ein Ei: unten etwas breiter, oben etwas schmaler. Allegra wunderte sich, wie der Traum aufrecht schweben konnte. Andererseits war das wahrscheinlich ihrer Fantasie geschuldet, und der Traum sah in Wirklichkeit – wenn es DIE Wirklichkeit denn überhaupt gab – ganz anders aus. Und die Wirklichkeit –
Stopp!, rief sie sich innerlich zur Ordnung. Du verlierst dich in Gedankenspielchen, um nicht anfangen zu müssen. Denk an das, was jetzt wichtig ist! Sie trat vorsichtig näher, streckte die Hände aus, um die Membran zu kontrollieren. Sie war stabiler als die von dem Traum gestern, wies dafür aber deutliche Dellen auf. Ein langsamer, ganz leiser Takt war zu spüren.
»Die müssen wir von innen ausbeulen«, stellte Madame Pinot fest, die neben ihr stand und ebenfalls ihre Hände über die Membran wandern ließ. »Kannst du etwas darin erkennen?«
Allegra richtete ihren Blick auf eine willkürliche Stelle, wartete, bis sich das Milchige klärte. »Hm … ein leeres Zimmer. Heller Steinfußboden. Große Fenster. Dahinter ein Garten.«
»Wir gehen hinein«, beschloss Madame Pinot und griff nach Allegras Hand. »Lorenzo, du hältst Wache.«
Sie traten nacheinander durch die Membran, die sie anstandslos passieren ließ, und fanden sich in einem großen, hellen Raum wieder. Es schien, als sei er erst vor Kurzem verlassen worden. Sonne schien von draußen herein, im Garten stand ein großer Baum, dessen Äste bis an das Fenster reichten. Allegra drehte sich langsam im Kreis. »Wow. Richtig schön, oder? So etwas hatte ich nicht erwartet.«
»Nun, jeder Traum ist anders. Und nicht immer sind Träume, die übrig bleiben, Albträume.« Madame Pinot blickte sich aufmerksam um. »Siehst du dahinten die Membran flimmern? Wir müssen dem Traum noch etwas mehr Raum geben. Mehr Luft, verstehst du? Und dann kannst du versuchen, ihn zu ändern.«
»Die Stimmung ist gar nicht so schlecht«, bemerkte Allegra.
»Da hast du recht. Vielleicht hilft dir das später, deine eigene Erinnerung hineinzugeben.« Madame Pinot ließ sich im Schneidersitz auf den Boden sinken, sie legte die Handflächen auf die Knie und schloss die Augen. In ihrem schwarzen Anzug sah sie aus wie ein kleiner, faltiger Yogi, nur dass sie feste Schuhe an den Füßen trug. »Du kannst stehen bleiben. Nimm die Position ein, mit der du dich wohlfühlst«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen.
Allegra fühlte sich ertappt, tat aber wie befohlen. Sie stellte sich breitbeinig hin, die Knie locker, die Arme seitlich nicht ganz ausgestreckt, Handflächen nach oben. Dann atmete sie tief ein, wartete auf Madame Pinots Zeichen. Diese nickte ruckartig, und beide Agentinnen bliesen den Traum von innen auf. Es dauerte eine Weile, doch schließlich konnte Allegra erkennen, wie die Membran glasklar wurde. Das Flimmern nahm deutlich ab. »Voilà!«, sagte Madame Pinot zufrieden und erhob sich, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen, in einer fließenden Bewegung. »Jetzt kannst du beginnen. Darf ich fragen, was für eine Erinnerung du dir ausgesucht hast?«
Allegra zögerte.
»Ich möchte dir helfen, sie zu verstärken«, erklärte Madame Pinot. »Dazu ist es gut zu wissen, was du kreieren willst.«
»Meine letzte reale Erinnerung an meine Eltern«, sagte Allegra leise. »Wir standen morgens in der Küche. Elena und ich haben uns für die Schule fertig gemacht. Mein Vater hat mir ein Nutellabrot geschmiert. Und mit meiner Mutter habe ich meine Geburtstagsparty geplant. Ich wollte einen Filmabend mit meinen Freundinnen veranstalten. Mit jeder Menge Popcorn.« Sie wischte sich hastig über die Augen. Es tat weh, überhaupt daran zu denken. Aber deswegen gehörte die Erinnerung zu den stärksten, die sie hatte. Es war ein Moment, den sie nie vergessen würde. Und sie war sicher, dass er sich auch ihren Eltern unauslöschlich eingeprägt hatte. Sicher, es hatte fröhlichere Momente gegeben. Aber sie hatte nach etwas gesucht, das sie alle emotional miteinander verband. Der letzte gemeinsame Moment – das war etwas, was man nie vergaß.
Madame Pinot betrachtete sie ein paar Sekunden schweigend, dann sagte sie nur: »Du kannst beginnen.«
Allegra sah sich um. Wie hatte ihre Küche zu Hause damals ausgesehen? Sie musste sich nicht einmal sonderlich anstrengen, vor ihren Augen war alles sofort wieder da.
Der helle Steinfußboden ist schon mal richtig, ebenso das Fenster. Vor der Küche steht kein Baum, man kann in den kleinen Vorgarten sehen. Es gibt eine Hecke aus Thujen, über die Allegra schon gut drübersehen kann. Die Küche ist mit dunkelblauen, matt glänzenden Schränken ausgestattet, dominiert von einer hell marmorierten Arbeitsplatte. Der strenge Eindruck wird durch die Kühlschranktür, die mit bunten Zeichnungen, Fotos und Zetteln gespickt ist, gemildert. Einen weiteren Kontrast bildet der Spritzschutz hinter dem Herd: Ihre Eltern haben eine Kopie des ersten Bildes verglasen lassen, das Elena verkauft hat. Eine kleine Bar trennt die Küche vom Wohnzimmer ab, daran stehen vier chromglänzende Barhocker. Eine große Deckenlampe spendet warmes Licht. Normalerweise ist das Fenster immer gekippt, doch an diesem Morgen bläst ein steifer Wind, und ihre Mutter ist es irgendwann leid, dass immer wieder eine Tür zuknallt. Energisch schließt sie das Fenster und schenkt sich die zweite Tasse Kaffee ein, bevor sie mit Allegra über ihren Geburtstag spricht. Auf der Bar steht die bereits leere Tasse von Allegras Vater.
Die Stimmung ist angespannt, immer wieder werfen ihre Eltern sich sorgenvolle Blicke zu. Wegen Mortensen. Doch das ignoriert Allegra wie jeder normale Teenager, ihre Gedanken drehen sich um die bevorstehende Party und um die Schule.
Der letzte Kuss der Mutter in ihrem Haar.
Das letzte »Tschüs, Mama!«.
Allegra begann mit dem herben Duft nach Toast, der in der Luft gelegen hatte. Vertraut, ein alltägliches Element an so vielen Morgen, dass es ihr erst aufgefallen war, als Elena zum ersten Mal keinen Toast gemacht, sondern frische Semmeln geholt hatte. Dieser leicht angebrannte Geruch, der einem trotzdem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, wenn man an Butter oder Marmelade dazudachte.
Madame Pinot klatschte leise in die Hände. »Es duftet nach Frühstück«, verkündete sie.
Hieß das, dass es funktionierte? Jedenfalls rief der Duft auch die kleinsten Details in Allegras Erinnerung hervor, sie sah Krümel auf dem Fußboden, den Ring, den ein Glas auf der Arbeitsplatte hinterlassen hatte, den Tageskalender mit den englischen Vokabeln. Sie erschuf die Küchenmöbel in ihrer Vorstellung, platzierte sie in dem Raum, in dem sie stand. Tatsächlich, da schimmerte es dunkelblau. Madame Pinot lächelte. Die Küche nahm einen Moment lang Gestalt an, Allegra drehte sich aufmerksam um sich selbst, vergewisserte sich, dass sie nichts vergessen hatte, dann verschwanden die Möbel wieder.
»Hallo? Was ist das denn?« Sie versuchte es erneut, ein zweites Mal erschien die Küche kurz, nur um wieder zu verschwinden.
»Ich glaube, du musst den Traum erst mehr zu deinem machen. Fülle ihn zunächst mit Gefühl, dann mit konkreten Elementen«, schlug Madame Pinot vor.
»Andersherum ist es einfacher. Wenn ich etwas sehe.«
»Für dich. Aber der Traum ist von jemand anderem geschaffen worden, vergiss das nicht. Er muss dir erst gehören.«
War das bei der Schlacht gegen Mortensen ebenfalls so gewesen? Allegra versuchte, sich zu erinnern. Es war, als wären Träume lebendige Wesen, die nur einem Meister gehorchten. Wenn eine Agentin einen Traum für sich reklamierte, musste sie erst seine Gefolgschaft gewinnen. Selbst wenn es ein leerer Traum war.
Also ließ Allegra erst einmal all das in den Traum los, was das Herz ihrer Erinnerung war.
Das Wissen darum, dass sie alle vier – Elena, Allegra, ihre Eltern – zusammengehörten, was auch immer geschah.
Die Liebe, die sie füreinander empfanden.
Die Sicherheit, dass ihre Familie immer da sein würde.
Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie machte weiter. Sie gab das starke Band zwischen Elena und ihr hinein, ein wenig von der Trauer, die sie so lange beherrscht hatte – und die neue, große Freude darüber, dass es jetzt eine Chance gab, die Splitter ihrer Familie endlich wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen.
Der Traum füllte sich, begann zu schwingen. Allegra spürte den Rhythmus, der sich ihrem eigenen anglich. Sie fühlte es in ihrem tiefsten Inneren: Das war der Moment, in dem sie die Herrschaft über den Traum übernahm. Ihn zu ihrem machte.
Erneut versuchte sie, die Küche zu erschaffen.
Die Möbel tauchten ein drittes Mal auf. Blau glänzende Flächen, eine offen stehende Schublade. Die blubbernde Kaffeemaschine. Ein vor Nutella triefendes Messer auf einem Teller.
Madame Pinot sah sich staunend um, dann nahm sie Allegra spontan in die Arme und drückte sie fest an sich. »Na also!«
»Das ist … verrückt«, sagte Allegra staunend. Es kam gedämpft heraus, weil ihr Gesicht an Madame Pinots Schulter gepresst war.
Sie standen in der Küche der Hellers! Immer noch war der Raum in Bewegung, hier und da änderte sich noch eine Kleinigkeit wie von selbst. Die an der Unterseite der Oberschränke eingelassene Beleuchtung flammte auf. Der Kratzer, über den ihre Mutter fürchterlich geschimpft hatte, zog sich plötzlich über die blaue Abdeckung der Spülmaschine. Der helle Fliesenboden erhielt eine Schicht Patina. Und auf dem getrockneten Blumenstrauß, der seit Jahren auf einem der Schränke in einer weißen Vase stand, lag plötzlich eine sichtbare Staubschicht. Es war ihre Küche, kein Zweifel.
Allegra löste sich aus der Umarmung. »Bleibt der Traum jetzt so?«
»Nun, er gehört dir. Aber damit er am Leben bleibt – meinst du das? –, musst du ihn immer wieder besuchen, ihm etwas Energie von dir geben, sozusagen. Am besten täglich, bis deine Eltern ihn gefunden haben.«
»Wir haben nicht mehr viele Tage«, murmelte Allegra und dachte an das, was Dr. Lamartin ihr gesagt hatte.
»Das stimmt. Aber du hast ihnen jetzt einen sicheren Hafen geschaffen. Sie müssen ihn nur noch finden. Sieh dich um! Das ist großartig.« Allegra konnte sich nicht erinnern, die strenge Madame Pinot je so euphorisch gesehen zu haben. »Komm, wir sollten den Traum noch versiegeln. Ich möchte nicht, dass sich jemand daran zu schaffen macht.« Sie zog Allegra ohne ein weiteres Wort an der Hand hinter sich her.
Lorenzo, der im Nebel um den Traum herum patrouillierte, sah sie erwartungsvoll an.
Als Allegra nickte, lächelte er anerkennend. »Du hast es geschafft, oder? Ich konnte von außen sehen, dass sich etwas tut. Die Membran hat ihre Beschaffenheit geändert, und auch der Rhythmus ist jetzt stärker und hat –«
»Hier alles ruhig?«, unterbrach ihn Madame Pinot.
»Äh. Ja. Aber sehen Sie, wie der Traum jetzt leuchtet? Das ist ein Hinweis für jeden, der Allegra oder uns beobachtet. Wir müssen den Traum verstecken.«
»Wir können ihn nicht verstecken«, protestierte Allegra. »Meine Eltern sollen ihn schließlich finden!«
Darauf wusste Lorenzo keine Antwort.
Sie wandte sich an Madame Pinot. »Und versiegeln können wir ihn auch nicht. Wie sollen sie denn dann hineinkommen? Was hat das Ganze denn für einen Sinn? Was machen wir jetzt?«
Madame Pinot hob die Hände. »Ganz ruhig. Das haben wir im Unterricht schon besprochen! Zuerst schließ die Augen. Spürst du, wie der Traum schwingt?«
Allegra folgte widerstrebend dem Befehl, sie war viel zu aufgewühlt, um einfach darauf zu vertrauen, dass alles gut werden würde. »Ja, ich fühle es«, gab sie dann jedoch zu. Wie eine Saite, die in ihrem Inneren beständig in Schwingung versetzt wurde.
»Genau das fühlen deine Eltern auch, wenn sie in die Nähe dieses Traums kommen. Das heißt, sie werden ihn wahrnehmen, weil er dir entspricht. Und nun zu unserem vordergründigen Problem: Der Traum leuchtet, weil wir ihn gerade erst verändert haben. Das wird sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden legen. Bis dahin ordne ich eine strikte Bewachung an.« Sie verschränkte die Arme und sah Lorenzo und Allegra streng an. »Wir haben hier eine außergewöhnliche Situation und eine ungewöhnliche Agentin, aber glaubt bitte nicht, dass die DI nicht weiß, was sie in solchen Fällen tun muss. Es ist nicht das erste Mal, dass wir eine solche Ausnahmesituation meistern müssen. Die Dream Intelligence gibt es schon ein paar Jahre länger als euch.«
Allegra wurde rot. »Entschuldigung«, murmelte sie.
Madame Pinots Blick wurde wieder etwas weicher. »Schon gut, Allegra. Wir besprechen das nach unserer Rückkehr. Nun möchte ich den Traum trotzdem versiegeln. Das bedeutet, dass nur noch du – oder jemand deiner Familie – diesen Traum betreten kann. Möglich wird das durch eure Verbindung zueinander und weil du den Traum gestaltet hast.«
»Ach so.« Jetzt fühlte sich Allegra geradezu bescheuert.
»Dann mach dich mal ans Werk. Ich kann dir dabei nicht helfen. Du musst den Traum mit deiner Aura umhüllen.«
Allegra beschloss, diesmal einfach dem Befehl zu folgen und keine blöden Fragen zu stellen. Sie hob die Hände, ließ ihre Aura um ihre Finger bläulich aufleuchten. »Einfach so? Als wenn ich ihn anmalen würde?«, vergewisserte sie sich.
»Ja genau.«
Allegra wanderte langsam um den Traum herum, dessen Form sich wieder der einer Kugel angenähert hatte. Sie ließ die Hände an der Membran entlanggleiten, schickte mit einem mentalen Stoß die Aura auch nach oben an die Stellen, die sie nicht erreichen konnte, und überzog den Traum so mit einem leuchtenden Netz. Lorenzo sicherte währenddessen die Umgebung. Madame Pinots Schultern wirkten angespannt, als würde sie jeden Moment einen Angriff erwarten.
Doch es blieb ruhig.
Zu ruhig?
»Fertig!« Zufrieden betrachtete Allegra die blau leuchtende Kugel. Am liebsten würde sie hier stehen bleiben, um ihre Eltern ja nicht zu verpassen. Was, wenn sie vorbeikamen und den Traum doch nicht erkannten? Oder ihn zwar erkannten, aber zu schwach waren, um hereinzukommen? Ihr schwirrte der Kopf.
Andererseits hatte sie so viel zu tun. Jetzt konnte es weitergehen: Adair hatte ihr versprochen, ihr zu erklären, wie sie ihre Eltern zu dem Traum locken konnten. Außerdem konnte sie es kaum erwarten, Elena davon zu erzählen. Es ging voran! Das Herz wurde ihr wieder leicht, und mit zwei schnellen Hüpfern, bei denen sie sich übermütig einmal um sich selbst drehte, kehrte sie zurück in ihren Körper.
»Heute Abend geht es weiter«, kündigte Madame Pinot an. Sie erhob sich mühsam von ihrer Liege, stützte sich dabei mit beiden Händen ab.
Lorenzo, der ebenfalls schon zurückgekehrt war, sprang auf und streckte ihr die Hand hin. »Langsam, Madame«, mahnte er.
»Schon gut, Lorenzo, danke.« Madame Pinot war blass, dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab. Mit zitternden Händen griff sie nach der kleinen Wasserflasche, die neben ihrer Liege auf einem Tischchen stand. »Geht, geht«, sagte sie dann zu Lorenzo und Allegra, die unschlüssig dastanden, und wedelte mit einer Hand. »Ich bin in Ordnung. Nur eben nicht mehr so fit wie früher.«
»Wirklich? Oder sollen wir Sie noch begleiten?«, fragte Allegra besorgt.
»Nein, nein. Seht lieber nach, wie es um die Verhandlungen mit den Demonstranten steht. Wir können das Interesse der Öffentlichkeit jetzt nicht gebrauchen. Hoffentlich kann José sie besänftigen. Oh, wenn ich Mortensen in die Finger bekomme …«
Allegra musste sofort an die schallende Ohrfeige denken, die die alte Dame ihm beim letzten Mal verpasst hatte, und lächelte wider Willen. »Ich muss telefonieren«, sagte sie zu Lorenzo. »Wie spät ist es eigentlich?«
»Halb drei«, sagte er und fuhr fort: »Adair wird dein Team zusammenstellen. Ich weiß aber noch nicht, wer dabei ist.«
»Wahrscheinlich wieder Jean und Sabine«, vermutete Allegra und trat auf den Gang. Sofort nahm sie den Lärm wahr, der draußen herrschte. Die Rufe waren lauter geworden, klangen aufgebrachter.
»Ich glaube, das mit dem Beruhigen der Menge hat nicht geklappt«, murmelte Lorenzo. Sie tauschten einen besorgten Blick und rannten beide los, raus in den Park. Sie sahen es schon von Weitem, keine hundert Meter weiter kamen sie schließlich schlitternd zum Stehen. Vor dem Eingang zum Akademiegelände, beginnend an Corlaeus’ Bungalow, hatte sich eine Mauer aus Agenten geformt, die sich bis gut zehn Meter in beide Richtungen erstreckte. Allegra war wieder einmal froh über ihre Größe, die es ihr erlaubte, über die meisten Schultern und Köpfe hinwegzusehen. Mehrere Übertragungswagen waren vor dem Eingang geparkt, zwei Reporter liefen, gefolgt von Kameramännern, mit geradezu verzücktem Gesichtsausdruck zwischen den Demonstranten hin und her. Es herrschte ein ziemliches Durcheinander.
»Ach du Schande«, sagte Allegra halblaut. »Wenn das in die Zeitung kommt oder ins Fernsehen, dann kann sich die DI vom Status einer geheimen Organisation verabschieden.« Vorne am Tor entdeckte sie Adair, er sprach mit einem Mann, der genauso wie er formell in Anzug und Krawatte gekleidet war. Jetzt stellte sich noch eine Frau im Businesskostüm und hochhackigen Schuhen dazu.
»Stadträte«, raunte Lorenzo ihr ins Ohr. »Erinnerst du dich? Die haben wir in dem Restaurant gesehen.«
Allegra nickte. Wo war Arthur? Hatte er nicht gesagt, er sollte ebenfalls mit den Demonstranten reden? In der Agentenkette stand er jedenfalls nicht. Sie reckte den Hals, meinte einen Moment lang, ihn in der Menge draußen vor dem Zaun zu entdecken, war sich aber nicht sicher. In diesem Moment klingelte ihr Handy.
Sie ging ein paar Schritte zur Seite und nahm das Gespräch an, ohne hinzusehen.
»Alli!«, ertönte die aufgeregte Stimme ihrer Schwester. »Ihr seid auf YouTube. Was um Himmels willen ist da los?«
Allegra presste das Handy ans Ohr. Sie musste sich verhört haben. »YouTube?«, wiederholte sie.
»Ja, das sage ich doch. Ich schick es dir gleich. Ich sehe eine aufgebrachte Menschenmenge vor dem Akademieeingang und … ach, das ist Adair und diskutiert mit jemandem. Allegra, was ist los bei euch? Von euch weiß doch niemand, oder habe ich was verpasst?«
»Mortensen ist los«, antwortete Allegra finster.
»Mortensen? Ist er bei euch? Sag mir, dass das nicht wahr ist.«
»Nicht hier! Aber er steckt dahinter, da bin ich sicher.«
»Das ist gruselig. Ich hatte wirklich gehofft, dass ich mich irre, Kleine.«
»Tust du leider nicht. Mortensen hat Pläne, die weit über die Akademie hinausreichen. Und Adair glaubt das auch. Er macht sich große Sorgen.«
»Da ist noch etwas. Dass bei euch Chaos herrscht, das weiß ich von Quirin.«
»Quirin?«, wiederholte Allegra, noch verdutzter als vorher. »Wie bitte? Was hat der denn damit zu tun?«
Elena seufzte hörbar. »Vor ein paar Minuten hat er mich angerufen und erzählt, er habe wieder mal einen Auftrag in Frankreich. Dann hat er mir einen Link gemailt. Das sei die Story des Monats, sagt er. Gefährliche Sekte mitten in Europa, Freiheitsentzug oder so was.«
Allegra machte ein paar Schritte nach hinten, lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baum. Die raue Rinde drückte durch ihr T-Shirt. Die ausladenden Äste der Weide verbargen sie vor den Blicken der anderen. »Das fehlt uns gerade noch«, sagte sie dumpf. »Wenn Quirin mich hier sieht, bin ich geliefert.« Sie verzichtete auf ein Ich habe es dir doch gleich gesagt, lauschte stattdessen weiter dem, was Elena zu erzählen hatte.
»Er fliegt heute Abend oder morgen nach Marseille und nimmt einen Mietwagen nach Avignon. Zusammen mit einem Kollegen, einem Fotografen, glaube ich. Du musst dich eben drinnen aufhalten. Auf euer Gelände kommt er ja nicht einfach so, oder? Aber es geht ja nicht nur um dich – ihr könnt überhaupt keine Aufmerksamkeit gebrauchen, und schon gar keine Presse!«
»Mhm.« Allegra schossen Dutzende Gedanken gleichzeitig durch den Kopf, keiner davon sonderlich aufbauend.
»Freiheit, Freiheit, Freiheit«, skandierte die Menge im Hintergrund. In Wellen brandeten die Schreie auf. Allegra schob mit der freien Hand ein paar Zweige auseinander. Sie erkannte Sabine und neben ihr, klein und rothaarig, Florentine. Sie standen Schulter an Schulter, die Körper angespannt, als würden sie jeden Moment damit rechnen, einen Angriff abwehren zu müssen.
Da dröhnte plötzlich Adairs Stimme blechern durch ein Megafon. »Ich bitte um Ruhe! Meine Damen und Herren, ich stehe für Fragen gerne zur Verfügung. In einem zivilisierten Rahmen.«
Jemand schien ihn etwas zu fragen, denn er schwieg kurz, dann sagte er: »Es wird ein Treffen mit dem Stadtrat geben. Gerne werden wir Sie danach über die Details informieren. Bitte räumen Sie jetzt die Straße vor unserem Gelände. Sie verängstigen die Familien, die hier – ganz im Übrigen freiwillig – leben.«
»Hörst du mit?«, fragte Allegra.
»Verrückt! Ich höre es durchs Telefon und mit drei Sekunden Verzögerung im Livestream.«
»Ja, auch Mitglieder können Ihnen Fragen beantworten. Wir legen zwar großen Wert auf Privatsphäre«, ertönte jetzt wieder Adairs Stimme durch das Megafon, »da wir unseren prominenten Mitgliedern Anonymität zugesichert haben, aber ich werde mich um Interviewpartner kümmern. Ich danke Ihnen.«
Hoffentlich lässt er nicht die Walkers vor das Mikrofon, dachte Allegra spontan. Erneut ertönte Geschrei, doch es ebbte etwas ab. Noch blieben die Agenten stehen, aber sie konnte sehen, dass sich ihre Haltung entspannte.
»Ich glaube, Adair hat die Lage im Griff«, sagte sie. »Trotzdem, gut ist das alles nicht.«
»Bei all dem, was da bei euch vorgeht, wage ich gar nicht zu fragen …«, begann Elena.
»Doch, darfst du. Mensch, Elli! Der Traum ist fertig. Wenn wir sie da irgendwie reinbekommen, dann gibt es Hoffnung für Mama!«
Elena schwieg so lange, dass Allegra das Telefon in die Hand nahm und das Display überprüfte, um zu sehen, ob die Verbindung noch bestand. Erst als sie ein Schniefen hörte, wurde ihr klar, dass ihre große Schwester weinte. »Das ist großartig, Allegra«, sagte Elena schließlich mit erstickter Stimme. »Du bist meine Heldin!«
»Noch sind Mama und Papa nicht wieder da«, warnte Allegra. »Das war nur der erste Schritt.«
»Aber der wichtigste«, widersprach Elena.
Als sich die Lage eine Stunde später wieder beruhigt hatte, die Demonstranten abgezogen waren und auch die Journalisten gemerkt hatten, dass es nichts mehr zu sehen gab, rief Madame Berger zu einer Versammlung.
»Adair und Berger möchten, dass möglichst alle kommen. Die Agenten, die Familien, auch die Kinder. Wir müssen unser weiteres Vorgehen miteinander abstimmen«, sagte Lorenzo, der zusammen mit ein paar Kommilitonen von Bungalow zu Bungalow marschierte und die Einladung wie ein mittelalterlicher Marktschreier bekannt gab. »In einer halben Stunde auf der Wiese vor dem Hauptgebäude.«
Allegra lief ziellos umher, versuchte, die halbe Stunde irgendwie totzuschlagen. Nach der Versammlung würde sie Adair endlich nach der Methode fragen können, wie man jemanden in einen Traum hineinlockte, der gar nichts von dessen Existenz wusste. Als ihr Handy erneut klingelte, dachte sie, dass es noch mal Elena mit Neuigkeiten zu Quirin war, doch es war eine unterdrückte Nummer.
»Hallo?«, meldete sie sich zögernd. Musste man in Frankreich auch mit Werbeanrufen rechnen?
»Hallo, Allegra«, sagte eine bekannte Stimme mit englischem Akzent.
Allegra fiel vor Überraschung fast das Handy aus der Hand. »Jenny!«
»Ganz genau.«
»Jenny!«, wiederholte Allegra. »Wie –?« Doch sie kam nicht dazu, ihre Frage zu beenden.
»Ich mache es kurz. Sag deinem Freund, er soll mich in Ruhe lassen. Genauso wie Sofia. Wir schätzen es nicht, von euch verfolgt zu werden. Wenn er weitermacht, wird das Konsequenzen haben. Unangenehme Konsequenzen, vor allem für dich und deine Eltern.« Jenny klang reserviert, aber in ihren Worten schwang Zorn mit.
Allegra lauschte mit klopfendem Herzen. Dann schoss sie zurück: »Du bist doch völlig durchgeknallt! Weißt du, was hier abgeht? Und was war das mit deiner Schwester? Die habt ihr in den Tod geschickt, Jenny! Waren das auch Konsequenzen?«
»Ganz genau.« Jenny ignorierte den Köder, ließ sich auf keine Diskussion ein. Ganz im Gegenteil: »Ich habe meine Botschaft übermittelt. Vergiss sie nicht. Und jetzt habe ich hier noch jemanden, der mit dir sprechen möchte.« Eine kurze Pause entstand, dann erklang eine kühle, sehr akzentuierte Stimme: »Allegra, meine Liebe, hast du dir mein Angebot durch den Kopf gehen lassen?«
Viktor Mortensen.
In Allegras Ohren begann es zu summen. »Wie können Sie es wagen?«, begann sie, doch Mortensen ließ sie nicht ausreden. »Spar dir deine Anschuldigungen, wir haben nicht viel Zeit. Deine Eltern leben. Noch. Und damit es so bleibt, solltest du deine starrsinnige Haltung aufgeben und einen Seitenwechsel in Erwägung ziehen.«
Allegra begann zu zittern.
»Du hast mir mit deiner Behandlung von Alexander Schönburg einen Stein in den Weg gelegt. Nur einen kleinen, möchte ich betonen, aber trotzdem: Deine fortwährenden Bemühungen, mir das Handwerk zu legen, sind ärgerlich und unnötig. Ich ziehe in der Dream Intelligence mittlerweile die Fäden. Adair ist nur noch eine Puppe. Glaubst du wirklich, ihr könnt noch gewinnen?«
Allegra antwortete nicht. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. Sie bemerkte, dass die Menschen, denen sie begegnete, einen Bogen um sie machten. Konnte man an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, welche Wut in ihr tobte?
Mortensen lachte leise. »Lass mich dir einen kleinen Anreiz geben: Du hast noch genau sechs Stunden, um dich zu entscheiden. Was auch immer dann mit deinen Eltern geschieht, es liegt in deiner Hand. Die Zeit läuft. Ab jetzt.« Es klickte.
Ein paar Sekunden stand Allegra reglos da. Dann kam Bewegung in sie, sie rannte los. Adair! Sie musste mit Adair sprechen. Doch als sie am Akademietor ankam, musste sie dabei zusehen, wie er gerade in einen großen Wagen mit abgedunkelten Scheiben stieg. »Direktor! Direktor!«, rief sie, aber er hörte sie nicht. Sie wollte das Tor passieren und ihn aufhalten, die Wachen hielten sie auf.
»Allegra, bleib hier!«, rief eine scharfe Stimme. Madame Pinot stand hinter ihr. »Was fällt dir ein!«, fuhr sie sie an.
»Ich …«, setzte Allegra an. Sie schielte zu den Wachleuten. Wer wusste schon, wem man hier noch trauen konnte und wem nicht. »Mortensen hat mich gerade angerufen«, flüsterte sie und registrierte befriedigt, dass Madam Pinots Augen für einen Moment ganz groß wurden. »Das wollte ich dem Direktor noch sagen.«
»Was wollte er?«, fragte die Lehrerin ebenso leise, aber mit einem scharfen Unterton.
»Er hat mir ein Ultimatum gestellt. Entweder ich schließe mich ihm an, oder ich bin schuld, wenn«, vor unterdrückter Wut stiegen ihr die Tränen in die Augen, »wenn meine Eltern nicht überleben oder wenn jemandem in der DI noch was passiert.«
Madame Pinot hob eine Hand. »Stopp! Niemand gibt dir die Schuld, Allegra. Lass dir das von Mortensen ja nicht einreden.« Sie überlegte. »Adair geht mit dem Stadtrat essen, da sollten wir nicht stören, schließlich soll er sich für unsere Belange einsetzen. In Kürze findet die von Madame Berger organisierte Versammlung statt. Und sobald Adair zurück ist, solltest du mit ihm sprechen.«
»Er muss mir noch sagen, wie ich meine Eltern in den Traum lotse.«
»Sehr richtig. Das hat er dir versprochen, immerhin ist es eines seiner Spezialgebiete. Ich bin sehr gespannt auf sein Vorgehen. Pass auf, nachher gehst du noch einmal auf Patrouille. Ich komme auch gerne mit. Wir sollten deinen Traum erneut überprüfen, wenn möglich befreien wir noch ein paar Träumende aus Mortensens Fängen, und dann reden wir mit José. In Ordnung? Ich schicke ihm eine Nachricht.«
Allegra nickte. »Ich würde gerne Florentine, Lorenzo und«, sie zögerte, »Jean dabeihaben.« Das war mittlerweile wirklich ihr Team. Dass Arthur nicht dazugehörte, tat weh.
Wie immer, wenn eine Veranstaltung draußen stattfand, wusste Madame Marius offensichtlich früh genug Bescheid, um in Windeseile ein Büfett herzurichten. »Beim Essen sind die Menschen immer eher bereit, zuzuhören«, sagte sie mit einem Lächeln, als sie mit mehreren Gehilfen zwischen zwei Bäumen ein paar Tische aufstellte, mit weißen Tüchern bedeckte und begann, Platten mit rohem Schinken, Käse, Oliven, eingelegtem Gemüse, Melonenspießen und Körbe mit Brot darauf zu verteilen. Sogar ein Apfelkuchen war zu sehen.
Allegra, die nicht wusste, was sie sonst tun sollte, ging ihr zur Hand. Sie stapelte Papierservietten und legte kleine Gabeln aus. Dann stellte sie mit den anderen Stühle zu ein paar Reihen auf. Jean schleppte ein kleines Pult herbei.
»Deswegen geht Adair auch mit dem Stadtrat essen. Dabei redet es sich leichter.« Madame Marius hielt inne und sah Allegra an. »Ich kann mich gut an deine Eltern erinnern. Sie sind ein paar Jahre älter als ich. Wir brauchen sie wieder. Sag ihnen das, wenn du sie findest.« Sie lächelte schief.
»Das mache ich, Madame. Ich hoffe, es dauert nicht mehr lange.«
Für französische Verhältnisse war es zu früh fürs Abendessen, aber gegen ein spontanes Picknick hatte niemand etwas einzuwenden. Zum ersten Mal sah Allegra, wie viele Menschen mittlerweile auf das Akademiegelände gezogen waren. Es mussten gut hundertfünfzig sein: Großeltern, Eltern, Agenten, Kinder, die sich jetzt um die Tische scharten.
»Bedient euch«, sagte Madame Marius und wischte sich die Hände an der weißen Schürze ab, ohne die man sie eigentlich nie sah, »Madame Berger wird gleich beginnen!«
Die meisten blieben mit dem Essen in der Hand einfach stehen, die Älteren suchten sich einen Sitzplatz. Wie auf ein geheimes Zeichen hin stellten sich Florentine, Sabine und Lorenzo neben Allegra.
»Wir haben es schon gehört! Lass dich von diesem Irren ja nicht einschüchtern. Du gehörst zu uns!«, flüsterte Florentine vehement.
»Leichter gesagt als getan«, murmelte Allegra. Plötzlich spürte sie eine warme Hand, die nach ihrer griff. Gabriella war neben ihr aufgetaucht. Allegra lächelte sie an. »Hey, Kleine, wie geht’s dir?«
»Besser. Ich bin jetzt abends bei Freunden von Lorenzo. Die haben ein Baby, total süß! Ich darf es immer auf den Schoß nehmen, und dann schläft es ein.«
»Das ist gut. Wo ist Arthur?« Sie biss sich auf die Lippen. Die Frage war ihr spontan herausgerutscht, sie wollte nicht, dass Gabriella etwas von ihren Problemen mitbekam.
»Dahinten«, antwortete Gabriella und zeigte mit dem Daumen hinter sich. »Er ist mit Dr. Lamartin gekommen, die ist seit vorhin wieder da. Ist sie eigentlich seine Chefin? Immer, wenn sie ruft, rennt er los.«
»Hm«, machte Allegra nur. Es gab tatsächlich wenig, was Gabriella entging.
»Psst«, machte es um sie herum. »Es geht los.«
Allegra drückte Gabriellas Hand. Dann richtete sie ihren Blick nach vorne, wo Madame Berger jetzt die Hände aufs Pult stützte und wartete, bis Ruhe einkehrte.
»Ich grüße Sie alle als Stellvertreterin von José Adair«, begann sie. »Der Direktor und ich haben diese Versammlung einberufen, damit wir Sie informieren können. Die Lage wäre heute fast eskaliert, wir müssen also besprechen, wie wir damit umgehen und weiter vorgehen. Der Direktor lässt sich entschuldigen, er ist just in diesem Moment in einer Besprechung mit dem Stadtrat und wird später mit dem Bürgermeister und ausgewählten Vertretern der Presse zu Abend essen.«
Sie sah einige Momente lang nachdenklich in die Menge. »Viktor Mortensen hat ein Ziel, und er wird nicht aufgeben. Er will die Dream Intelligence. Und, wie wir herausgefunden haben, will er noch weitaus mehr.« Sie ließ einige Details aus, aber sie beschrieb, dass Mortensen nicht vor den Träumen haltmachte, dass er Menschen nach seinem Gutdünken beeinflusste. »Was auch immer man von der DI halten mag – ob sie eine Erneuerung braucht oder nicht –, dieses Vorgehen ist Grund genug, ihn und seine Anhänger zu verdammen!«, rief sie.
»Sie haben versprochen, dass wir hier vor Mortensen sicher sind.«
Diese Stimme kannte sie doch. Allegra drehte den Kopf. Richtig, es war Rupert Walker, der angriffslustig mit seinem Kopf ruckte wie ein Vogel.
»Auf dem Gelände sind Sie das auch, Mr Walker«, sagte Madame Berger gelassen. »Wir möchten Sie deshalb alle bitten, Ihre Besuche in Avignon derzeit auf das Nötigste zu beschränken. Sie können uns gerne Listen geben, wenn Sie etwas brauchen, wir erledigen den Einkauf.«
»Was ist mit denen da draußen? Mit den Journalisten? Wie sollen wir uns verhalten, wenn wir angesprochen werden?«, fragte einer der Väter, der einen Säugling auf dem Arm trug.
»Genau deshalb sind Sie alle hier. Ich möchte Sie und euch daran erinnern, dass wir eine geheime Organisation sind. Nach außen hin sind wir ein sehr teures, privates Collège für höhere Bildung, das auch Familien aufnimmt. Wer sich für Details interessiert oder sich möglicherweise sogar bewerben will, kann sich per E-Mail an uns wenden. Wir haben eine entsprechende Website eingerichtet. Natürlich werden alle Bewerbungen abgelehnt, das wird jedoch erst einmal reichen, um die Bürger von Avignon zu besänftigen, hoffe ich.«
»Aber es wäre auch gut, wenn einige von uns draußen zu sehen wären. Sonst halten die das noch für ein Gefängnis«, warf Lorenzo halblaut ein.
Madame Berger nickte. »Ja, natürlich, Lorenzo. Das haben wir uns auch überlegt. Die, die das Gelände verlassen, werden extra gebrieft. Ohnehin werden wir erst abwarten müssen, was sich heute bei den Gesprächen ergibt. Doch da Mortensen hinter dem ganzen Aufruhr steckt, müssen wir damit rechnen, dass es noch nicht zu Ende ist.«
Murmeln setzte ein. Eine Mutter schimpfte leise mit ihrem Kind, das sich von oben bis unten mit rotem Melonensaft bekleckert hatte.
»Wie kann es sein, dass Allegra Heller nach ihren Eltern sucht, anstatt uns zu helfen? Ich habe gehört, dass Mortensen ihr angeboten hat, zu ihm zu kommen. Dass er sie haben will«, sagte Walker laut. »Und dass er uns dafür in Ruhe lassen wird.«
Schlagartig wurde es still.
Madame Bergers Züge verhärteten sich. »Wo haben Sie das her, Mr Walker?«
Dieser zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme. »Das ist doch egal. Stimmt es denn? Das würde doch ein paar unserer Probleme lösen, wenn die kleine Heller …« Er ließ den unausgesprochenen Vorschlag in der Luft hängen.
Sämtliche Blicke wandten sich Allegra zu. Sie stand stockstill. Hatte Walker gerade ernsthaft vorgeschlagen, sie an Mortensen auszuliefern? Ein Kribbeln wanderte ihren Nacken hinauf. Sie holte Luft und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da kam ihr Madame Berger zuvor.
»Mr Walker«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Ihre Informationen sind nicht korrekt. Und selbst wenn sie es wären, würden wir niemals in Erwägung ziehen, eine der unseren zu verraten. Nichts anderes schlagen Sie hier vor, ist Ihnen das klar? Die Dream Intelligence besitzt Ehre. Und Anstand. Werte, die Mortensen nicht im Ansatz versteht. Allegra Heller ist unverzichtbar im Kampf um die Freiheit unserer Organisation. Und wenn es zudem eine Möglichkeit gibt, ihre Eltern zu retten, die – auch für Sie, Mr Walker! – ihre Seelen im Kampf gegen Viktor Mortensen geopfert haben, so werden wir alles tun, was wir können, um ihr zu helfen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« Jetzt wandte sie sich wieder an alle. »Sie haben es gehört. Wir weichen keinen Millimeter zurück! Alle, die sich hier auf dem Gelände aufhalten, sind unseren Werten und dem Kampf gegen Mortensen verpflichtet. Wer das nicht möchte, dem sei freigestellt, die Akademie Adair zu verlassen. Doch auch außerhalb des Zauns gilt die absolute Geheimhaltung, daran möchte ich hiermit zum letzten Mal erinnern. Ich danke Ihnen.«
Wow. So hatte Allegra Madame Berger noch nie erlebt. Nach außen hin wahrte sie die Beherrschung, doch an ihren Augen konnte man erkennen, dass sie maßlos wütend war. Sie schritt durch die Menge, die sich wie automatisch vor ihr teilte, und legte Allegra die Hand auf den Arm. »Wir haben zu tun«, sagte sie. »Gehen wir.«
Nach dem Trubel draußen war es im Traumsaal geradezu gespenstisch still. Madame Berger hatte rote Flecken auf den Wangen. Allegra ließ sich auf die erstbeste Liege fallen, Lorenzo, Florentine und Sabine standen um sie herum.
»Sie waren großartig, Madame Berger«, sagte Florentine und fasste damit zusammen, was alle dachten.
Die Lehrerin lächelte gezwungen. »Mir wäre es lieber gewesen, wenn es überhaupt keine solche Diskussion gegeben hätte. Aber wir können es uns nicht aussuchen. Dass die Menschen hier Angst haben, ist verständlich. Und dass es Menschen wie Mr Walker gibt, nun …«
Der Mortensen mehr bewundert, als ihm guttut, dachte Allegra im Stillen. Wer weiß, wie lange es ihn noch auf ihrer Seite halten würde. Sie sollten ihn im Auge behalten.
»Wir tun jetzt zwei Dinge«, schlug Madame Berger vor. »Du zeigst mir den Traum, den du gebaut hast – nur von außen, natürlich, aber wir sollten ihn konstant überwachen, und dann nehmen wir uns einmal die französischen Kollegen von Monsieur Schönburg vor. Enkom hat, wie ihr ja wisst, Standorte überall in der Welt, ich könnte mir vorstellen, dass Mortensen sein Netz weitreichend gespannt hat. Ich denke da an jemanden in Mexiko. Und zu unserem Glück ›schläft‹«, sie malte Gänsefüßchen in die Luft, »der gerade.«
Allegras Traum war von einer bläulich funkelnden Schicht überzogen, die man allerdings nur bemerkte, wenn man genau hinsah. Auf den ersten Blick wirkte er unauffällig, reihte sich nahtlos in die Reihen der anderen Träume ein.
Madame Berger ging einmal um ihn herum, hielt probeweise die Hände davor und nickte dann anerkennend. »Wirklich gut gemacht, Allegra. Die Membran ist stabil, ich glaube, daran können wir momentan nichts verbessern.«
»Und Sie wissen bestimmt nicht, wie wir meine Eltern da reinbekommen?« Allegra konnte sich die Frage nicht verkneifen. Es konnte doch nicht sein, dass nur Adair das wusste!
Madame Berger sah sie bedauernd an. »Nein, leider nicht. Sonst hätten wir das schon längst getan, glaub mir. Ich weiß nur, dass José meinte, er habe eine Möglichkeit gefunden. Aber selbst das Wissen darum ist so gefährlich, dass er es für sich behalten hat. Schauen wir uns jetzt also die Enkom-Herren einmal an.«
Je öfter Allegra es tat, desto leichter fiel es ihr. Sie fanden gleich fünf Kollegen von Schönburg, angefangen mit dem Herren aus Mexiko. Gemeinsam mit den anderen shiftete sie die Träume, stabilisierte die Membranen, eine nach der anderen, bis sie schwarze Punkte vor ihren Augen tanzen sah. Als sie aus dem letzten Traum heraustrat, schwankte sie. Und war froh, dass Madame Berger das Ende des Einsatzes erklärte.
Zurück im Traumsaal, blickte sie ungläubig auf ihre Uhr. Sie waren gerade mal zwei Stunden unterwegs gewesen. Es fühlte sich an wie zwei Tage. Auch die anderen wirkten erschöpft. Vor allem bei Florentine merkte man es daran, dass sie nichts sagte. Ihre Freundin, die sonst reden konnte wie ein Wasserfall, verputzte gierig ein großes Stück Schokolade und seufzte dann auf. »Es war, wie Sie befürchtet haben, nicht wahr, Madame? Wie eine Epidemie.«
»Leider«, gab Madame Berger zurück.
»Und für jeden, den wir befreien, manipuliert Mortensen zwei neue«, sagte Lorenzo mit finsterem Blick. »Wie macht er das eigentlich? So viele Sanduhren hat er doch gar nicht.«
»Das ist eine Frage, der wir ebenfalls nachgehen«, erwiderte Madame Berger. »Die Sanduhrenhersteller unterliegen unserer ständigen Kontrolle. Aber sie müssen eine Lücke gefunden haben.«
»Mit den kleinen Sanduhren, die die Agenten nach ihrer Ausbildung bekommen, können keine Teams gehen, oder?«, fragte Allegra und riss eine Packung Nüsse auf.
»Nein. Pro Sanduhr kann ein Agent gehen, mit seinem Anker. Nur mit den großen Sanduhren wie die, die wir hier haben, können mehrere Agenten gleichzeitig sicher die Traumzeit betreten. Doch die Vergabe dieser Sanduhren wird noch strenger reglementiert als bei den kleinen … Wir werden die Erklärung schon finden.«
»Geld«, murmelte Sabine, und die anderen schauten sie überrascht an.
»Wie meinst du das?«
»Mit Geld kannst du fast alles erreichen. Auch, dass ein Glasbläser mehr herstellt, als er offiziell abrechnet«, erläuterte sie achselzuckend.
»Die Glasbläser unterliegen einem Ehrenkodex«, widersprach Madame Berger empört.
»Das taten die Agenten, die Mortensen jetzt folgen, doch auch. Und wir sehen ja, wohin das führt.«
»Die machen das aber nicht für Geld!« Allegra konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen. »Nehmt die von hier. Professor Hammond, Jenny, Sofia … die haben doch Kohle genug!«
»Die schon, aber ich meinte ja auch die Glasbläser. Das sind unterbezahlte Handwerker. Frag mal deinen Freund, der kennt Geldsorgen!«
Allegra spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Willst du damit sagen, dass Arthur …?« Sie funkelte Sabine an.
Sabine hob abwehrend die Hände. »Nein! Ich meine doch nur …«
»Das reicht!«, sagte Madame Berger mit scharfer Stimme. »Unsere Studenten und Agenten sind über jeden Zweifel erhaben. Sie wurden überprüft – und zwar nicht nur einmal.«
Mit hängendem Kopf saß Sabine auf der Liege.
»Ich muss an die frische Luft«, sagte Allegra, drückte sich mit Schwung von der Liege ab und landete auf beiden Füßen.
»Ich komme mit!«, rief Florentine.
»Sie hat recht, weißt du?«, fügte sie hinzu, als sie durch die Haupthalle liefen. Allegra blieb an einer der Wasserfallwände stehen und hielt die Finger unter den kühlen Strahl, warf sich ein paar Tropfen ins Gesicht und wedelte dann mit den Händen, um sie wieder zu trocknen.
»Wer hat womit recht?«, fragte sie.
»Sabine. Es mag ja sein, dass Mortensen und auch seine engsten Anhänger aus innerem Antrieb heraus handeln, aber ansonsten heißt es doch immer: Follow the money. Folge dem Geld. Ach, und dass die Sorentos Probleme haben, das weißt du auch.«
»Aber Arthur würde so was doch nie machen!«
»Das hat Sabine ja auch nicht gemeint. Nur scheint irgendjemand illegal Sanduhren herzustellen. Um diese Tatsache kommst du nicht herum.«
»Wartet!« Lorenzo kam die Treppe herunter, dicht gefolgt von Sabine. Sie schlossen auf, und Sabine sah Allegra eindringlich an. »Es tut mir leid, ich wollte Arthur nicht –«
»Ist okay. Ich habe überreagiert«, unterbrach Allegra sie. »Wahrscheinlich bist du auf der richtigen Spur.«
Jetzt fiel ihr auf, dass niemand außer ihnen zu sehen war. Nur ein paar Kinder spielten lustlos Frisbee auf dem Rasenstück vor einem der Bungalows, die Erwachsenen hatten sich anscheinend alle nach drinnen verzogen. Allegra nahm eine Bewegung am Zaun wahr. »Da sind noch welche«, sagte sie leise. »Hinter den Oleanderbüschen. Sie beobachten uns.«
»Dreht euch nicht um«, warnte Lorenzo. »Wir müssen damit rechnen, dass sie so schnell nicht weggehen werden.«
Die Sonne stand schon tief am Horizont, die Laternen warfen lange Schatten auf die Kieswege. Ein Schwarm Flamingos rauschte über sie hinweg, überquerte die Rhone Richtung Meer.
Allegra warf vorsichtig einen Blick nach rechts, eine Bewegung hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Sie hatte sich nicht getäuscht: Eine Hand streckte sich durch die Gitterstäbe und berührte neugierig einen Traumstab, der dort stand, rüttelte leicht daran. »Hey!«, rief sie und ignorierte Lorenzos gezischtes »Bleib hier!«. Sie rannte zum Zaun und stemmte die Hände in die Hüften. »Entschuldigung«, fuhr sie höflich fort. »Das sind wertvolle Kunstobjekte. Würden Sie sie bitte nicht berühren?«
Die Hand verschwand. Es raschelte.
»Danke.« Allegra blieb weiterhin ruhig, obwohl sie den Eigentümer der Hand am liebsten durch das Gitter gezogen und geschüttelt hätte. Sie drehte sich um und sah, dass Florentine vor unterdrücktem Lachen bebte. Auch Sabine musste grinsen.
Als Allegra wieder bei ihnen stand, sagte Sabine: »Die Stäbe sind einbetoniert. So schnell gehen die nicht kaputt.«
»Trotzdem. Der Freund meiner Schwester hat einen Traumstab mit einem Rasentrimmer zerstört, ist das zu glauben?«
»Das war bestimmt eine Fehlkonstruktion. Normalerweise halten die einen Tornado aus.«
Allegra runzelte die Stirn. »Es war einer von denen, die man zusammenstecken kann.« Sie hatte ihn auf der Reise von Frankreich nach München dabeigehabt, erinnerte sie sich jetzt.
»Ah, das ist etwas anderes. Die sind tatsächlich nicht so stabil wie die Stäbe hier.«
Allegra machte sich einen gedanklichen Knoten ins Taschentuch – sie würde Elena bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen, ob sie als Ersatz einen qualitativ hochwertigeren Stab bekommen hatte.
»Leute, gehen wir in die Mensa? Ich habe von dem Büfett vorhin kaum was gegessen.« Florentine sah die anderen hoffnungsvoll an.
Allegra winkte ab. »Ich würde am liebsten hier am Haupteingang auf Adair warten. Ich will ihn auf keinen Fall verpassen.«
»Das wird noch dauern. Er sitzt vermutlich grad gemütlich beim Essen«, sagte Lorenzo. »Komm doch mit.«
Allegra schüttelte den Kopf. »Ich setze mich vor Corlaeus’ Haus, ich hab jetzt es keine Ruhe zum Essen. Geht ihr mal! Los, macht schon.«
Sie hatte nicht nur keinen Hunger, sie musste auch all die Gedanken, die in ihr herumschwirrten, sortieren. Das konnte sie besser allein. Sie setzte sich vor dem Wächterhäuschen auf den warmen Steinboden und zog die Knie an. Das große, vergitterte Tor war verschlossen. Doch auf der Straße davor war Bewegung. Immer wieder fuhr ein Auto langsam vorbei, und einmal konnte sie das große Objektiv einer Kamera erkennen. Sie ließ schnell den Kopf auf die Knie sinken. Das fehlte noch, dass ihr Bild in irgendeiner Zeitung erschien! Als würde sie eine mentale Liste abhaken, ging sie alles durch, was sie derzeit beschäftigte.
Arthur. Mortensen. Das Telefonat mit Jenny. Elena. Das Ultimatum. Ihre Eltern. Doch sosehr sie sich auch bemühte, die Gedanken wollten sich diesmal einfach nicht sortieren lassen. Sie wehrten sich mit Leibeskräften dagegen, sich ein Etikett verpassen zu lassen – in Arbeit, dringend, kann noch warten, erledigt –, und waren doch nur Hintergrundrauschen vor der Gewissheit, dass ihr die Zeit wie Sand zwischen den Fingern verrann.
Wo blieb der Direktor nur?
Da summte ihr Handy. Eine Nachricht von Arthur traf ein. Adairs Termin ist Fake. Eine Falle! VM! Ich sichere Beweise. Rettet ihn! 43.950852/4.807697 letzte Ortung.
Allegra starrte einen Moment ungläubig auf das Display, dann sprang sie auf. Im selben Moment kamen Madame Pinot, Lorenzo und Florentine aus der Eingangstür gerannt. Florentine hatte ihr Handy in der Hand, Arthur musste die Nachricht an sie alle geschickt haben.
»Wir brauchen ein Auto, schnell!«, rief Allegra einem der Wachmänner zu und zeigte auf die herannahende Truppe. Er wies mit dem Daumen hinter sich. Auf der Rückseite von Corlaeus’ Bungalow standen neben der Reihe mit Fahrrädern auch zwei Autos. Der dunkelgrüne Oldtimer gehörte Corlaeus, das wusste sie. Allegra riss die Türen auf und sprang auf den Rücksitz.
»Schlüssel!«, rief der Wachmann und warf ihn Lorenzo zu, doch der übergab ihn an Madame Pinot. Diese ließ sich auf den Fahrersitz fallen, startete den Motor und wartete nur so lange, bis die Toröffnung gerade so breit war, dass sie hindurchfahren konnte, ohne die Außenspiegel abzurasieren. Dann bog sie mit quietschenden Reifen auf die Straße ein.
»Wo wollte er hin? Wissen wir, wo wir suchen müssen?«, fragte Allegra.
»Hast du die Nachricht nicht verstanden?« Florentine tippte hektisch auf ihrem Handy herum, es erschien eine Karte. »Die letzten Zahlen seiner Nachricht waren Koordinaten. Verdammt, warum dauert das so lange, oh Mann, das Netz ist so langsam, das gibt’s doch nicht. Wartet, jetzt hab ich’s.« Florentine zoomte den Kartenausschnitt heran. »Papstpalast«, verkündete sie düster.
»Geht es etwas genauer?«, fragte Madame Pinot, die Corlaeus’ Auto wie einen Rennwagen lenkte und nicht einmal in den Kurven merklich abbremste.
Florentine fiel gegen Allegra und hielt das Handy über sich. »Sorry. Äh … westliche Ecke! Genauer kann ich’s nicht sagen.«
»Okay, nehmen wir diesen Eingang hier.« Madame Pinot raste an der mittelalterlichen Stadtmauer entlang und hielt direkt vor einem der Stadttore im Halteverbot. Ein Mann in Uniform rannte auf sie zu. »Madame, Sie können hier nicht stehen bleiben.«
»Ein Notfall!«, beschied ihm die kleine Dame kurz, dann rannten sie los. Der Polizist rief ihnen noch irgendetwas hinterher, doch keiner achtete auf ihn. Lorenzo führte sie durch die engen, kopfsteingepflasterten Gassen, hinter ihm drängten sie sich durch die Spaziergänger und Touristenströme in Richtung des Papstpalasts.
»Es dauert ewig, wenn wir ihn dadrin finden wollen«, keuchte Lorenzo und blieb vor einer Hinweistafel stehen, die den Grundriss der riesigen mittelalterlichen Anlage und weitere Informationen zeigte. »Außerdem kommen wir nicht mehr rein, seht ihr? Im Sommer geöffnet von 9 bis 20 Uhr. Sie verkaufen keine Tickets mehr!«
»Können wir Adair nicht anrufen?« Allegra legte den Kopf in den Nacken und sah an der Palastmauer hoch, ließ ihren Blick über die Zinnen und Türme schweifen. Uneinnehmbar wirkte der große Prachtbau, und so war es wohl auch gedacht gewesen. Niemand rannte einfach so hinein. Vor tausend Jahren nicht und heute erst recht nicht.
»Doch, das haben wir schon versucht. Sein Handy ist aus. Oder er hat keinen Empfang«, gab Lorenzo zurück.
»Verdammt!«, sagte Madame Pinot leise, aber inbrünstig. »José …« Sie überlegte einen Moment. »Ich rede mit dem Ticketservice und versuche, hineinzugelangen. Florentine, du kommst mit mir. Ihr zwei bleibt hier. Sucht den Weg und die Gassen rund um den Palast ab.«
Allegra wäre viel lieber mit in den Palast gegangen, aber sie fügte sich.
»Komm mit!« Lorenzo zog sie am Handgelenk. »Wir gehen hier entlang.«
Die gut zwanzig Meter hohen Mauern immer rechts von sich, liefen sie den Weg entlang, der um den Palast herumführte. Es waren nicht mehr so viele Menschen unterwegs wie zur Mittagszeit, dennoch kamen sie nur langsam voran. Vor ihr lief ein Mann, der immer wieder stehen blieb und sich eine große Kamera vors Auge hielt, und unwillkürlich musste Allegra an Quirin denken, der vielleicht inzwischen schon in Avignon eingetroffen war und daran arbeitete, eine sensationelle Story nach Hause zu bringen. Sie hoffte inständig, ihm nicht zu begegnen.
Immer wieder wanderte Allegras Blick an den Mauern hoch. Der helle Stein schimmerte rötlich in der Abenddämmerung, die glaslosen Fensteröffnungen waren dunkel: wie Augen, die alles sahen und doch nichts preisgaben. Über tausend Jahre stand dieser Palast schon, das Mauerwerk bröckelte hier und da, sie konnte erkennen, wo etwas ausgebessert worden war. Über manche Stellen hatte man Gitternetze gehängt, um das Publikum vor herabfallenden Steinen zu schützen.
»Wo kann er sein?«, fragte sie atemlos.
Lorenzo antwortete nicht einmal.
In diesem Moment kam eine Nachricht von Florentine. Sind drin. Nichts.
Verdammt.
Lorenzo stoppte abrupt und hob die Hand. »Hör mal!«, sagt er. »Die Stimme! Das ist er doch! Wo kommt die her?«
Allegra drehte den Kopf nach links und rechts und lauschte. »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd.
»Doch, doch!« Lorenzo trat ein paar Schritte zurück. An der Stelle, an der sie sich befanden, hatte jemand zwischen Weg und Mauer Dutzende Blumentöpfe mit blühendem Oleander platziert, eine Gärtnerei vermutlich: Jede Pflanze zierte ein Preisschild. Er horchte in alle Richtungen, dann legte er den Kopf in den Nacken. »Da!«
Allegra folgte seinem Blick – und erstarrte.
Hoch über ihnen, hinter den Zinnen eines Wachturms, sah sie zwei Männer. Einer von ihnen war tatsächlich Adair, den anderen erkannte sie nicht genau. Sie konnte nicht hören, was sie sagten, doch es sah so aus, als diskutierten sie heftig. Adair gestikulierte, der andere schüttelte vehement den Kopf. Jetzt drückte der Mann Adair mit dem Rücken gegen eine der Zinnen. Allegra sah zwei Hände, die Halt suchend um den Stein griffen.
»Der Typ ist vom Stadtrat. Er ist stellvertretender Bürgermeister, glaube ich. Oh, das sieht nicht gut aus«, keuchte Lorenzo erschrocken, der anscheinend nicht nur Ohren wie ein Luchs, sondern auch Adleraugen besaß. Er zog sein Handy aus der Tasche, wählte und sprach in so schnellem Französisch auf Madame Pinot ein, dass Allegra nur die Hälfte mitbekam. Aber das Wichtigste verstand sie auch so. »Beeilen Sie sich, um Gottes willen!«, klang in jeder Sprache gleich.
»Was tun die da? Sollen wir rufen? Vielleicht können wir den Typen ablenken.«
Lorenzo nickte und formte seine Hände zu einem Trichter. Dann schrie er, so laut er konnte: »Direktor! Direktor! Wir sind hier! Hilfe ist unterwegs!«
Sie konnten erkennen, dass die Worte Wirkung zeigten.
Allerdings nicht bei Adair.
Der Stadtrat warf einen schnellen Blick nach unten und entschwand aus ihrem Blickfeld. »Er haut ab!« Allegra atmete erleichtert auf. Das war noch mal gut gegangen.
Dann kippte José Adair wie in Zeitlupe über die Brüstung.
»Nein!«, schrien Allegra und Lorenzo gleichzeitig auf.
Lorenzo zog sie ruckartig an sich, presste ihr Gesicht an seine Brust.
Den hässlichen dumpfen Aufprall hörte Allegra dennoch.
Sie krampfte die Fäuste um Lorenzos T-Shirt.
»Sieh nicht hin, Allegra!«, warnte Lorenzo, doch sie löste sich von ihm und richtete zitternd ihren Blick auf die Blumentöpfe. Zwischen der Blütenpracht lag José Adair. Sein Gesicht wies einen erstaunten Ausdruck auf, als könne er nicht so recht begreifen, was mit ihm geschah. Wie ein Roboter setzte Allegra einen Fuß vor den anderen, lief zu ihm und kniete neben ihm nieder. Seine Augen waren geöffnet, und er atmete mühsam. Ein blutiges Rinnsal lief ihm aus dem Mundwinkel.
Allegra griff nach seiner Hand, drückte ganz vorsichtig seine Finger. Seine Augen leuchteten auf, als sie sich über ihn beugte. »Sofia«, flüsterte er, dann schlossen sich seine Lider.
Allegra hielt den Atem an.
José Adair, Direktor der Dreamkeeper-Akademie Adair, starb ganz still, ohne einen weiteren Laut von sich zu geben. Einen unendlichen Moment lang konnte Allegra nichts hören, selbst die Vögel hörten auf zu singen.
Durch einen Tränenschleier sah sie nach oben. Zwischen den Zinnen erschien ein Gesicht. »Mörder!«, schrie sie, so laut sie konnte. Dann erkannte sie Madame Pinot, die mit entsetztem Gesichtsausdruck nach unten blickte.
»Er ist tot«, sagte Lorenzo fassungslos. »Unser Direktor …« Mit einem Ärmel wischte er sich über die Augen, doch eine Träne zog eine Spur über seine Wange.
Allegra hielt Adairs Hand fest in ihrer, irgendwie wusste sie, wenn sie ihn jetzt losließ, dann war es für immer. Sie blieb neben ihm sitzen, aus der Ferne war das typische Da-da-dammm, Da-da-dammm eines französischen Krankenwagens zu hören, der sich den Weg durch die Touristen bahnte. »Monsieur Adair«, flüsterte sie, »Sie wollten es mir doch sagen.«
Doch er antwortete nicht. José Adair hatte sein Wissen mit in den Tod genommen.
Jetzt schluchzte sie auf, weinte um Adair, um seine Tochter, um die Akademie – aber vor allem um ihre Eltern, um sich und Elena, darum, dass die letzten Wochen umsonst gewesen waren. Sie spürte kaum, wie Lorenzo sie tröstend in die Arme nahm, und noch weniger bemerkte sie, dass Arthur den Weg entlanggestürmt kam und zusah, wie sie den Kopf an Lorenzos Schulter sinken ließ und sie sich einfach nur hielten.
Auch dass Arthur schweigend den Rückweg antrat, als die Rettungskräfte sich ans Werk machten, bemerkte sie nicht.