12.

Die nächsten zwei Tage verbrachte Allegra in einem Kokon aus Watte. Alles drang nur gedämpft zu ihr durch. Lorenzo hatte sie noch am selben Abend auf die Krankenstation gebracht, wo man ihr etwas gegeben hatte, damit sie schlafen konnte. Sie träumte wirres Zeug, schlug immer wieder die Augen auf, meinte, Arthur zu sehen, dann dämmerte sie wieder weg. Sie ignorierte das Essen, das ihr hingestellt wurde, und starrte vor sich hin. Nicht einmal Florentine konnte sie aus ihrer Erstarrung reißen. Vor ihrem inneren Auge sah sie Adair fallen, immer und immer wieder, und wenn sie es einen Moment lang schaffte, diese Endlosschleife zu unterbrechen, fühlte sie sich wie in diesen grässlichen Tagen vor vier Jahren. Sie hatte Adair verloren – und damit die Hoffnung, ihre Eltern rechtzeitig zu retten.

Am dritten Tag nach Adairs Tod erwachte sie noch vor dem Frühstück, weil jemand in ihrem Zimmer umherging und einen Stuhl mit lautem Knarzen über den Boden schleifte. Schlaftrunken öffnete sie die Augen. »Gabriella«, sagte sie mit belegter Stimme. »Was machst du da?«

Arthurs Schwester sah so aus, wie Allegra sich fühlte. Dunkle Ringe unter den Augen, fleckig verweintes Gesicht. Sie trug ein zerknittertes Sommerkleid, dessen Farben ausgewaschen waren. »Arthur hat gestern zu Mama gesagt, dass wir die Akademie verlassen müssen.«

Allegra richtete sich ruckartig auf. »Was?«

»Ja, weil doch Adair gestorben ist und Madame Lamartin jetzt die Leitung übernimmt, und die Lamartins können uns nicht leiden, und dann kriegen wir keine Aufträge mehr, und Mama und Papa sind eh schon am Ende, und dann muss ich auch weg, obwohl ich es hier so toll finde und ich nicht mehr in eine normale Schule will und –«

»Stopp!« Allegra hob die Hand. »Langsam, langsam, Gabriella. Wieso hat Dr. Lamartin jetzt die Leitung?« Das fehlte ihr noch – die arrogante Ärztin an der Spitze der Akademie Adair? Die hatte doch selbst vor Kurzem noch studiert. Zu ihrer Überraschung gelang es ihr, den Schmerz, der sie eingehüllt hatte, zu verdrängen, und sich auf Gabriella zu konzentrieren.

»Nicht Dr. Lamartin«, widersprach Gabriella, »sondern irgendeine Tante von ihr. Sie heißt Christine, glaube ich.«

»Ah … okay, weiter. Was ist mit euch und der Familie Lamartin?«

»Ich weiß es nicht genau. Aber Arthur hat mit Mama telefoniert und ihr gesagt, dass es vielleicht aus ist, weil er etwas vorhat, was Dr. Lamartin nicht passen wird. Und dann muss er die Akademie hinschmeißen, und ich muss auf eine neue Schule oder so was.«

In Allegra stieg Empörung auf. Nicht nur, dass die Ärztin ihre Beziehung zu Arthur sabotierte: Versuchte sie tatsächlich, die Sorentos in den Ruin zu treiben? Und eine von der Sorte übernahm die Akademie? Das konnte doch nicht wahr sein! »Wo sind deine Eltern jetzt?«

»Beide in Genua. Papa verlässt die Glashütte eigentlich nie, und Mama wollte zu uns kommen, aber Arthur hat ihr gesagt, sie soll es lieber lassen, weil das alles noch schlimmer macht.« Sie zog die Beine in den Schneidersitz, stützte die Ellbogen auf die Knie und sah Allegra hilflos an. »Was sollen wir tun? Ich will nicht weg! Ich hab endlich gelernt, meine Narkolepsie in den Griff zu bekommen, ich muss weiter üben! Und draußen stehen schon wieder ganz viele Leute und schreien rum. Die Polizei war auch schon da. Die wollen übrigens endlich mit dir reden, du bist ja eine Zeugin.«

Allegra rubbelte sich mit dem Zipfel der Bettdecke übers Gesicht. Dann nahm sie Gabriellas Hände in ihre und sah sie ernst an. »Danke, dass du gekommen bist. Ich habe lange genug geheult. Deine kalte Dusche kam genau zur richtigen Zeit.«

»Ist das gut?«, fragte Gabriella unsicher.

»Na ja, gut vielleicht nicht. Aber notwendig.« Allegra schwang die Füße aus dem Bett und sah sich um. »Wo sind meine Klamotten?« Ein Stapel frischer Kleidung lag auf dem kleinen Tisch, anscheinend war Florentine zwischendurch da gewesen. Dankbar schlüpfte Allegra in Jeansshorts und T-Shirt und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Ihre Sneaker standen unter dem Bett. In dem kleinen Bad fand sie einen Waschlappen und eine Gesichtscreme. Sie benutzte beides. Jetzt fehlte ihr eigentlich nur noch ein Kaffee.

»Gehen wir«, sagte sie und legte Gabriella einen Arm um die Schultern. »Ich glaube, ich habe einiges zu tun.«

Als sie das Hauptgebäude verließen, fiel Allegra als Erstes der Lärm auf. Sie blieb mitten auf dem Weg stehen und sah mit einer Mischung aus Faszination und Grauen auf das Bild, das sich ihr bot.

Es war noch viel schlimmer als vorher. Es schien, als hätten sich alle Akademiebewohner vor dem Eingang versammelt. Ihnen gegenüber standen Dutzende aufgebrachte Bürger, Journalisten und mehrere Polizisten. Madame Berger schimpfte laut mit einem der Uniformierten und schüttelte immer wieder den Kopf. Die Agenten hatten das Gittertor diesmal geöffnet, trotzdem traute sich kaum einer der Stadtbewohner näher heran. Eine Journalistin hielt Sabine, die zusammen mit anderen den Weg aufs Gelände versperrte, das Mikrofon unter die Nase, doch sie ließ sich zu keinem Kommentar hinreißen – zumindest nach dem enttäuschten Gesichtsausdruck der Reporterin zu urteilen. In der Menge konnte sie Arthur ausmachen, der mit ernstem Blick auf Madame Pinot einredete.

»Kommst du?«, rief Gabriella und zog Allegra mit sich, bis sie neben Arthur standen.

»Ich kann aber nicht mit der Polizei reden. Was soll ich ihnen denn erzählen? Dass der Stadtrat im Traum manipuliert wurde? Die holen die weiße Jacke und nehmen mich mit«, sagte er gerade.

»Natürlich nicht. Aber dass in den E-Mails, die der Stadtrat Adair geschickt hat, ein versteckter Anhang war, in dem diese Tat angekündigt wurde, das kannst du durchaus erzählen. Und das würde die Behörden auch zufriedenstellen, die fragen sich nämlich, woher wir wussten, dass etwas passieren würde, und dann – ah, Allegra, wie geht es dir?«, wechselte Madame Pinot mitten im Satz das Thema. Ihre Augen glänzten seltsam, als wäre sie einerseits ganz traurig, andererseits aber strahlte sie eine innere Freude aus, die Allegra nicht zuordnen konnte.

»Besser«, sagte Allegra. »Es tut mir leid, dass ich so abgetaucht bin. Ich war …«

»Du standst unter Schock. Das ist verständlich«, winkte Madame Pinot ab. »Ich habe auch deine Schwester angerufen und sie so gut wie möglich beruhigt. Melde dich nachher bei ihr, ja? Aber wenn du jetzt wieder da bist, wäre es gut, ihr beide – du und Arthur – würdet mit der Polizei sprechen.«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Allegra Dr. Lamartin in der Nähe. »Okay. Jetzt gleich?«

»Geht bitte zum Eingang rüber. Aber ihr sprecht nur mit der Polizei, nicht mit der Presse, verstanden?«

»Ich brauche Arthur direkt danach wieder für unser Projekt«, warf Dr. Lamartin ein.

Arthur wurde erst blass, dann rot. »Zuerst helfe ich Allegra. Und das ist mindestens genauso wichtig wie die Aufgaben, die ich für Sie erledige.«

Allegra starrte ihn an. Arthur erwiderte ihren Blick einen Moment lang, darin lag alles, was er nicht sagte. Sehnsucht. Bedauern. Schmerz.

Die Ärztin sah aus, als habe sie auf eine Zitrone gebissen. »Arthur«, sagte sie leise. Warnend.

Allegra legte Arthur die Hand auf den Arm. »Ist schon okay, mach du ruhig, was du –«

»Ich habe gesagt, ich helfe dir. Und wenn mich das meinen Kopf kostet, Doktor, dann ist das so. Manche Dinge gehen vor. Meine Familie hat Jahrhunderte in der DI überdauert, Krisen gemeistert – das wird sicher nicht die letzte sein.«

»Worum geht es hier genau, Arthur?«, fragte Madame Pinot scharf dazwischen.

Dr. Lamartin trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme.

»Um gar nichts«, gab Arthur zurück. »Jetzt nicht mehr.« Damit nahm er Allegra an der Hand und ging mit energischen Schritten in Richtung des blau blinkenden Streifenwagens.

»Kommt danach sofort zu mir! Sofort, hört ihr?«, rief ihnen Madame Pinot noch nach.

Sie passierten das Gittertor und ignorierten sämtliche Mikrofone, die ihnen vor die Nase gehalten wurden. Allegra blickte mit bangem Blick über die Menschenmenge und hoffte nur, dass Quirin nicht darunter war. Einer der Polizisten winkte sie zu sich und bedeutete ihnen, in den Polizeibus zu steigen. Der dort sitzende Kollege stellte sich nicht vor. Er nickte nur, als sie hereinkletterten, und nahm ihre Personalien auf. »Sehr internationale Schule, eh?«, sagte er, während er schrieb. Dann forderte er Arthur auf, die Geschehnisse aus seiner Sicht zu beschreiben.

Allegra kam nicht umhin, Arthur zu bewundern. Er erzählte in einer perfekten Mischung aus Naivität und Ernsthaftigkeit, dass er Adairs Terminkalender überprüft hätte – das sei seine Aufgabe – und dass der Termin aber hätte verschoben werden sollen. Also habe er Madame informiert, und diese habe angesichts der verfahrenen Situation mit der Stadt beschlossen, das Ganze vor Ort zu klären. Jetzt ergänzte Allegra das, was sie gesehen hatte.

»Du bist sicher, dass es kein Unfall war?«, fragte der Polizist streng und tippte gleichzeitig ihre letzten Worte mit.

Allegra nickte. »Ich weiß, es wäre einfacher. Aber es war Mord. Wir konnten von unten sehen, wie Direktor Adair geschubst wurde.«

Er druckte die Zeugenaussagen an Ort und Stelle aus und ließ sie unterschreiben. Dann stutzte er. »Du bist ja minderjährig«, sagte er zu Allegra. »Ich brauche die Unterschrift deiner Eltern.«

Allegra schluckte. »Die sind tot«, sagte sie. »Meine Schwester ist mein …« Sie stolperte über das französische Wort.

»Gesetzlicher Vertreter«, ergänzte Arthur. »Aber sie ist in Deutschland.«

Der Polizist kratzte sich am Kopf. »Eh … nun, darum kümmern wir uns später. Kann ich sie unter deiner deutschen Adresse erreichen?«

Allegra bejahte, damit waren sie vorerst entlassen.

»Uff«, sagte sie leise, als sich das Gitter wieder hinter ihnen schloss.

»Der DI wäre es viel lieber, Adair hätte sich selbst vom Dach gestürzt«, kommentierte Arthur. »So wirbelt das alles sehr viel Staub auf.«

»Der Staub war doch schon vorher in der Luft«, widersprach Allegra, »die Demonstranten, die Journalisten, das war Mortensen, es gehörte alles zu seinem Scheißplan!«

»Stimmt schon. Nur ist die Polizei jetzt direkt an uns interessiert, an Adairs Rolle. Wenn sie herausfinden wollen, warum er getötet wurde, müssen sie ja zwangsläufig untersuchen, was er eigentlich für ein Mensch war und was er für die Akademie war. Ich hoffe, dass unsere Tarnung gut genug ist. Aber jetzt zu dir.« Er nahm Allegras Hand.

Ein kleiner Stromstoß durchfuhr sie, sie spürte Arthurs warme Finger, die leichten Schwielen an den Fingerkuppen, und sah ihn überrascht an. Mit einem Ruck zog er sie unter die tief hängenden Äste einer Weide – den gleichen Baum, in dessen Schutz sie mit Madame Pinot gesprochen hatte, registrierte Allegra am Rande – und sah sie an. Sein Blick verdunkelte sich, seine Augen wurden fast schwarz. »Ich bin es leid, diese Rolle zu spielen«, flüsterte er und presste die Lippen zusammen. »Die Lamartin glaubt, sie kann alles mit mir machen. Es ist Zeit, dass du die Wahrheit erfährst.«

Allegra nickte nur. Was kam jetzt?

»Wo fange ich an? Olive hat mich in der Hand, Allegra. Wenn ich nicht tue, was sie sagt, fliege ich aus der Akademie. Und meine Familie ist finanziell am Ende.«

»So schlimm?«, flüsterte Allegra.

»Bis gestern dachte ich das. Dann habe ich nachgedacht. Ich seh an dir, wie du kämpfst. Meine Schwester hat mal gesagt, dass ihr jemand in ihr Freundebuch geschrieben hat: Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen. Das ist genau das, was du machst. Das bewundere ich so an dir. Jetzt ist die Zeit für mich gekommen, mich zu entscheiden.« Er atmete tief durch. Die ganze Zeit, während er sprach, hielt er ihre Hand fest. »Olive ist ehrgeizig. Wenn sie nicht zur DI gehören würde, würde sie den Nobelpreis anstreben.«

»Was hast du damit zu tun? Erpresst sie dich?«

»Du weißt, dass Gaby krank ist. Sie hat so lange gelitten, also habe ich …« Arthur schluckte. »Ich habe vor einem Jahr ihre Krankenakte manipuliert und sie in ein Forschungsprogramm eingeschleust.«

»Du hast was?« Allegra wusste nicht, ob sie entsetzt oder begeistert sein sollte. Doch irgendwie passte das zu dem Arthur, den sie kannte. Unangepasst, kreativ und im Zweifelsfall auf alle Regeln pfeifend.

»Lass mich ausreden, ja? Sie übt zwar an mentalen Techniken, um die Schlafkrankheit zu beherrschen, das wird aber vermutlich noch ewig dauern. So bekommt sie endlich die teuren Medikamente, die sie braucht, und kann ein geregeltes Leben führen. Zur Schule gehen. Sie hat eine Zukunft in der DI, Allegra! Und jetzt folgt der Haken: Olive hat das rausbekommen. Mit der Familie im Rücken kommst du an jede Art von Information«, sagte er bitter.

»Dr. Lamartin will, dass du ihr hilfst, und wenn nicht, lässt sie dich und Gaby auffliegen? Wie krank ist das denn? Und so jemand kümmert sich um meine Eltern?« Allegra wurde heiß und kalt.

»Die Lamartins sind nicht ohne Grund so erfolgreich. Wer zu dieser Familie gehört, muss funktionieren, muss mehr als nur gesunden Ehrgeiz zeigen. Olive ist richtig gut in dem, was sie tut. Sie arbeitet …« Er holte tief Luft. »Sie arbeitet an einem Heilmittel gegen Traummanipulation. Dabei braucht sie mich. Ich berechne die Formeln. Mathe ist mir schon immer leichtgefallen und –«

»Ihr habt ein Heilmittel?«, unterbrach Allegra erneut. Das war doch eine grandiose Neuigkeit!

»Noch nicht. Aber wir sind nahe dran.« Stolz und Scham mischten sich in seiner Stimme. »Allegra, das ist mehr als geheim. Niemand weiß davon, niemand! Also Adair wusste es. Du sagst keinen Ton, okay?« Sein Griff um ihre Hand wurde fast schmerzhaft.

Allegra nickte hastig. »Ich verspreche es. Aber wenn ihr so weit seid …«

»Dann weißt du es als Erste. Ich sehe ja, wie anstrengend für dich das Behandeln von Träumen ist.« Er zögerte, dann sagte er: »Das ist leider noch nicht alles. Sie will uns auseinanderbringen. Warum, weiß ich nicht genau. Aber das war ihre Bedingung. Ich … ich soll dich sitzen lassen.«

Allegra war einen Moment lang sprachlos. »Sie will was?«, fragte sie schließlich. »Ist sie vielleicht in dich verliebt? Die spinnt doch! Sie ist viel zu alt für dich«, sagte sie empört und vergaß, dass sie eigentlich mehr über das geplante Heilmittel hören wollte.

Arthur verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Ich habe beschlossen, dass ich dieses Spiel satthabe. Du bist mir viel wichtiger, das hat Flo mir klargemacht. Die Kleine hat echt den Durchblick. Und wenn alles den Bach runtergeht, nun, dann werde ich eine andere Lösung finden.«

»Wir werden eine Lösung finden«, korrigierte Allegra leise. Sie legte ihm die Arme um den Hals. »Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Ich wusste ja nicht, was mit dir los ist.«

»Es ist noch nicht zu spät?«, fragte Arthur und sah ihr im Halbdunkel des Baumes in die Augen.

Statt einer Antwort reckte sich Allegra auf die Zehenspitzen, zog seinen Kopf zu sich und presste ihre Lippen auf seine. Eine Welle stieg in ihr hoch und riss sie in einen Strudel, in dem es nur noch sie und Arthur gab und dieses wunderbare Gefühl, das er in ihr auslöste.

»Es ist nicht zu spät«, antwortete sie, als sie beide innehielten, um Luft zu holen. »Du hättest allerdings früher mit mir reden können.«

»Das hat Flo auch gesagt«, unterbrach er sie reumütig.

»Aber du bist das Beste, was mir hier an der Akademie je hätte passieren können.«

Arthur schob sie auf Armeslänge von sich und blickte ihr in die Augen. »Und jetzt erkläre ich dir, wie Adair deine Eltern retten wollte.«

»Du weißt es?« Allegra starrte ihn an, als hätte er Chinesisch gesprochen. Wie viele Bomben würde Arthur heute noch zünden?

»Hm. Ja«, gab Arthur mit einem leichten Lächeln auf den Lippen zu. »Seit heute Morgen um vier.«

»Wie? Ich dachte, Adair hat mit niemandem gesprochen, nicht mal mit Madame Pinot oder mit Corlaeus. Vielleicht hatte er doch keine Lösung? Ach, ich weiß nicht …«

»Ich schon, glaub mir. Ich habe nicht nur Firewalls und Passwörter von Mortensens Leuten geknackt – seit vorgestern Abend habe ich mich durch Adairs Account gearbeitet, durch sämtliche Dateien, die er in den letzten zwei Monaten erstellt hat. Gott sei Dank war er nicht oldschool. Wenn er alles handschriftlich erstellt hätte, hätte ich in sein Büro einbrechen müssen. So musste ich nur in seinen PC einbrechen.« Sein Lächeln wirkte komplizenhaft, als hätten sie beide gerade erfolgreich eine Bank zusammen ausgeraubt.

Allegras Herz klopfte wild. »Wie?«, fragte sie heiser.

»Es ist gefährlich«, warnte Arthur.

»Wie?«, wiederholte Allegra nur.

Doch Arthur schüttelte den Kopf. »Nicht hier«, sagte er, drückte ihr einen weiteren raschen Kuss auf die Lippen. »Zu viele Augen und Ohren. Komm mit in den Traumsaal. Und wir brauchen Florentine.«

Allegra platzte fast vor Ungeduld, aber sie sah ein, dass er recht hatte. Diese zehn Minuten würde sie auch noch aushalten.

Als sie aus dem Schatten des Baumes traten, fiel Allegra auf, dass sich zwar die Situation am Zaun entspannt hatte. Madame Berger hatte anscheinend mehrere Agenten bestimmt, die Interviews geben sollten, darunter Lorenzo, Jean und den alten Monsieur Lambert, und um diese scharte sich jeweils ein Pulk aus Reportern und auch Demonstranten, der Lärmpegel hatte sich merklich gesenkt. Doch der Rest der Akademie war in Aufruhr. Autos standen vor den Bungalows, und sie sah Familien, die wahllos ihr Hab und Gut in den Kofferraum warfen. Ein Mann nagelte die Fenster seines Bungalows zu. Vor dem Hauptgebäude hatte sich eine Schlange gebildet, und Allegra hörte mehrfach den Namen »Berger«.

»Die sind ja völlig verrückt, was soll das denn?«, fragte sie irritiert und war kurzzeitig abgelenkt. »Worauf warten Sie denn?« fragte sie eine Frau, die sich ans Ende der Schlange einreihte.

»Es heißt, Madame Berger gibt Flugtickets aus. Ich will so weit weg wie möglich!«

Allegra und Arthur starrten sich einen Moment an.

»Sehr sinnvoll«, flüsterte Arthur sarkastisch.

»Wenn wir das nicht bald in den Griff bekommen, bricht hier alles zusammen«, sagte Allegra halblaut.

»Wir müssen uns eben beeilen.«

Florentine stand mit Madame Pinot vor dem Eingang zum Hauptgebäude. Als sie Allegra sah, leuchteten ihre Augen auf. »Hey!« Sie umarmte Allegra fest. Als sie sah, dass Arthur und Allegra Händchen hielten, sagte sie nichts, doch ein Lächeln überzog ihr Gesicht.

»Los, los. Ich habe Corlaeus informiert, er ist in Madrid bei Adairs Familie«, sagte Madame Pinot leise.

Allegra sah sich um. Niemand achtete in dem Chaos auf sie, und so huschten sie hinein in die Haupthalle, vorbei an den wartenden, durcheinanderrufenden Menschen und der allgemeinen Panik, die über allem schwebte. Mühsam blendete sie alles um sich herum aus – sie musste sich jetzt auf ihre Mission konzentrieren. Alles andere zählte nicht.

Kaum hatten sie den Saal betreten und die Tür hinter sich verriegelt, konnte Allegra ihre Neugier nicht mehr zähmen. »Ich weiß überhaupt nicht Bescheid. Was hast du rausgefunden? Los, sag schon.«

»Ich glaube, ich beginne besser«, sagte Madame Pinot und lehnte sich gegen eine der Liegen. »José hat sich schon immer mit der Aura der Agenten befasst. Er war als Student einmal fürchterlich in eine Mitstudentin verliebt und überzog ihren Traum damals – so wie du den für deine Eltern – mit einer Auraschicht. Als Zeichen seiner Liebe, damit sie sich beide in ihrem Traum treffen können. Solche Aktionen sind streng verboten, und er wäre damals von der Akademie geflogen, hätte deine Mutter nicht ein flammendes Plädoyer für ihn gehalten. Er hat dann die Finger von so etwas gelassen und nie wieder mit jemandem über Auraforschung gesprochen, aber ich weiß, dass es ihn immer interessiert hat.«

»Stimmt. Er hat darüber Dutzende Dateien angelegt, Notizen gemacht, wissenschaftliche Artikel gesammelt, was weiß ich«, fiel Arthur ungeduldig ein.

»Deswegen wollte er nicht vorher mit mir darüber reden?« Allegra verstand immer noch nicht.

»Er hat mit niemandem, wirklich niemandem, darüber gesprochen.«

»Es gab einen ziemlichen Skandal damals«, ergriff wieder Madame Pinot das Wort. »Wahrscheinlich hatte er Angst, dass alles erneut hochkocht, wenn bekannt wird, wie intensiv er sich noch immer mit dem Thema befasst hat.«

Arthur nickte. »Vor ein paar Tagen, da warst du nicht dabei, hat Dr. Lamartin im Unterricht noch einmal mit uns darüber diskutiert: über die Parallelen zwischen Körper und Geist, zwischen Blut und Aura. Florentine hat noch was über Vampire gesagt, weißt du noch, Flo? Und bei mir fingen die Rädchen an, sich zu drehen. Die Bestätigung habe ich dann in seinen Notizen gefunden. Um es kurz zu machen: Du könntest rund um den Traum Aurapartikel auslegen, eine Spur, sozusagen. Deine Eltern müssten diese erkennen und dann hoffentlich in den Traum finden.«

»Warte. Das hört sich an wie … wie die Brotkrümel bei Hänsel und Gretel. Das kann doch nicht so einfach sein.«

»Na ja, die Sache hat einen Haken –«

»Und deswegen ist die DI auch strikt dagegen«, übernahm Madame Pinot wieder den Faden. »Erstens ist Aura reine Energie, und die sollte man nicht in die erste Ebene freilassen. Zu viel davon zerstört das Gleichgewicht und würde – im schlimmsten Fall – zum Zusammenbruch der Traumebene führen.«

Allegra wurde ein bisschen blass um die Nasenspitze, sie steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Und wie viel zu viel ist, weiß niemand so genau«, ergänzte Arthur.

»Zweitens schwächst du dich damit selbst«, sagte Florentine, die bisher schweigend gelauscht hatte. »Das hat Dr. Lamartin nämlich auch gesagt. Aura bildet sich zwar wieder nach – wie Blut –, aber es dauert und kostet den Körper viel Kraft.«

»Ganz genau.« Madame Pinot nickte. »Und drittens können nicht nur deine Eltern diese Spuren als deine erkennen, sondern vermutlich auch Mortensen und seine Gesellen. Hätten deine Eltern noch genügend Kraft, würden sie den Traum anhand des Rhythmus vermutlich von alleine finden, aber jetzt müssen wir ihnen eine Spur legen und das Risiko eingehen.«

Eine Pause entstand. Allegra sah nach oben, in den künstlichen Himmel, wo die Sterne wie immer blinkten. »Eine andere Möglichkeit haben wir nicht? Dann gehe ich das Risiko ein«, sagte sie. »Meiner Mutter ging es vorgestern schon sehr schlecht, es ist ihre letzte Chance.«

Madame Pinot lächelte und nahm Allegras Hände in ihre. »Ich habe nichts anderes erwartet. Ich sage es ungern, aber heute früh habe ich mit der Klinik in München telefoniert, die Zeit wird tatsächlich knapp. Letzte Nacht mussten sie deine Mutter zwei Mal reanimieren.«

Allegra klammerte ihre Finger um die Hände der alten Dame, ihre Kehle schnürte sich zu. »Weiß Elena davon?«

»Nein. Ich wollte abwarten, ob unser Plan gelingt. Wenn du nicht von alleine aus der Krankenstation gekommen wärst, hätte ich dich eigenhändig geholt.« Damit ging die alte Dame zu den Sanduhren, drehte die rechte um und sah einen Moment lang zu, wie der Sand zu fallen begann. »Florentine, du bist der Anker.«

»In Ordnung.« Florentine positionierte sich so, dass sie die Sanduhr im Blick hatte, und stopfte sich ein Kissen in den Rücken.

»Halt, halt, ich weiß doch noch gar nicht, wie ich das mit der Aura mache«, protestierte Allegra.

»Ich erkläre es dir, wenn wir da sind. Diesmal musst du nichts tun, sondern es einfach aushalten. Ich hoffe, es gelingt mir. Legt euch hin.« Madame Pinot gab jedem eine Fleecedecke, legte sich dann ebenfalls auf die Liege und schloss die Augen.

Allegra sackte der Magen in die Kniekehlen, als sie in der Traumzeit landete. »Du glaubst gar nicht, wie nervös ich bin«, flüsterte sie Arthur zu, der neben ihr im Nebel materialisierte.

»Das wäre ich an deiner Stelle auch.«

»Was sollte das mit dem Aushalten bedeuten?«

Arthur zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, flüsterte er. Schluckte.

Madame Pinot hatte sie direkt zu Allegras Traum geführt.

»Der sieht superschön aus«, hauchte Florentine. »Wenn ich genau hinsehe, kann ich sogar erkennen, wie er schimmert. Wow!«

Auch Arthur starrte mit leuchtenden Augen auf den Traum. »So was sieht man nicht alle Tage«, murmelte er anerkennend.

Das Kompliment tat ihr gut. Allegras Knie hörten auf zu zittern.

»Arthur, du hältst Wache, wir können hier keine Gesellschaft gebrauchen. Ich hätte am liebsten noch zehn Agenten mitgenommen, damit wir hier garantiert ungestört sind, aber das, was wir hier tun, darf nicht allgemein bekannt werden. Also müssen wir es so schaffen. Stell dich vor mich«, forderte Madame Pinot sie auf, und Allegra tat, was sie wollte. »Sehr gut. Also, du weißt, wir Traumwanderer besitzen diese Hülle aus Energie, die uns schützt. Sie gehört untrennbar zu uns. Nun strecke deine Hände aus.«

Allegra gehorchte, ihr Herz klopfte so hart gegen ihre Brust, dass sie meinte, es müsste jeden Moment herausspringen.

»Siehst du, wie es bläulich um deine Haut schimmert?«

»Mhm.«

Madame Pinot streckte zunächst ihre Arme aus und ballte die Fäuste, kurz darauf begann die Aura um ihre Finger herum aufzuleuchten. Sie kniff die Augen konzentriert zusammen, die Aura änderte ihre Farbe, wurde dunkler.

Allegra sah gespannt zu. Sie hatte noch nie gesehen, dass jemand so etwas tat. Aura war blau, Punkt.

Jetzt nahm Madame Pinot Allegras linke Hand in ihre und strich mit den Fingern der freien Hand von Allegras Unterarm über den Handrücken bis zu den Fingerspitzen. Zuerst geschah nichts. Dann fing Allegras Haut, da, wo Madame Pinots Finger und die dunklere Aura sie berührt hatten, an, wie Feuer zu brennen. »Was ist das denn?«, keuchte sie auf und versuchte, ihre Hand wegzuziehen, doch Madame Pinot hielt sie mit eisernem Griff fest. Es fühlte sich an, als würde sie Nägel durch Allegras Haut ziehen. Allegra biss die Zähne zusammen, um nicht erneut aufzuschreien. »Es tut weh, ich weiß. Dein Körper wehrt sich«, murmelte Madame Pinot.

Allegra nickte, Tränen standen ihr in den Augen. Sie blinzelte heftig. »Noch mal«, sagte sie heiser.

Sie wiederholten die Prozedur noch ein halbes Dutzend Mal, Allegra schmerzte der Kiefer, weil sie sich so verkrampfte. Sie hatte das Gefühl, ihr würde die Haut abgezogen. Als Allegra schon glaubte, bei der nächsten Berührung würde sie garantiert ohnmächtig werden, ließ Madame Pinot sie endlich los. Bunte Kreise tanzten vor ihren Augen, sie sah alles nur noch verschwommen.

»Es klappt nicht«, murmelte die alte Lehrerin, und in ihrer Stimme klang etwas mit, das Allegra nicht von ihr kannte. Mutlosigkeit.

»Geht’s?«, fragte Arthur, der stumm Wache gehalten und nur immer wieder besorgte Blicke auf sie geworfen hatte. Er wollte den Arm um sie legen, doch Allegra wich aus. »Nicht anfassen. Oh, das tut weh!«

»Habt ihr auch bemerkt, dass die Sicht dramatisch schlechter geworden ist?« Wie zum Beweis hob Florentine die Hand und hielt sie sich vors Gesicht. »Ich seh meine Finger nur noch verschwommen. Und hier, Allegras Traum ist fast nicht mehr zu sehen. Madame Pinot, wie kommt das denn?«

Die alte Dame drehte sich langsam im Kreis. »Ich bin nicht sicher«, murmelte sie und wedelte mit den Armen, rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, als würde sie die Textur des Nebels erfühlen. Der Nebel, der ihnen sonst nur bis zu den Knien reichte, hatte sich in alle Richtungen ausgebreitet und hüllte alle Träume in ein graues Tuch, verschluckte sie förmlich. »Normalerweise bedeutet das, dass sich in der letzten Stunde unzählige Träume auf einmal aufgelöst haben. Das kommt vor, wenn irgendwo auf der Welt etwas Schreckliches passiert und viele Menschen gleichzeitig aus dem Schlaf gerissen werden, bei einem Erdbeben zum Beispiel.«

Sie sahen sich entsetzt an. Es gab noch eine andere Möglichkeit.

»Oder viele Menschen gleichzeitig sterben«, sprach Arthur schließlich aus, was sie alle dachten.

»Möglich«, sagte Madame Pinot nur. »Es tut mir leid, Allegra. Ab jetzt können wir nur noch beten.«

»Beten hilft bestimmt«, sagte eine spöttische Stimme hinter ihnen. »Nur bringt das erfahrungsgemäß nicht den gewünschten Erfolg. Oder habt ihr andere Erfahrungen gemacht?«

Allegra fuhr herum und erstarrte. Da stand der Eisgraue mit verschränkten Armen, die dunkelrote Kapuze tief in die Stirn gezogen. Oh Scheiße, wie viel hatte er mitbekommen? Jetzt war sie für den Nebel – warum auch immer er entstanden war – geradezu dankbar. Er verbarg ihren Traum.

Arthur ging ein paar Schritte auf den Eisgrauen zu und blickte finster auf ihn herab. »Hauen Sie ab!« Allegra konnte an seinen verkrampften Nackenmuskeln erkennen, dass er wütend war. Für einen Moment hatte er seine Deckung aufgegeben.

»Ich soll dir etwas ausrichten, Allegra«, sagte der Eisgraue leise.

»Ist mir egal«, begann Allegra, doch er unterbrach sie. »Du brauchst einen neuen Strohhut.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, verbeugte er sich und trat zurück, wurde innerhalb von Sekunden vom Nebel verschluckt.

»Was hat er denn damit gemeint?«, fragte Florentine verwirrt. »Wieso will Mortensen, dass du einen Hut kriegst? Hat er jetzt endgültig den Verstand verloren?«

Allegra zuckte mit den Schultern und unterdrückte einen Schmerzenslaut. Jede Bewegung tat weh. »Keine Ahnung. Ich hab überhaupt keine Hüte. So was trage ich nicht.«

»Wir müssen zurück«, sagte Madame Pinot streng. »Ich möchte weitere Begegnungen vermeiden. Keine Sorge, ich werde eine Wache für den Traum organisieren. Notfalls werden wir vier uns abwechseln. Wenn dir zu dieser seltsamen Botschaft etwas einfällt, sag es mir.«

Allegra blieb einfach auf dem Rücken liegen, kaum, dass sie den Übergang in den Traumsaal vollziehen konnte. Verloren. Alles war verloren.

Einer nach dem anderen schlugen sie die Augen auf, als Letztes kehrte Florentine zurück. Sie setzte sich auf und rieb sich übers Gesicht. »Ach, immer wenn ich Anker war, habe ich nach einer Mission derartig Hunger, dass ich eine komplette Tafel Schokolade verdrücken könnte. Und ich meine die großen mit dreihundert Gramm, ihr wisst schon.«

Madame Pinot griff in eine Schublade und gab ihr einen Müsliriegel. Ihre Bewegungen waren hektisch. »Ich muss nachsehen, wie die Situation auf dem Gelände ist«, sagte sie und entriegelte die Tür.

Doch eine sehr große, sehr schmale Frau versperrte ihr den Weg und trat ein. Madame Pinot musste einen Schritt rückwärts machen. Die Frau mochte an die sechzig Jahre alt sein. Sie hatte rötlich grau meliertes Haar, das so kurz geschoren war, dass es wie eine Kappe auf dem Kopf saß. Ihr Gesichtsausdruck war streng, sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Ah, Martine, das dachte ich mir«, sagte sie. Sie stand so dicht vor Madame Pinot, dass sie quasi über die kleine Lehrerin hinwegsprach. »Niemand geht in die Traumwelt, ohne dass ich es persönlich vorher genehmige. Hatte ich mich gestern etwa nicht klar ausgedrückt?«

Florentine und Allegra tauschten einen Blick. »Lamartin«, formte Florentine lautlos mit den Lippen, und Allegra nickte. Das musste die neue Direktorin sein. Toller Einstand!

Madame Pinot blieb ungerührt. »Ich werde nicht jeden Einsatz von dir genehmigen lassen, Christine«, sagte sie mit Nachdruck. »Was ich hier tue, unterliegt der Geheimhaltung. Diese Mission ist von Adair freigegeben. Darauf hast du keinen Einfluss.«

»Seit heute Morgen schon«, entgegnete Madame Lamartin sichtlich wütend. »Und das wusstest du! Der Zugang zum Traumsaal wird eingeschränkt. Es gibt neue Codes.« Jetzt fiel ihr Blick auf Allegra. »Ach, die kleine Heller. Solltest du nicht in München sein und Abschied von deinen Eltern nehmen, anstatt in der Traumwelt herumzugondeln?«

Allegra fiel zur Abwechslung keine passende Entgegnung ein. Sprachlos starrte sie Christine Lamartin an.

»Das ist, das ist richtig gemein! Wissen Sie nicht, was Allegra hier tut?«, fragte Florentine dafür empört und erntete einen eisigen Blick. Eine Antwort war es der Direktorin nicht würdig.

»Ihr seid vorerst suspendiert. Was ihr treibt, ist unerhört. Kein Wunder, dass Direktor Adair –«

»Genug!« sagte Madame Pinot leise, aber man konnte den Stahl in ihrer Stimme hören. »Christine, wir klären das unter vier Augen. Allegra, du bleibst vorerst an der Akademie, wie besprochen. Geht bitte alle drei zur Meditationsstunde, die wird euch jetzt guttun.« Sie schaute auf die Armbanduhr mit dem schwarzen Lederband, das ihr schmales Handgelenk umspannte. »Es ist jetzt zwei Uhr nachmittags. Das heißt, ihr kommt gerade rechtzeitig.«

Die drei brauchten keine erneute Aufforderung. Mit einem letzten wütenden Blick auf Madame Lamartin drängte sich Allegra an ihr vorbei, entschuldigte sich nicht, als sie sie dabei mit der Schulter anrempelte, und rannte davon. Sie war so wütend, dass sie kaum reden konnte.

»Diese blöde … diese absolut blöde …«, keuchte sie in der Eingangshalle und schnappte nach Luft, blieb kurz stehen, um wenigstens halbwegs die Fassung wiederzuerlangen, bevor sie den Trainingsraum betraten. »Wie kann sie nur …« Sie brach mitten im Satz ab.

»Sie ist eine Lamartin«, konstatierte Arthur knapp, dem ebenfalls die Röte ins Gesicht gestiegen war, der sich aber wohlweislich zurückgehalten hatte.

»Ah ja, und du meinst, das entschuldigt alles?«, fragte Florentine mit spitzem Unterton.

»Nein, aber es erklärt einiges«, sagte er und legte Allegra den Arm um die Schultern. Besänftigt war sie nicht, aber zumindest bekam sie wieder Luft.

Im Meditationsraum waren alle Teilnehmer bereits damit beschäftigt, sich Matten zu holen und auszurollen. Allegra sah keinem in die Augen, sie wollte mit niemandem reden. Also streckte sie sich auf einer blauen Matte aus, legte die Hände flach neben sich auf den Boden und versuchte, ihre tobenden Gedanken zu beruhigen. Sie brauchte jetzt einen klaren Kopf. Sie durfte sich nicht so aus der Fassung bringen lassen, von niemandem. Das machte sie angreifbar, das hatte ihr Corlaeus schon tausendmal gesagt.

Lorenzo, der die Sitzung leitete und seine Matte ganz vorne, vor dem Spiegel, ausbreitete, hatte tiefe Schatten unter den Augen. Er war blass, das kleine blaue Vogel-Tattoo, das seine Wange zierte, stach deutlicher hervor als sonst. Er nickte Allegra und den anderen zu, sagte jedoch nichts, schaltete nur die Musik ein, die ihnen helfen sollte, sich zu entspannen.

»Atmen«, flüsterte ihr Arthur zu, der sich neben sie gelegt hatte.

»Mhm.« Zum Beweis, dass sie ihm zuhörte, machte sie drei tiefe Atemzüge, ganz tief in den Bauch hinein, dann wechselte sie die Atemtechnik, konzentrierte sich auf ihr Zwerchfell und merkte nach einer Weile, wie die Gedankenflut sich zurückzog und in ihrem Geist Platz ließ für Klarheit und Stille. Die Angst um ihre Eltern, die Trauer um Laurie und Adair, die Wut über Madame Lamartin, ihre Gefühle für Arthur, alles, womit sie gerade kämpfte, wich zurück in einen weit, weit entfernten Teil ihres Bewusstseins. Der Schmerz in ihren Armen, der in der Traumwelt so real gewesen war, war nur noch wie ein fernes Echo zu spüren.

Allegra tauchte so tief hinab wie nie zuvor, in die Tiefsee der Seele, die nur noch von einzelnen kleinen Gedankensplittern erhellt wurde.

»Dieser Strohhut passt viel besser zu deinem Teint«, flüsterte plötzlich eine Stimme. Allegra blinzelte. Hatte gerade jemand laut gesprochen?

Nein – eine Erinnerung war wie ein Korken an die Oberfläche geploppt. Es war eine Stimme, die sie kannte. Wann hatte sie diesen Satz zum letzten Mal gehört? Wann hatte sie einen Strohhut …? Eine zweite Erinnerung ploppte hoch: Avignon, ein Hutladen. Allegra steht vor einem bodenlangen Spiegel und setzt einen Hut nach dem anderen auf. Neben ihr steht jemand und lacht. Ein bisschen rauchig, von oben herab. Jetzt taucht das Gesicht dazu vor ihr auf. Umrahmt von dunklen Haaren, rot geschminkte Lippen.

Sofia Adair.

Allegra tauchte aus ihrer Trance auf und kam ruckartig zurück in die Gegenwart.

Die Meditationsmusik war verstummt, der Raum war leer. Nur Arthur saß auf einer Matte an der Wand und murmelte auf Englisch in sein Handy, das er ans Ohr gepresst hielt. »Ja, Mama. Ich rufe Miller an. … Ja, gleich. Weißt du, warum er sich so die Kante gegeben hat? Wenn er so betrunken in die Werkstatt geht und mit flüssigem Sand und Feuer hantiert, ist er eine Gefahr für sich und seine Mitarbeiter.« Er lauschte einige Sekunden. »Er kann sich nicht erinnern? Das ist ja seltsam.« Erneut hörte er schweigend zu. »Ich kümmere mich darum.« Er legte mit einem Seufzer das Handy weg und bemerkte erst jetzt, dass Allegra ihn ansah. »Alles okay? Du siehst aus, als würde eine Erscheinung vor dir stehen.«

Allegra schob sich die Haare aus dem Gesicht und räusperte sich. Hatte sie sich das alles eingebildet? Der Laden, die Hüte, Sofia? Nein, kein Zweifel, die Nachricht, die der Eisgraue ihr überbracht hatte, musste von Sofia Adair kommen! Mit ihr war sie vor einigen Wochen beim Shoppen gewesen, und sie hatte Allegra zu einem neuen Hut überredet. Allegra hatte den Strohhut auf den Schrank gelegt, bestimmt hatte er mittlerweile Staub angesetzt. Wie hatte sie das vergessen können? Sie hatte es verdrängt, weil es Sofia gewesen war. Die sie verraten hatte. Aber was hatte die Botschaft zu bedeuten?

»Dass Sofia dich treffen will«, sagte Arthur sofort, als sie ihm von ihrer Erkenntnis berichtete.

Allegra schauderte. Sie konnte nicht vergessen, wie die Sofia, die sie einmal tröstend in den Arm genommen hatte, sich eiskalt neben Viktor Mortensen gestellt und ihm geholfen hatte, vom Akademiegelände zu fliehen. Sie hatte Allegra verraten. Die Akademie. Ihren Vater.

Jetzt war ihr Vater tot.

»Vielleicht ist es das?«, fragte Allegra und schlang die Arme um die angezogenen Knie. »Vielleicht will sie mich wegen ihrem Vater sehen. Weil ich dabei war, als er starb? Aber was will sie schon mit mir reden? Sie hat auch mich verraten.« Nachdenklich starrte sie durch das große Fenster auf eine Reihe Olivenbäume, deren Blätter im Licht silbrig schimmerten. »Oder es ist eine Falle. Sofia gehört schließlich zu Mortensen. Was mach ich denn jetzt?«

»Du sagst Corlaeus Bescheid, würde ich vorschlagen. Frag ihn, ob du dich auf ein Treffen einlassen sollst.«

»Und wenn er Ja sagt? Wo und wann denn? Sie hat mir ja keine weiteren Angaben gemacht.«

Arthur klopfte mit den Fingerknöcheln gegen sein Buch. »Eigentlich schon. Wann warst du mit ihr in dem Laden?«

Allegra überlegte. »Vor ein paar Wochen. Es war nachmittags, so gegen vier, denke ich.«

»Also, wenn ich Sofia wäre, würde ich die nächsten Tage immer um vier dort sein, um zu sehen, ob du ebenfalls auftauchst.« Arthur sah auf sein Handy. »Heute reicht es nicht mehr, es ist schon nach fünf.«

»Gleich morgen dann! Ich muss wissen, was sie will!«

»Aber du gehst nicht allein, ich gehe mit dir. Wie du schon sagtest, es könnte sich auch um eine Falle handeln.«

»Wahrscheinlich sollten wir vorsichtshalber die neue Direktorin um Erlaubnis fragen.« Wirklich ernst meinte sie das nicht.

»Ach, komm schon. Madame Lamartin hätte es am liebsten, wir würden sie fragen, ob wir auf die Toilette dürfen. Wie sie Madame Pinot angemacht hat, ging wirklich zu weit.« Arthur sprang auf und zog Allegra auf die Füße.

»Warte, warte«, bremste Allegra. »Was ist mit dir? Ich will nicht, dass deine Familie darunter leidet, wenn du mir hilfst. Was passiert mit euch, jetzt, wo du dich offen gegen Dr. Lamartin gestellt hast?« Allegra legte ihm die Arme um den Nacken und sah ihm besorgt ins Gesicht.

Arthur lächelte. Er legte kurz seine Stirn an ihre, bevor er sagte: »Dass du in dieser Situation auch noch an meine Familie denken kannst! Wenn das rauskommt, haben wir einen weiteren Sack voller Sorgen. Aber ich denke, dass wir Gaby notfalls auch anders helfen können. Alleine mögen wir Sorentos hilflos sein, aber wir sind dabei, eine neue Glasbläser-Allianz zu schmieden. Zusammen mit einem Münchner Glasbläser und einem Kollegen aus Böhmen. Die haben schon immer großartiges Glas hergestellt. Wenn wir drei zusammenarbeiten, haben wir in der DI einen deutlich besseren Stand, und auch finanziell würde uns das retten. Wartest du noch kurz? Meine Mutter hat mich vorhin gebeten, eben diesen Typen aus München anzurufen. Geht ganz schnell.« Er scrollte sich durch eine Liste und wählte. Es dauerte eine Weile, bis der Angerufene abnahm. Arthur verzog das Gesicht und hielt das Handy auf Armeslänge von sich. »Er redet Deutsch. Verstehst du, was er sagt?« Mit einem Tastendruck aktivierte er den Lautsprecher.

»Die warenda gansalleine«, hörte Allegra jetzt eine Männerstimme lallen. »Ham gerufen. Immermeiname.«

Allegra zuckte die Schultern. »Besoffen? Der redet ganz wirr«, flüsterte sie und übersetzte, so gut sie konnte.

»Mr Miller? Roland Miller, hier ist Arthur Sorento«, sagte Arthur auf Englisch.

»Kennichnich«, kam es zurück.

Arthur verdrehte die Augen und unterbrach die Verbindung. »Muss das jetzt sein?«, fragte er genervt. »Der hat sich doch sonst immer im Griff. Warum säuft er sich denn ausgerechnet heute so zu? Verdammt.« Er steckte das Handy in die Hosentasche. »Dann versuche ich es später noch einmal. Vielleicht hat er seinen Rausch bis dahin ausgeschlafen.«

Hand in Hand traten sie aus dem Hauptgebäude. Wo vorhin noch heftiges Gedränge gewesen war, herrschte jetzt geradezu gespenstische Stille.

»Wo sind denn alle hin?«, fragte Allegra verwundert. Die Autos, die vor den Bungalows geparkt hatten, waren verschwunden. Die Kinder, die auf dem Rasen gespielt hatten, ebenfalls. Nur ein einsamer gelber Ball mit Minions-Aufdruck lag noch unter einem Busch. Die Schlange, die sich von Madame Bergers Büro bis hinaus in den Park gezogen hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Die Stimmung war nicht mehr so aufgeheizt, dafür stand jetzt alle paar Meter jemand wie bei einer Mahnwache. Mit unbewegten Gesichtern starrten sie durch die Büsche. Allegra lief eine Gänsehaut über den Rücken. Das war ja noch gruseliger als der Aufruhr vorher!

»Die meisten wollen in die Akademie nach Peking«, sagte eine leise Stimme neben ihr. Lorenzo war plötzlich aufgetaucht. »Wir haben mit den Vertretern der Stadt Avignon gesprochen, auch mit Journalisten. Einer war besonders hartnäckig, so ein Typ aus München.«

Allegra wurde schlecht.

»Die Stadt hat der Akademie nahegelegt, so schnell wie möglich ein neues Quartier zu suchen. Klar, sie wollen keinen Aufruhr. Da einer aus ihrem Kreis für den Mord an Adair verantwortlich ist, sind die Fronten jetzt wahrscheinlich auch auf alle Zeit verhärtet. Und obwohl wir Traumwanderer hier drinnen am sichersten sind, haben es viele Familien vorgezogen, zu flüchten. Sie glauben, in einer anderen Zeitzone sicher vor Mortensens Zugriff zu sein. Wenn das mal kein Irrtum ist …«

»Und was sagt die neue Direktorin?«

»Die? Die hat sich so laut mit Madame Pinot gestritten, dass es bis in die Mensa zu hören war«, erzählte Lorenzo und grinste schief. Dann nahm er Allegras freie Hand in seine, ignorierte Arthurs zusammengezogene Augenbrauen. »Wie geht es dir?«

Allegra hob die Schultern. »Wie Adair da auf dem Boden lag, das werde ich wohl nie vergessen. Und du?«

»Ich versuche, nicht daran zu denken. Adair war wie ein Vater für mich. Und jetzt … Jetzt habe ich die beiden verloren, die mir an der Akademie am wichtigsten waren.«

»Du hast hier durchaus noch Freunde, Cruz«, sagte Arthur und starrte auf Allegras und Lorenzos verschränkte Hände. »Vorausgesetzt, du lässt meine Freundin los«, fügte er trocken hinzu.

Lorenzo zog seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt, dann nickte er. »Danke, Sorento.«

Seltsam: Immer, wenn es emotional wurde, sprachen sich die beiden mit dem Nachnamen an. War das so eine Jungs-Sache? Ihre Mitschüler in München hatten das auch manchmal gemacht.

»Ich habe übrigens mit Corlaeus gesprochen«, erklärte Lorenzo. »Er fliegt heute von Vilnius nach München, um bei deinen Eltern und deiner Schwester vorbeizuschauen. Dann fliegt er nach Madrid und trifft Adairs Frau.«

»Warum kann eigentlich er nicht die Akademie leiten?«, wollte Allegra wissen.

»Meine Eltern haben mir erzählt, dass er’s wohl angeboten hat. Doch es wurde abgelehnt. Er ist vielen zu unabhängig, denke ich.« Lorenzo sah besorgt zu den schweigenden Beobachtern und senkte seine Stimme noch weiter. »Übrigens hat er dir eine Nachricht geschickt, du solltest mal auf dein Handy schauen.«

Allegra griff in ihre Hosentasche, vergeblich. Dann schlug sie sich mit der Hand an die Stirn. »Es liegt wahrscheinlich noch auf der Krankenstation«, erklärte sie. »Und ich habe mich schon gefragt, warum sich Elena nicht bei mir meldet. Ich befürchte nämlich, dass dieser Journalist aus München … das glaubt ihr mir nicht, das ist …«

»Was?«, fragten beide Jungen gleichzeitig.

»Elenas Freund«, sagte Allegra kläglich.

Lorenzo und Arthur tauschten einen ungläubigen Blick. »Nicht dein Ernst! Deine Schwester datet einen Journalisten?« Lorenzo machte mit dem Kopf eine Bewegung zu den Leuten hinter dem Zaun.

Allegra verdrehte nur die Augen. »Ja. Leider. Und ich kann es ihr nicht mal verübeln, er ist total nett, und sie passen wirklich gut zusammen.«

»Trotzdem«, murmelte Lorenzo. »Was für ein Risiko!«

»Das weiß sie auch. Es war ja nicht abzusehen, dass hier alles so zusammenbricht, dass die Presse darüber berichtet. Also wenn du ihn irgendwo siehst, gib mir sofort ein Zeichen, damit ich untertauchen kann oder so.« Sie beschrieb ihm kurz Quirins Aussehen, um dann festzustellen: »Wo ist eigentlich Florentine?«

»In eurem Haus, soweit ich weiß. Sie wollte dort auf dich warten«, erklärte Lorenzo.

»Wir gehen zu ihr«, schlug Allegra vor. »Kommst du mit? Ich muss dir noch was sagen.« Sie erzählte erneut von Sofias Botschaft.

Lorenzos Gesicht verfinsterte sich. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Mortensen war so scharf darauf, dich auf seine Seite zu ziehen. Und Sofia? Ihr habt sie doch erlebt! Sie würde alles tun, um seine Anerkennung zu gewinnen.«

»Aber jetzt ist vielleicht alles anders. Immerhin hat Mortensen ihren Vater auf dem Gewissen! Sofia ist doch nicht von Grund auf böse«, widersprach Allegra zögernd.

In der Zwischenzeit waren sie beim Bungalow Nummer 23 angekommen. Noch bevor Allegra ihre Hand vor den Scanner halten konnte, riss Florentine die Tür auf und fiel Allegra um den Hals. »Da bist du ja endlich! Ich dachte, du tauchst überhaupt nicht mehr aus deiner Trance auf.«

»Jetzt bin ich ja da«, sagte Allegra und befreite sich vorsichtig aus der Umarmung. »Kommt alle rein, wir müssen überlegen, wie es weitergeht.«

Sie setzten sich um den kleinen Couchtisch herum: Allegra und Arthur auf dem Sofa, und Florentine schob die zwei kleinen Sessel aus ihren Zimmern heran.

Florentine riss eine Tüte Gummibärchen auf. »Wir brauchen Madame Pinot«, sagte sie sofort, nachdem sie gehört hatte, worum es ging. »Corlaeus macht uns einen Kopf kürzer, wenn wir uns alleine mit Sofia treffen. Komm bloß nicht auf dumme Gedanken, Allegra! Lorenzo hat recht, vielleicht ist das nur ein abgekartetes Spiel.«

Allegra, die sich vorhin tatsächlich überlegt hatte, einfach alleine zu gehen, fühlte sich ertappt. »Deswegen erzähl ich es euch ja«, sagte sie leicht schnippisch. »Nur: Wenn wir zu fünft dort auftauchen, wird Sofia ganz bestimmt nicht mit mir reden.«

In diesem Moment läutete Arthurs Handy. »Miller«, sagte er überrascht zu Allegra, bevor er abnahm. »Hallo?« Doch das Gespräch verlief nicht viel besser als das vorherige. »Ich bin es, Arthur. Der Sohn von Barbara Sorento. … Doch, Sie kennen uns. … Aus Genua. … Wir hatten vor zwei Monaten einen gemeinsamen Auftrag … doch, doch, ganz sicher. Schlafen Sie Ihren Rausch aus, Mann, und schauen Sie nach!«

Arthur legte auf und schaute zweifelnd auf sein Display, als könnte er dort die Antwort finden, die er suchte. »Der kennt mich seit Jahren, was hat er bloß mit seinem Kopf gemacht«, murmelte er. »Na, zurück zur Sache. Wo waren wir?« Er sah in die Runde.

»Probleme?«, fragte Lorenzo.

Arthur zuckte mit den Achseln. »Ein Glasbläser mit Gedächtnislücken.«

»Und die hat er, weil …?«

»Er zu viel gesoffen hat!«, sagte Arthur ungeduldig.

Lorenzo verzog das Gesicht. »Oder auch nicht«, murmelte er. »Mir fehlen immer noch ein paar Erinnerungen.«

»Aber wieso?« Arthur sah ihn scharf an. »Ach so« sagte er dann gedehnt. »Wieso sollte Mortensen sich für einen Münchner Glasbläser interessieren? Das willst du doch damit andeuten, oder?«

Florentine schlug mit der Handfläche auf den kleinen Tisch, dass die Tüte hochhüpfte und sich ein Dutzend Gummibärchen über den Tisch verteilten. »Ist doch klar! Mensch, Leute, das ist es!«

Drei Augenpaare sahen sie verdutzt an.

»Wie können so viele von Mortensens Anhängern gleichzeitig in die Traumwelt gehen? Indem sie sich eigene Sanduhren besorgen. Und wo? Bei einem Glasbläser.« Sie steckte sich vier Gummibärchen gleichzeitig in den Mund.

Allegra stützte die Ellbogen auf die Knie und beugte sich vor. »Aber die Sanduhren werden doch kontrolliert. Und hast du nicht gesagt, dass Miller sich mit euch zusammentun will? Da wird er wohl kaum für Mortensen arbeiten«, gab sie zu bedenken.

»Das hält doch Mortensen nicht ab! Und vielleicht arbeitet Miller ja gar nicht freiwillig für ihn.«

»Hm … das könnte natürlich sein. Dann sollte Corlaeus ihn überprüfen, wenn er ohnehin in München ist. Und wir gehen zu Madame Pinot. Ich muss sowieso mein Handy holen. Kommt ihr mit?« Allegra war schon aufgestanden.

Während die anderen bereits in die Mensa gingen, rannte Allegra in die Krankenstation und fand ihr Handy in einer Kiste mit Fundsachen im Flur. Sie scrollte sie durch ihre Messenger-Dienste und sah, dass Elena und Corlaeus ihr diverse Nachrichten hinterlassen hatten. Den Blick aufs Display geheftet, verließ sie die Krankenstation und wandte sich zur Mensa. Hoffentlich würden sie Madame Pinot dort finden.

Ans Treppengeländer gelehnt, hörte sie zuerst die Sprachnachrichten ab. Es war nur wenig dabei, was sie nicht schon wusste. Corlaeus’ weitere Reisepläne – und Elena, die berichtete, dass Quirin wohl an einer spannenden Reportage schrieb. Allegra verdrehte die Augen. Großartig. Die letzte Textnachricht enthielt einen Anhang.

Ein Flugticket nach München. 16:05 Uhr ab Marseille.

Noch ein Ultimatum.

Ultimatum!

Ach du Scheiße!

Ihre Finger öffneten sich ohne ihr Zutun, ihr Handy fiel herunter, klackerte die Stufen hinunter und blieb vor dem Absatz liegen. Bei allem, was in den letzten Tagen geschehen war, hatte sie gar nicht mehr an Mortensens Forderung gedacht. Sechs Stunden hatte er ihr gegeben, und sie hatte sich nicht gemeldet. Was hatte sie damit angerichtet?

Mit zitternden Knien stieg sie die Stufen hinunter und hob ihr Telefon auf. Eine Ecke war abgesplittert, aber es funktionierte noch. Dreimal musste sie ansetzen, vertippte sich, dann endlich baute sich die Verbindung auf.

»Elli?«, sagte sie mit banger Stimme.

»Allegra, endlich! Bist du unterwegs?«

»Ich bin noch in Avignon. Das Ticket ist verfallen, ich hab erst vorhin mein Handy wieder angemacht, es tut mir leid!«

»Guck noch mal drauf. Das ist ein Repeat-Ticket«, sagte Elena. »Es gilt jeden Tag für den gleichen Flug, bis du das Ticket einlöst. Komm morgen! Ich bin grad bei Mama und Papa.« Jetzt brach ihre Stimme. »Alli, sie schaffen es nicht. Die Phasen, in denen wir sie verlieren, werden immer länger. Die Ärzte schleichen nur noch um mich herum, keiner sagt was, keiner hat mehr Hoffnung. Und dann haben sie mir erzählt, dass letzte Nacht jemand versucht hat, in die Klinik einzubrechen. Gott sei Dank hat Ruben Wachen aufstellen lassen, hier kommt niemand rein, aber trotzdem: Ich habe Angst, Allegra!«

»Sag Mama und Papa, dass ich einen Traum für sie gebaut habe! Ich hab versucht, eine Spur zu legen, das hat aber nicht geklappt. Sie müssen ihn ohne mich finden«, drängte Allegra.

»Sie hören mich nicht!«

Allegra konnte die Verzweiflung ihrer Schwester fast mit Händen greifen. Hilflos sah sie sich um. Die Eingangshalle wurde durch die Abendsonne, die durch die Glasfront hereinschien, in ein warmes Licht getaucht. Nach den Wochen, in denen es hier so voll gewesen war, in denen Kinder die Treppe zum Spielplatz umfunktioniert hatten, kam ihr die Stille seltsam vor. Die Gänge lagen verlassen da, das Wasser fiel wie immer fast lautlos von den Wänden, aus der Mensa im ersten Stock klangen gedämpftes Klirren und Gesprächsfetzen. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie flüsternd antwortete: »Halt sie fest, Elena. Bestimmt spüren sie, dass du da bist. Bitte. Und Corlaeus müsste in der nächsten Stunde bei euch sein. Er hat es mir versprochen.«

Es konnte nicht zu spät sein. Es durfte nicht zu spät sein.

In der Mensa saß Madame Pinot bereits mit Lorenzo, Arthur und Florentine zusammen. »Jean und Sabine bewachen deinen Traum«, sagte sie leise, als Allegra sich einen Stuhl heranzog und sich neben sie setzte.

»Willst du etwas essen?«, fragte Arthur, der einen Teller Pasta vor sich hatte und sie im Rekordtempo in sich hineinschaufelte.

Allegra schüttelte den Kopf. »Ich hab keinen Hunger«, sagte sie dumpf und wandte sich an die alte Lehrerin. »Kann ich noch mal rein?«

Madame Pinot nickte. »Unbedingt. Diesmal wird Arthur es versuchen. Ich habe hier jemanden im Auge zu behalten. Vor allem«, fuhr sie in lauterem Ton fort, »solltet ihr bei Meyer das Kapitel siebzehn wiederholen, er diskutiert darin die Beschaffenheit des Nebels. Ich werde euch morgen danach fragen, es ist wichtig!«

Allgemeines Stöhnen war die Antwort.

Allegra starrte zuerst ihre Lehrerin, dann die anderen am Tisch verwirrt an, bis ihr auffiel, dass Direktorin Lamartin am Nachbartisch stand und unverhohlen lauschte. »Meyer schreibt so kryptisch«, stieg sie auf das Ablenkungsmanöver ein. »Madame Pinot, das können Sie uns nicht antun.«

»Ich kann«, sagte die alte Dame. »Und wenn ihr die Grundlagen braucht, geht in die Bibliothek. Es gibt ein sehr gutes Buch von Lindon, das solltet ihr euch anschauen.« Sie sah in die Runde und zwinkerte ihnen zu.

»Dann sollten wir am besten direkt anfangen«, sagte Arthur, schluckte den letzten Bissen herunter und schob seinen Stuhl zurück. »Auf geht’s, Leute, nach den Aufregungen der letzten Tage wird heute Abend gelernt.«

Erneutes Stöhnen folgte, aber brav brachten alle ihr Tablett zurück und marschierten im Gänsemarsch hinaus. Auf der Treppe fingen sie an zu rennen, bis sie keuchend in der Bibliothek zum Stehen kamen. Arthur steuerte die Sitzgruppe im hinteren Bereich an, wo er normalerweise mit Dr. Lamartin arbeitete. Florentine bog kurz davor in eine Regalreihe ab, Allegra hörte sie murmeln. »Keller, Kimmich, Lamartin … ah, da ist er!« Sie setzte sich in einen Sessel, drehte das Buch um sich selbst. »Lindon. Die Physiologie des Nebels. Hm … Wieso sollen wir das lesen?«

Arthur nahm ihr das Buch aus der Hand. »Das hat sie ja nur wegen Madame Lamartin gesagt. Aber …« Er hielt das Buch am Rücken und schüttelte es leicht. Ein kleiner, eng beschriebener Zettel flatterte heraus und segelte auf den Tisch. »Die clevere Madame Pinot«, sagte er beeindruckt. »Sie hat vorgesorgt.«

»Lass mal sehen!« Allegra schnappte sich den Zettel und kniff die Augen zusammen. »Da ist eine Nummer drauf. Zwölfstellig. Eine Telefonnummer?«

»Bestimmt nicht«, sagte Florentine. »Ich schätze eher, das ist ein Kartencode für den Traumsaalscanner. Hast du nicht gehört? Sie will, dass du noch mal gehst.«

»Den hätte ich auch geknackt«, murmelte Arthur.

»Wäre nicht das erste Mal«, grinste Florentine und spielte damit auf den letzten Alleingang der drei Freunde an. »Aber diesmal machen wir es mit Genehmigung von oben.«

Allegra starrte auf die Zahlen, bis sie ihr vor den Augen verschwammen. »Okay. Und habt ihr mit ihr über Sofia reden können?«

»Ja, ganz kurz. Sie ist einverstanden, dass du sie in dem Hutladen triffst. Sicherheitshalber wird sie eine Begleitung für dich organisieren, die dich aus der Ferne beobachtet. Wir gehen kein Risiko ein, aber wenn Sofia wirklich Informationen für dich hat, wollen wir sie haben.«

»Hat Adair nicht noch andere Vorgehensweisen in seinen Notizen gehabt? Wegen der Aura?«

Arthur schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Und Madame Pinot hat es genau so gemacht, wie er es beschrieben hat. Warum es nicht funktioniert, weiß ich auch nicht. Aber ich werde mein Bestes geben, sie hat mir erklärt, was sie gemacht hat.«

Allegra verzog das Gesicht, nickte aber. »Dann los.«

Vorsichtig schlichen sie aus der Bibliothek, warfen immer wieder Blicke nach rechts und links. Arthur tippte den Code ein, und die Tür zum Traumsaal ging geräuschlos auf. »Sesam, öffne dich«, sagte er und trat in den dunklen, nur vom Sternenhimmel erhellten Saal.

Auf den Liegen entdeckten sie Sabine und Jean. Eine der großen Sanduhren war zur Hälfte durchgelaufen. Florentine aktivierte die zweite. »Ich übernehme den Anker«, verkündete sie und legte sich auf die Liege neben Sabine.

Doch obwohl Allegra ihren Traum von innen und außen inspizierte und ihre Erinnerung so gut wie möglich verstärkte – eine Auraspur zu erzeugen gelang ihnen wieder nicht. Irgendwann zog Allegra ihre Hände weg. »Es geht einfach nicht.« Ein letztes Mal sah sie zu ihrem Traum, der schwach leuchtete. Daneben schwebte ein kleiner, unscheinbarer Traum, der offenkundig gerade erst verlassen worden war. Er war zwar dunkel, aber der Traum hatte die Form einer perfekten Kugel, die Membran war noch intakt.

Der Nebel war nach wie vor extrem dicht, sie konnten kaum die Hand vor Augen sehen. »Das ist das einzig Gute daran«, sagte Allegra finster. »Mortensens Leute könnten davorstehen und würden den Traum vermutlich nicht sehen. Aber alles andere ist Mist.«

Sie kehrte schneller als geplant zurück. Um noch die Träume von irgendwelchen Unternehmern oder Politikern anzusehen, geschweige denn sie zu verändern, fehlte ihr die Kraft. Madame Pinot hatte für Jean, Sabine, Arthur und Florentine einen Schichtplan erstellt, damit der Traum trotzdem nicht unbewacht blieb. Vorerst folgte nur Florentine Allegra zurück in die Realität.

Allegra spürte nur noch Hoffnungslosigkeit. »Ich fliege morgen Nachmittag nach Hause«, sagte sie, die Stimme gedämpft, weil sie das Gesicht auf die angezogenen Knie gelegt hatte.

»Wie wäre es, wenn wir Corlaeus anrufen? Sollte der nicht inzwischen bei deiner Schwester sein? Vielleicht hat er einen Rat für uns.« Florentine legte einen Arm um ihre Freundin und drückte sie an sich. »Noch ist nicht alle Hoffnung verloren.«

»Das sagst du so«, murmelte Allegra, ließ sich aber dennoch hochziehen. Und nachdem sie sich vergewissert hatten, dass Madame Lamartin nicht irgendwo stand und die Studenten beobachtete, verließen sie das Hauptgebäude. Mittlerweile war es dunkel geworden. Die Mahnwache stand immer noch reglos da, inzwischen hielt jeder eine gut zwei Meter hohe Fackel in der Hand. Der flackernde Schein warf tanzende Schatten auf ihre Gesichter.

»Das ist ja wie im Mittelalter«, sagte Florentine. »Spinnen die denn komplett?«

Allegra fröstelte trotz der milden Abendluft. »Gehen wir rein. Ich finde das spooky.«

 

»Es tut mir leid, dass ich nicht greifbar war«, kam Corlaeus’ Stimme aus dem Handy. Allegra hatte auf Lautsprecher gestellt. »Aber ihr könnt euch nicht vorstellen, was auch in den anderen Akademien für ein Chaos herrscht. Mortensens Rebellion ist wie eine Epidemie. Und ohne José …« Er seufzte hörbar.

»Dafür haben wir jetzt Madame Lamartin, die alles nur noch schlimmer macht«, sagte Florentine frustriert. Damit war der Damm gebrochen, beide Mädchen redeten sich ihren Frust und ihre Angst von der Seele.

Corlaeus hörte schweigend zu. »Was deine Eltern betrifft, kann ich dir nur wenig Hoffnung machen«, gab er zu. »Ich denke, es ist gut, wenn du morgen nach München kommst. Wir werden uns dort sehen, Elena hat mir euer Gästezimmer angeboten. Was Sofia betrifft: Gut, dass ihr diesmal Hilfe sucht. Elisabeth, also Madame Berger, hat Erfahrung in Undercovermissionen, sie wird das gut machen. Ich bin ehrlich gesagt skeptisch, was Sofias Motive angeht. Wir werden sehen. Und wegen Mortensens Ultimatum mach dir nicht allzu viele Sorgen, Allegra. Deine Eltern werden rund um die Uhr bewacht, alles andere liegt ohnehin nicht in deiner Verantwortung. Mortensen will dir lediglich vermitteln, dass er mächtiger ist als wir. Nun, wir sind noch nicht am Ende.«

»Ich weiß nicht. Sie sollten die Leute sehen, die hier um unser Gelände stehen. Als wären wir Gefangene«, warf Allegra ein.

»Lorenzo hat mir Fotos geschickt, ich bin also im Bilde. Ja, das sieht tatsächlich beängstigend aus. Haltet durch. Christine Lamartin mag nicht besonders sympathisch sein, aber sie ist eine geschickte Verhandlungsführerin.«

»Also diplomatisch ist sie nicht«, murmelte Florentine.

Corlaeus schnaufte. »Lasst sie in Ruhe. Macht ihr euren Job.«

Das Gespräch hatte Allegra wie so oft gutgetan. Die Probleme und Sorgen zu benennen, war an sich schon befreiend. Und Corlaeus strahlte selbst in den schwierigsten Situationen noch eine ansteckende Ruhe aus.

»Weck mich, wenn was ist. Ich passe auf deinen Traum auf von …«, Florentine gähnte, »… drei bis sieben. Danach Frühstück?«

Allegra nickte. Sie zog die Tür ihres Zimmers hinter sich zu und setzte sich aufs Fensterbrett, ließ die Beine nach draußen baumeln. In den Zweigen der großen Kiefer raschelte es, ein Vogel piepste eine schläfrige Warnung, dann war es wieder still.

Wenn sie morgen nach München fuhr, war es vorbei.

Und Mortensen hatte nach vier Jahren endlich sein Ziel erreicht: die Hellers zu besiegen.

Allegra horchte in sich hinein und stellte fest, dass die Verzweiflung einem anderen Gefühl gewichen war.

Einer unbändigen Wut.

Und während sie in die Nacht hinausstarrte und mit den Beinen baumelte, fasste sie einen Plan.