13.

Ein lautes Klopfen riss Allegra aus dem Schlaf. Sie fuhr hoch und wusste einen Augenblick lang nicht, wo sie war. Verwirrt blickte sie sich um, bis sie einen Kopf vor ihrer Fensterscheibe entdeckte. Sie hatte gestern Abend die Vorhänge nicht zugezogen.

»Arthur«, murmelte sie schlaftrunken, krabbelte aus dem Bett und lehnte sich über den Schreibtisch, um das Fenster zu öffnen. Sanftes Licht stahl sich durch die Baumkronen, die Wiesen sahen noch feucht aus. Der Morgen war gerade erst angebrochen. Hinter den Büschen konnte sie die seltsame, stumme Mahnwache rund um das Gelände erkennen. Sie waren tatsächlich immer noch da. Was wollten die eigentlich? Doch Allegra konnte den Gedanken nicht weiterverfolgen, denn es sprudelte aus Arthur hervor, sobald das Fenster offen war: »Steh auf! Ich hab sie. Ich hab sie!«, wiederholte er. Er hatte rote Flecken im Gesicht, war unrasiert, und er konnte kaum sprechen, so aufgeregt war er.

Allegra verstand nur Bahnhof.

»Wen? Was ist los mit dir?«

»Deine Eltern! Ich weiß vielleicht, wo sie sind.«

Allegra fiel fast über ihre eigenen Füße, so schnell rannte sie aus ihrem Zimmer, schlitterte durch das kleine Wohnzimmer und riss die Haustür auf. Arthur nahm sie in die Arme und drückte sie so fest an sich, dass es ihr die Luft nahm. »Ich habe eine Spur!«, sagte er und gab ihr einen Kuss. »Wir müssen zum Traumsaal! Ich erklär dir unterwegs alles.«

In Rekordzeit schlüpfte Allegra in die nächstbesten Klamotten, die sie zu greifen bekam, stieg halb in ihre Sneaker und watschelte mehr, als dass sie ging, zu Arthur zurück. »So, jetzt«, sagte sie, völlig außer Atem.

»Eigentlich hat mich Gabriella draufgebracht«, ratterte Arthur los, während sie nebeneinander den Kiesweg in Richtung Hauptgebäude entlangrannten. »Du weißt doch, dass sie diese teuren Medikamente gegen ihre Schlafkrankheit nimmt, aber dass Lorenzo mit ihr eine Technik entwickelt hat, damit sie es langsam selbst in den Griff bekommt. Die Medikamente schädigen die Membran, wie Drogen das ja zum Beispiel auch tun.«

»Das weiß ich.« Allegra dachte an den Jungen, den sie außerhalb seines Traums aufgefunden hatte.

»Und dann habe ich noch mal mit Miller telefoniert. Ich habe ihn wohl aus dem Schlaf gerissen, er war immer noch ziemlich blau, aber er wusste wieder, wer ich bin. Und ich sage ihm, ich könnte von Avignon aus nächste Woche zu ihm fliegen und erwähne, dass du auch hier bist, und plötzlich ist er ganz still. Und dann sagt er: ›Komisch, ich hab von den Hellers geträumt. Sie haben meinen Namen gerufen. Ich hatte sie fast vergessen.‹ Und bei mir macht es klick. Er hat von ihnen geträumt, Allegra! Was, wenn sie wirklich da waren? Ich wette mein Handy gegen deinen Milchschäumer, dass das kein Zufall ist. Deine Eltern und Miller kennen sich doch, schließlich wohnt er in München. Ich habe Miller gesagt, er soll sich sofort wieder hinlegen. Solange er schläft, sind sie sicher. Er war auch nur ein paar Minuten wach, das müsste der Traum eigentlich aushalten.«

Allegra, die stehen geblieben war, um ihre Schnürsenkel zuzubinden, starrte ihn von unten herauf an. »Du meinst, er schläft, und wir gehen jetzt in seinen Traum, und da sind sie?«

»Ja, das glaube ich.«

Sie zog den Schnürsenkel fest und stand langsam auf. Um die Hoffnung, die so unvermittelt in ihr aufflackerte, nicht hinauszuschreien, biss sie sich auf die Lippen. Stattdessen drückte sie Arthurs Hand.

»Versuchen wir es?«, fragte er leise. In seinen Augen tanzten die vertrauten goldenen Pünktchen. Allegra sah sich selbst in seinen Pupillen, eine leicht verzerrte, schmale Gestalt, mit wildem Haar, das sie vergessen hatte zu bürsten.

»Keine zehn Pferde halten mich davon ab.« Allegra wippte ungeduldig auf ihren Fersen, bis sich die Schiebetür am Eingang quälend langsam öffnete und sie hereinließ. Der Code von Madame Pinot verschaffte ihnen Eintritt in den Traumsaal.

»Madame Berger hat die Kameras ausgeschaltet«, sagte Arthur beiläufig. »Nicht, dass die Lamartin bei ihr im Büro steht und mitbekommt, dass die Sanduhren in Betrieb sind.« Er warf einen Blick auf Florentine und Jean, die reglos auf ihren Liegen lagen.

»Ich frage mich ohnehin, warum die neue Direktorin nicht öfter hier im Traumsaal ist.« Allegra holte sich eine Fleecedecke vom Stapel.

»Christine Lamartin betrachtet die Traumzeit eher von der technischen Seite. Traumwandern ist ihr nicht geheuer, glaube ich«, erläuterte Arthur. »Ich mache den Anker, okay? In der Sanduhr ist zwar noch genügend drin, aber wir nehmen trotzdem sicherheitshalber die andere.« Er aktivierte den großen Flatscreen, der neben dem Projektor in einem Tisch eingelassen war, und tippte darauf herum. »Wenn ich recht habe, müsste Millers Traum Klasse 5 sein, und die Membran … Hm … Das könnte er sein. Oder der hier.« Er wies auf zwei blinkende Dreiecke in einem Meer von unterschiedlich schnell pulsierenden geometrischen Formen. Allegra sah ihm über die Schulter.

»Beide sind in Quadrant R9«, sagte Allegra. »Kannst du uns dorthin führen?«

Arthur runzelte die Stirn. »Ich habe das noch nie gemacht, aber theoretisch weiß ich, wie’s geht.« Sie legten sich nebeneinander, Allegra fasste nach seiner Hand, schloss die Augen und stand einen Atemzug später neben Arthur in der Nebelwelt.

»Bilde ich mir das nur ein, oder wird der Nebel immer noch dichter?«, fragte sie halblaut.

»Stimmt schon.« Arthur klang besorgt. »Aber darum können wir uns gerade nicht kümmern. Jetzt suchen wir Millers Traum. Lass uns in konzentrischen Kreisen gehen und den Radius immer weiter ausdehnen, okay? Nimm meine Hand.«

Langsam, Schritt für Schritt, wanderten sie durch den Nebel, der so undurchsichtig war, dass man direkt vor dem Traum stehen musste, um Einzelheiten in der Membran wahrzunehmen. Viele Träume in diesem Quadranten leuchteten nur ganz schwach, ihre Form war eher unregelmäßig. Nur hier und da erkannte Allegra eine perfekte Kugel.

»Da vorne«, sagte Arthur nach einer Weile gepresst. Sie standen vor einem Traum, dessen Membran einen deutlichen Riss aufwies. Eine dunkle Flüssigkeit, die wie Öl aussah, sickerte heraus und wurde vom Nebel aufgesogen. Sie konnten zusehen, wie der Traum immer mehr an Form verlor.

»Das soll er sein?« Zweifelnd runzelte Allegra die Stirn, beugte sich vor. »Kannst du reinschauen?«

Allegra ließ Arthurs Hand los und trat mit klopfendem Herzen noch einen Schritt näher heran. Doch obwohl die Membran den Blick auf das Innere freigab, erkannte sie nichts Konkretes. Der Traum war bis oben hin angefüllt mit dieser öligen, schwarzen Masse. »Als wäre da flüssiger Teer drin«, sagte sie. »Da ist niemand.«

»Ich fürchte, da war jemand«, murmelte Arthur und zog sie zurück. »Nicht berühren«, warnte er. »So was passiert mit deiner Seele, wenn du zu viel von dem falschen Stoff nimmst. Los, komm weiter.«

Allegra ließ sich mitziehen, drehte sich jedoch noch einmal um. »Du meinst, das Zeug da, das ist seine Seele?« Sie schlug eine Hand vor den Mund. »Das ist ja grauenhaft.« Sie riss den Blick los und war froh, dass Arthur stetig weiterging.

Der nächste Traum, vor dem er haltmachte, war deutlich größer und flackerte von innen orange und rot. »Feuer«, sagte Allegra, als sie hineinblickte. »Und Steine und Sand. Ein Fluss aus Lava.«

»Das passt zu einem Glasbläser, oder? Also ich würde sagen: Treffer!«

»Du bleibst draußen, ich gehe alleine rein«, sagte sie.

Arthur sah sie entsetzt an. »Kommt nicht infrage! Ich komme mit!«

Allegra legte ihre Arme um seinen Nacken und gab ihm einen schnellen Kuss. »Nein. Das ist meine Entscheidung. Wenn was schiefgeht, kehrst du zurück.«

Sie wartete seine Antwort nicht ab, atmete tief durch und trat ohne zu zögern durch die Membran. Eine Wand aus Hitze schlug ihr entgegen, die Luft stank nach Schwefel. Jeder Atemzug war eine Qual. Sie warf einen Blick nach hinten, Arthur war nicht mehr zu sehen. Die Membran hatte sich hinter ihr geschlossen.

An dem Lavastrom entlang lief sie über das steinige Ufer. Es knirschte unter ihren Schuhen: Durch die Hitze hatten sich viele der Steine in Glas verwandelt. Sie kniete sich hin und nahm ein Glasgebilde in die Hand, um es sich genauer anzusehen. Das waren alles lauter kleine gläserne Traumstäbe. Arthur hatte recht: Das musste Millers Traum sein!

»Mama? Papa?«, schrie sie, ohne darauf zu achten, ob Miller sie vielleicht entdecken würde. Sie lief und lief, schrie die Namen ihrer Eltern heraus, bis nur noch ein Keuchen aus ihrer Brust drang und sie erschöpft stehen bleiben musste, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Sie wartete, bis das Brennen in ihrer Kehle nachließ.

Fast hätte sie es übersehen. Ein paar Meter weiter, in einer Kuhle, flackerte etwas am Rande ihres Sichtfeldes.

Flackerte bläulich.

Aura.

Allegra richtete sich ruckartig auf, fixierte die Stelle. Was sie sah, ließ ihr Herz erneut loshämmern. Die Umrisse zweier Menschen. Sie waren farblos, fast durchsichtig, man konnte durch sie hindurch die Steine sehen, auf denen sie lagen.

Sie näherte sich vorsichtig, Schritt für Schritt. Beugte sich hinunter zu ihnen. Sie lagen nebeneinander, die Gesichter einander zugewandt, und hielten sich an den Händen – was Allegra nur erkennen konnte, weil die Aura die Umrisse nachzeichnete. Weder Gesichtszüge noch Kleidung waren auszumachen. »Mama? Papa?«, flüsterte sie.

Sie meinte, einen Seufzer zu hören.

Jetzt streckte sie die Hände aus, berührte vorsichtig die schimmernden Aura-Pünktchen. Es tat nicht weh. Das war gut, oder? Hieß das, dass das eine ihr vertraute Aura war? Oder bedeutete das einfach, dass diese Aura so schwach war, dass sie kaum mehr Schutz bot?

Das Blau, bisher ganz hell, wurde etwas kräftiger, doch selbst in den wenigen Momenten, seit sie da war, waren die beiden schwächer geworden, noch durchsichtiger. Durfte sie hoffen? Oder waren das doch einfach irgendwelche Menschen in Millers Traum?

Allegra straffte die Schultern. Sie musste eine Entscheidung treffen.

Jetzt.

Und nur sie allein.

Wie hatte Madame Pinot gesagt? Lieber die falsche Entscheidung treffen als gar keine.

Sie spreizte die Finger, ließ ihre eigene Aura erglühen und begann, ein Netz um die beiden zu weben. Längs und quer und diagonal, bis ihr schwindlig wurde. Bitte lass es nicht zu spät sein, bitte nicht! Dann schloss sie die Augen und horchte in sich hinein. Suchte den Rhythmus, der sie mit dem Traum, den sie gebaut hatte, verband. Spürte, wie es in ihr anfing zu schwingen. Das war es, sie hatte ihn! Wie ein Leuchtturm in dunkler Nacht wies er ihr den Weg. Jetzt hieß es, die beiden Seelen aus Millers Traum hinaus und ohne weitere Schäden in ihren Traum zu bekommen. Noch einmal wob sie eine glühende Schicht, dann raste sie los, das Netz folgte ihr wie ein lebendiges Wesen, hinaus aus Millers Traum, vorbei an Arthur, der überrascht aufschrie, durch den Nebel. Sie ließ sich leiten von dem vertrauten Rhythmus, tok tok tok, versuchte, alles andere auszublenden. Es dauerte endlos – oder nur wenige Sekunden, sie hätte es nicht genau sagen können, bis sie ihren Traum erreichte.

Aus dem Augenwinkel erkannte sie Florentine, die zur Seite sprang, um nicht mit Allegra zu kollidieren. Ein Schock durchfuhr sie, als sie die Membran passierte, dann prallte sie mit Rücken und Hinterkopf so hart auf den Terrakottafliesen ihrer Erinnerung auf, dass der Schmerz ihren ganzen Körper durchfuhr.

Einen Moment lang konnte Allegra sich nicht mehr bewegen. Das Auranetz explodierte lautlos, die blauen Lichtpünktchen bildeten über ihr an der Decke einen funkelnden Regen, bevor sie sich schließlich auflösten.

Neben sich hörte sie leises Atmen. Allegra drehte mühsam den Kopf und sah sie an. Ein Mann und eine Frau lagen neben ihr. Die beiden hatten immer noch die Hände ineinander verschlungen, ihre Augen waren geschlossen, sie waren abgemagert bis auf die Knochen.

Aber sie waren es.

Ihre Mama, ihr Papa.

Es duftete nach Kaffee und frischen Brötchen.

Allegra meinte, ihr Herz müsste explodieren. Ein Schluchzen bahnte sich seinen Weg ihre Kehle hinauf. Noch nie hatte sich Allegra so sehr ein Telefon gewünscht wie in diesem Augenblick. Was würde sie darum geben, diesen Moment mit Elena zu teilen!

Vorsichtig bewegte sie Hände und Füße, stellte fest, dass sie sich auch in der Traumwelt nichts gebrochen hatte, und stemmte sich auf zitternden Armen hoch, beugte sich über ihre Eltern.

Ihr Vater blinzelte. »Maria«, flüsterte er.

Allegra schnürte es die Kehle zu. »Sie ist hier, Papa. Neben dir.«

Beim Klang ihrer Stimme wandte er ihr den Kopf zu, seine Augen weiteten sich. »Wie?«, krächzte er und hob die Hand, berührte Allegra, die neben ihm kniete, an der Wange. »Alli?«

Tränen tropften auf sein Gesicht, sie nahm seine Hand zwischen ihre. »Ich hab euch gefunden!«, flüsterte sie.

Ihr Vater ließ seinen Blick durch den Raum wandern, dann sah er wieder Allegra an. Und begann zu lächeln. Es veränderte sein eingefallenes Gesicht vollkommen, die tiefen Schatten unter seinen Augen schienen nachzulassen, seine Haut gewann etwas Farbe. »Du hast diesen Traum gebaut«, sagte er staunend. »Du bist eine Agentin geworden.«

Allegra nickte. Ihre Kehle war zugeschnürt, sie brachte keinen Ton heraus.

»Dann hast du unsere letzte Botschaft erhalten.«

Sie nickte erneut und fühlte, wie sich seine Arme um sie schlossen. Ganz, ganz fest drückte ihr Vater sie an sich. Allegra spürte seinen Herzschlag unter ihrer Wange und lächelte unter Tränen.

Jetzt wandte sich ihr Vater seiner Frau zu, die immer noch mit geschlossenen Augen dalag und sich nicht rührte. »Maria«, raunte er. »Wach auf.«

Doch ihre Mutter regte sich nicht.

Allegra holte zitternd Luft, kämpfte den Kloß in ihrem Hals herunter. »Mama«, sagte sie. »Mama!« Verzweifelt sah sie ihren Vater an. »Wieso wacht sie nicht auf?«

»Sie ist fast nicht mehr da«, sagte er leise. Langsam richtete er sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an den Küchenschrank. »Allegra, du bist unglaublich. Ich kann spüren, dass es dein Traum ist. Er tut mir gut.« Liebevoll strich er seiner Frau über den Handrücken. »Wenn sie es schafft, dann hier drin. Hier können wir die Kraft sammeln, um zurückzukehren.« Plötzlich lachte er leise auf. »Du hast an alles gedacht, nicht wahr? Was würde ich für eine echte Tasse Kaffee geben!«

Allegra lächelte unter Tränen. »Wenn ihr wieder zurück seid, koch ich euch eine ganze Kanne!«

»Wo bist du? Wo sind wir? Und Elena? Wie steht es um die Dreamkeeper? Wir haben versucht, über die Träume, in denen wir Schutz gesucht haben, Informationen zu sammeln, aber wir haben nur Bruchstücke erhalten. Und …« Er quetschte es zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Viktor Mortensen?«

Allegra setzte sich ihm im Schneidersitz gegenüber. »Es ist viel passiert, und die Lage ist ernst«, begann sie und gab ihm die Kurzfassung, ließ aber die komplizierte Beziehung von Arthur zu Olive aus, dafür hätte sie nun wirklich zu lange gebraucht.

»Du musst zurück«, sagte ihr Vater, als sie fertig war. »Sofort! Sag Elena Bescheid. Und Ruben und den anderen. Wir werden hier drin eine Weile ausharren müssen, bevor wir zurückkönnen, fürchte ich. Aber die Lamartins sind Spezialisten in allem, was sie tun, also vertraue ich auch der Ärztin.« Er hielt einen Moment inne, ein Schatten flog über sein Gesicht. »José, mein alter Freund, das hast du nicht verdient.«

»Ich komme zurück, sobald ich kann, Papa.«

»Ich weiß, Alli.« Ihr Vater stand auf und zog sie ein zweites Mal in seine Arme. »Du bist gewachsen, meine Kleine.«

Allegra drückte ihn so fest an sich, wie sie es wagte. Er wirkte immer noch sehr zerbrechlich. Sie schmiegte ihre Wange an seine, sah mit bangem Blick zu ihrer regungslosen Mutter hinunter.

»Geh!«, sagte ihr Vater entschieden, klang schon wieder ganz wie der Scout und Agent, der er einmal gewesen war. »Macht diesem schrecklichen Spiel ein Ende, damit die Dreamkeeper wieder eine Zukunft haben.« Damit schob er Allegra sanft von sich.

Allegra warf noch einen letzten Blick zurück, bevor sie den Traum verließ, sie konnte gar nicht genug bekommen vom Anblick ihres Vaters, der sie endlich wieder anlächelte, mit diesem Lächeln, das ihr immer Zuversicht vermittelt hatte, schon seit sie klein war. Dann trat sie hinaus in die Nebelwelt, wo Arthur und Jean auf sie warteten.

»Gott sei Dank!« Arthur kam sofort an ihre Seite gestürzt. Forschend sah er ihr ins Gesicht. »Du hast es geschafft, nicht wahr?«

Allegra nickte. »Du hattest recht. Es war Millers Traum.«

Arthur strahlte.

»Wieso bist du überhaupt hier?«

»Ich bin dein Anker. Du hast mich quasi mitgerissen. Sind sie am Leben?«

»Ja. Fast wäre es zu spät gewesen, und meine Mutter –«

»Ich unterbreche euch ungern, aber ihr müsst zurück. Eure Uhr läuft ab, habe ich vorhin gesehen«, sagte Jean. »Ich halte Wache, Allegra, du kannst ganz beruhigt sein.«

Allegra fiel ihm kurz um den Hals. Bei ihm wusste sie ihre Eltern in sicheren Händen. »Danke!«, sagte sie und katapultierte sich zurück in den Traumsaal. Kaum hatte sie die Augen geöffnet, griff sie auch schon nach ihrem Handy.

»Ich lasse das Ticket verfallen«, verkündete sie ohne Vorrede, als Elena sich meldete.

Kurzes Schweigen folgte, dann ein vorsichtiges: »Alli? Was soll das … Nein! Hast du sie gefunden?«

Und jetzt konnte Allegra nicht mehr an sich halten. »Ja, Elli, ja! Ich hab sie!«

Die folgenden fünf Minuten würden für immer zu den glücklichsten in ihrem Leben gehören. Elena nicht zu enttäuschen, ihr die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihren Eltern zurückgeben zu können, das war sie Elena schuldig nach all den Jahren, die sie sich um ihre kleine Schwester gekümmert hatte.

 

Eine halbe Stunde später versammelte sich der derzeitige Rat der Akademie in Adairs Büro. Madame Berger war als Einzige nicht dabei, sie hatte eine Wachschicht übernommen und war in den Traumsaal geeilt. Bis auf den Duft von Christine Lamartins Parfüm, der in der Luft hing, war Adairs Zimmer unverändert. Allegra sah nach oben zu der Galerie, die um den Raum herumlief und eine Bibliothek beherbergte. Der große Sessel, in dem sie Corlaeus zum ersten Mal gesehen hatte, war heute leer.

Um den schwarzen Konferenztisch saßen Madame Pinot, die Direktorin, Lorenzo sowie Arthur, Allegra und Florentine. Christine Lamartin stellte ein Tablet auf. »Wir schalten den Wächter dazu«, verkündete sie und wischte über den Bildschirm. Corlaeus’ breit lächelndes Gesicht erschien. »Guten Morgen zusammen«, sagte er.

Nachdem alle ihn begrüßt hatten, ergriff Madame Lamartin wieder das Wort. »Die Versammlung auf Antrag von Madame Pinot ist eröffnet. Bitte denken Sie alle daran, dass vor unseren Studenten – auch wenn sie derzeit bereits als Agenten fungieren – nicht alles gesagt werden darf. Grundsätzlich gilt, dass nichts, was hier besprochen wird, diesen Raum verlässt. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Sie sah einen nach dem anderen an und wartete, bis alle ihre Zustimmung signalisiert hatten. »Gut. Martine, Sie haben das Wort. Ich nehme an, es geht um die Zukunft der Akademie und Sie haben einen neuen Standort gefunden?«

Die alte Dame nickte. »Dazu kommen wir gleich. Aber ich möchte mit etwas anderem beginnen. Allegra hat Maria und Stefan Heller gefunden und ihre Seelen in den Traum gerettet, den sie mit mir zusammen gebaut hat.«

Die Direktorin sah ungläubig zuerst sie, dann Corlaeus und zum Schluss Allegra an. »Ist das wahr?«, fragte sie. »Ihr habt ohne mein Wissen einen Traum gebaut? Wart ihr deswegen heimlich im Traumsaal?«

»Das war Adairs Idee«, protestierte Arthur.

»Dich habe ich nicht gefragt!«

»Es wäre besser, du würdest sie erzählen lassen, Christine«, sagte Corlaeus sanft.

Die Direktorin presste die Lippen zusammen, verschränkte die Arme und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Mit einem Nicken bedeutete sie Allegra zu sprechen.

»Arthur hat den entscheidenden Hinweis geliefert. Sie leben«, sagte Allegra und fühlte, wie allein bei diesen Worten Wärme in ihr emporstieg. »Aber ich weiß nicht, ob und wie sie gefahrlos in ihre Körper zurückkehren können.«

»Dazu brauchen wir das Wissen von Olive und deinem Team, Christine«, sagte Corlaeus. »Die Rückkehr der Hellers wird entscheidend sein für die Erneuerung der Dream Intelligence.«

»Noch ist Mortensen nicht besiegt!«, wandte Madame Lamartin bissig ein.

»Ich weiß. Um diesen Kampf zu gewinnen, müssen wir zusammenhalten. Vor allem dürfen uns die Machtkämpfe der DI-Familien nicht mehr im Weg stehen. Das muss ein Ende haben.« Corlaeus’ Stimme war immer lauter geworden, bei den letzten Worten grollte sie geradezu durch den großen Raum und verklang wie ferner Donner.

Allegra starrte Arthur an.

Arthur starrte Corlaeus an.

Madame Pinot sah zufrieden drein.

Lorenzo schwieg.

Madame Lamartin erhob sich und stützte sich mit den Handflächen auf den Tisch. »Ich habe die Leitung der Akademie auf Drängen der DI-Führung übernommen«, sagte sie eisig. »Ich war an diesem Posten nicht interessiert.«

»Das mag sein«, erwiderte Corlaeus ungerührt. »Tatsache ist jedoch, du hast ihn übernommen. Und was du oder jemand aus deiner Familie tut, hat größere Auswirkungen auf alle als bisher. Ich will doch hoffen, dass wir alle das gleiche Ziel haben.«

Damit hatte er Madame Lamartin vorerst zum Schweigen gebracht.

»Die Dreamkeeper brauchen wieder eine Zukunft, hat mein Vater zu mir gesagt«, sagte Allegra leise.

Corlaeus lächelte Allegra an. »Ganz genau.«

»Mortensen gewinnt an Boden, merkt ihr das nicht?« Die Direktorin hatte ihre Fassung zurückgewonnen, jedes Wort war ein Peitschenhieb. »Er hat Adair ermorden lassen, er vertreibt uns aus der Stadt, er hat dafür gesorgt, dass uns niemand mehr vertraut, außerhalb der DI bringt er eine wichtige Persönlichkeit Europas nach der anderen unter seinen Einfluss, spinnt sein Netz. Und ihr haltet die Hellers für die Rettung? Seit Tagen bindet ihr Ressourcen für ihre Rettung, Ressourcen, die wir dringend woanders benötigen könnten. Die Hellers sind nicht entscheidend für diesen Kampf! Ihr lasst euch von euren Emotionen leiten, einen schlimmeren Fehler kann man in einem Kampf gar nicht machen.« Genau wie Corlaeus war Madame Lamartin mit jedem Wort lauter geworden, ihre Stimme wurde so schrill, dass Allegra sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Die Hellers sind nicht entscheidend. Sie schluckte mühsam.

Madame Pinots Miene hatte sich verdüstert, sie klammerte ihre schmalen Finger um die Tischkante, als müsse sie sich mit Gewalt davon abhalten, die Direktorin an den Schultern zu schütteln.

Doch es war Lorenzo, der jetzt das Wort ergriff. »Direktor Adair hat Allegra versprochen, die Hellers zu retten. Sie gehören zu uns, und weil Allegra kämpft, sind sie Teil dieser Schlacht! Und haben Sie vergessen, wofür die beiden sich geopfert haben? Ja, genau, im Kampf gegen Mortensen!« Er atmete heftig aus. »Wir dürfen Mortensen und seine Anhänger nicht unterschätzen«, fuhr er in etwas ruhigerem Ton fort, »und müssen ihm auf verschiedenen Ebenen begegnen. Er strebt nach Macht, er wird die Welt nach seinen Vorstellungen verändern, und nur wir können ihn stoppen. Da er keine neuen Traumwanderer aus dem Hut ziehen kann, will er, dass wir uns ihm anschließen. Dafür macht er Druck. Er hat Madame Reloy, Laurie Harper und Direktor Adair auf dem Gewissen. Alles nur, damit wir aus Angst die Seiten wechseln. Wer außerhalb der Akademie von Nutzen für ihn ist, den manipuliert er im Traum. Wie wir wissen, geht das nicht ohne Nebenwirkungen. Mehrere haben sich bereits das Leben genommen, wir haben in der Traumzeit den verstärkten Nebel gesehen, der entsteht, wenn viele unnatürliche Tode auf einmal stattfinden.«

Das war die Ursache für den verstärkten Nebel? Allegra starrte ihn entsetzt an. Jetzt, wo er es aussprach, klang es noch schlimmer als in ihrer Vorstellung.

»Wir stehen vor einer historischen Niederlage, die Stimmung ist, wie Sie schon sagten, mehr als schlecht. Allegras Eltern sind ein Symbol unseres Kampfes gegen ihn, und ihre Rettung hat deswegen genau die Priorität, die Direktor Adair ihr zugeteilt hat. Gleiches gilt für Allegra. Wenn sie nicht gewesen wäre, säßen wir jetzt alle nicht hier!«

Einige Zeit sagte keiner etwas.

Allegra ließ Lorenzos Worte in sich nachklingen. Er hatte von ihr wie von einer Heldin gesprochen.

Die sie gar nicht sein wollte.

Aber sie hatte ihre Rolle angenommen und musste sie jetzt auch ausfüllen, sonst wäre alles umsonst gewesen.

»Vielleicht haben wir eine Chance«, sagte sie schließlich zögernd. »Sofia Adair hat mich kontaktiert. Ich treffe mich heute Nachmittag mit ihr. Ich arbeite für Sie, Direktorin. Helfen Sie mir, meine Eltern unbeschadet zurückzubekommen. Das ist keine Bedingung, aber eine ernste Bitte. Deal?«

Christine Lamartin schürzte die Lippen und sah Allegra nachdenklich an. Sie schob ihren Stuhl zurück und ging ein paar Schritte zu dem bodentiefen Fenster, das die Sicht auf den Park freigab. Die Strahlen der Morgensonne fielen sanft durch die Zweige der Kiefern und Olivenbäume, die dort seit bestimmt über hundert Jahren standen. Die jedem heißen Sommer, jedem Mistralsturm getrotzt hatten und den Park jedes Jahr mit silbrig-grünem Licht überzogen.

Nach einer Weile drehte die Direktorin sich zu der kleinen Versammlung um. »In Ordnung«, sagte sie. Allegra konnte sehen, wie schwer ihr die nächsten Worte fielen, und doch stockte Madame Lamartin kein einziges Mal. »Martine, Ruben, wir drei arbeiten den Schlachtplan aus. Und euch«, sie wandte sich an Allegra, Florentine und Arthur, »euch danke ich für eure Offenheit und eurer Engagement. Ich nehme an, du willst zurück in deinen Traum, Allegra. Tu das. Lorenzo, Sie haben jetzt Unterricht zu geben. Die Versammlung ist beendet.«

 

»Unser Traum-Bewachungsplan, schau mal!«, sagte Florentine.

Allegra sah gerührt auf die Excel-Liste, die Florentine ihr auf dem Tablet präsentierte.

»Das tut ihr alles für mich?«, fragte Allegra und hatte schon wieder einen dicken Kloß in der Kehle. Die nächsten Tage und Nächte waren minutiös zwischen Florentine, Jean, Sabine, Lorenzo und Arthur aufgeteilt.

»Na klar! Und jetzt komm!«

Auf dem Weg zum Traumsaal stellte Allegra fest, dass ihre Knie nicht mehr zitterten. Und dass die Beklemmung, die ihr Herz die letzten Wochen zerdrückt hatte, etwas lockerer geworden war.

»Ich muss noch kurz nach Gabriella sehen«, sagte Arthur, als sie in der Eingangshalle standen. »Sie hat immer noch Angst, dass sie die Akademie verlassen muss. Ich glaube, diese Gefahr ist gebannt, das möchte ich ihr gerne sagen.«

»Dann kann sie weiter mit Lorenzo trainieren, das tut ihr wirklich gut.« Allegra lächelte den Spanier an.

Der nickte ernst. »Du hast eine begabte kleine Schwester, Sorento. Wenn sie älter ist, wird sie eine sehr gute Traumagentin werden. Sie sieht die Dinge mit großer Klarheit.«

Arthur sah Lorenzo überrascht an und lächelte dann. Er zog Allegra an sich. »Pass auf dich auf«, flüsterte er ihr ins Haar.

»Immer«, gab sie mit einem Lächeln zurück. Durch die gläserne Eingangstür sah sie eine unbewegliche Gestalt vor dem vergitterten Akademietor stehen, die Hand am Fackelstab wie ein mittelalterlicher Torwächter. »Diese Typen sind immer noch da. Also diese schweigende Truppe mit ihren Fackeln ist wirklich beängstigender, als wenn halb Avignon vor unserem Gelände eine Demo abhält, findet ihr nicht?«

»Als wenn sie dafür sorgen müssten, dass niemand von uns die Akademie verlässt.« Florentine stemmte die Hände in die Hüften und blickte besorgt in die Dunkelheit.

»Ignoriert sie einfach!« Lorenzo zuckte mit den Schultern. »Sie können euch nichts anhaben da draußen. Das sind nur Handlanger, die haben ja keine Ahnung von uns.«

Doch Allegra hatte das Gefühl, dass die da draußen sehr wohl wussten, was sie taten.

Ihr Ausflug in die Nebelwelt brachte sie auf andere Gedanken. Kaum an ihrem Ziel angekommen, winkte sie Sabine und Jean zu, die in entgegengesetzten Kreisen um den Traum patrouillierten. Sie beobachtete einen Moment lang den bläulichen Schimmer, der den Traum umtanzte. »Alles in Ordnung?«

»Ja. Mir ist es ein bisschen zu ruhig«, bemerkte Jean. »Wie sieht es draußen aus?«

»Geh!«, drängte Florentine. »Ich erzähle den beiden, was es Neues gibt.«

Allegra überlegte kurz, ob sie einfach nur von außen hineinsehen sollte, aber die Sehnsucht war zu stark. Sie hob die Hände, fühlte, wie die Aura über ihre Fingerspitzen kribbelte, dann trat sie in ihren Traum.

Ihr Vater saß mit ausgestreckten Beinen an einen Küchenschrank gelehnt, seine Frau hatte er an sich gezogen, sodass sie mit dem Rücken an seiner Brust lehnte. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr. Als Allegra vor ihm auftauchte, weiteten sich seine Augen erschrocken, doch der Blick wich einem liebevollen Lächeln, als er sie erkannte.

»Mama?«, fragte Allegra zaghaft, aber ihr Vater schüttelte den Kopf. »Noch nichts. Ihre Seele hat sich ganz klein gemacht. Siehst du?« Er hob die Hand ihrer Mutter an, und Allegra konnte sehen, dass die Haut wieder ganz blass war, sie wirkte fast durchscheinend. »Wir sind hier drin zwar sicher vor dem Nebel, aber dennoch: Wenn deine Mutter überleben soll, müssen wir so schnell wie möglich zurück.«

Allegra kniete sich neben ihn und strich ihrer Mutter mit zitternden Fingern sanft über den Handrücken. »Corlaeus ist bei euch in der Klinik und Dr. Lamartin auch. Haltet durch, bitte!«

»Holt Maria als Erste«, forderte ihr Vater. »Ich halte es hier auch noch länger aus.« Tatsächlich hatte er kaum noch Ähnlichkeit mit dem geisterhaften Wesen, das er noch vor wenigen Stunden gewesen war. »Die letzten Tage waren hart«, sagte er leise und fuhr sich mit einer Hand durch seine dunklen Haare, in denen mehr Grau zu sehen war, als Allegra in Erinnerung hatte. »Wir wussten manchmal nicht mehr, wer wir waren. Ich habe sie beschützt, so gut ich konnte. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.«

»Diesen Gedanken darfst du nicht mal denken, Papa!«, sagte Allegra streng.

Über sein Gesicht flog ein Schatten. »Wir sind von Traum zu Traum geirrt in dem Wissen, dass unser Weg einmal im Nebel enden würde. Einfach so. Deine Mutter war – ist«, verbesserte er sich schnell, »– eine unglaublich starke Agentin. Aber die Traumreste kriechen in dich hinein, fressen dich von innen auf, bis nichts mehr von dir übrig bleibt.« Er legte vorsichtig sein Kinn auf die Schulter seiner Frau. »Die Hoffnung nicht zu verlieren, jedes Mal ins Ungewisse weiterzugehen, das war das Schwerste.«

»Ich habe ein Bild von Elena in meinem Zimmer«, begann Allegra leise. »Sie hat es mir gegeben, als ich das erste Mal an die Akademie gerufen wurde. Immer, wenn es mir schlecht geht, schaue ich es an. Es gibt mir Kraft. Und weißt du, warum das so ist, Papa?«

Ihr Vater sah sie fragend an.

»In dem Bild ist all das drin, was wir sind. Du und Mama, ich und Elena. Unsere Familie. Warte.« Sie schloss die Augen und stellte sich das Bild vor. Es bestand aus Lila- und Orangetönen, ein intensives, sonnenleuchtendes Farbenspiel. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Wanduhr über dem kleinen Küchentisch, an dem sie früher immer gefrühstückt hatten, verschwunden. Stattdessen hing dort nun Elenas kleines Gemälde.

»Unglaublich«, flüsterte ihr Vater. »Du hast die Gabe deiner Urgroßmutter geerbt. Ich habe es mir schon gedacht, als mir klar wurde, dass du diesen Traum kreiert hast, aber es so zu sehen, ist etwas ganz anderes.«

»Sie war eine Shifterin?«, fragte Allegra neugierig.

»Das war sie. Meine Eltern haben mir davon erzählt, ich habe sie leider nie kennengelernt. Sie starb schon recht früh.« Er schüttelte staunend den Kopf. »Deine Mutter wird ausflippen, wenn sie von deiner Gabe erfährt.« Die Zuversicht in seiner Stimme ließ Allegra mehr als alles andere aufatmen. Das hieß, dass er fest damit rechnete, sie wieder in die Realität zurückholen zu können.

 

»Déjà-vu«, murmelte Lorenzo.

Allegra saß wieder mit ihm im Fond des großen Oldtimers.

»Hoffentlich nicht«, gab Allegra zurück.

Sie hatten beschlossen, dass Allegra und Lorenzo Sofia gegenübertreten würden. Madame Pinot, Madame Berger und noch drei weitere Agenten hatten sich bereits vorab in der Nähe des kleinen Hutladens postiert und behielten Vorder- und Hintereingang sowie die umliegenden Gassen im Blick.

Sobald der Wagen anhielt, sprang Allegra aus dem Auto. Sie warf wachsame Blicke nach links und rechts, doch Sofia war nirgends zu sehen. Eine kleine Glocke bimmelte, als sie die Ladentür aufstieß. Innen herrschte Dämmerlicht, die Rollos waren heruntergelassen, um die Hitze auszuschließen, die sämtliche Wände Avignons ausstrahlten. Es gab zwei Umkleidekabinen – der Laden bot noch diverse Outfits zu den Hüten an – und einen bodenlangen Spiegel. An einer Seite stand ein kleines Biedermeiertischchen mit zwei Stühlen. Lorenzo ließ sich auf einem nieder. »Du kannst ja mal diesen Hut anprobieren«, schlug er vor und wies auf einen breitkrempigen Strohhut mit einer großen Stoffblume an der Krempe. Gleichzeitig setzte er sich ein kleines Headset auf und stöpselte ein dünnes Kabel in sein Handy. »Test. Test. Bereit«, murmelte er.

Allegra, die die Anweisung erhalten hatte, sich wie eine normale Kundin zu benehmen, warf ihm einen angespannten Blick zu, nahm aber den Hut vom Haken und setzte ihn auf. Sie drehte ihren Kopf hin und her, setzte den Hut noch etwas schräger auf und lächelte ihr Spiegelbild an.

Die Türglocke bimmelte erneut.

Eine große Frau mit Sonnenbrille auf der Nase trat ein und schloss mit einer routinierten Bewegung die Tür von innen ab. »Der Hut steht dir nicht«, sagte Sofia Adair und schob die Brille in ihre schwarzen Haare hoch. Missbilligend sah sie Allegra an. Kurz streifte ihr Blick Lorenzo, doch sie nahm ihn nicht weiter zur Kenntnis.

Lorenzo rührte sich nicht. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und saß da wie eine Statue. Nur seine blitzenden Augen verrieten, dass er sich seiner Exfreundin sehr wohl bewusst war.

»Sofia«, sagte Allegra langsam. Ihr Herz klopfte wild. Jetzt würde sich herausstellen, ob Sofia ihnen eine Falle gestellt hatte.

»Schön, schön. Ich hatte schon befürchtet, dass du meine Nachricht nicht verstehst.«

Allegra nahm den Hut vom Kopf, verschränkte die Arme und musterte ihre ehemalige Mentorin. Sofia Adair trug einen hellen Jumpsuit mit Spaghettiträgern, wie immer war sie perfekt geschminkt. Ein Duft nach teurem Parfüm umwehte sie. Es erfüllte den ganzen Raum und schaffte es, den etwas muffigen Geruch nach Stoff, Leder und Stroh zu überlagern, der so typisch für diese kleinen Läden war. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Allegra, dass sich scharfe Falten von ihren Mundwinkeln in Richtung Nase zogen. Dort, wo ihre Haut nicht mit Make-up bedeckt war, schimmerte sie fahl. Ihr Blick wanderte rastlos hin und her. Mit anderen Worten: Sofia Adair ging es nicht gut.

»Wo ist mein Vater?«, fragte sie.

»La morgue. Leichenschauhaus«, antwortete Allegra knapp. »Was willst du von mir?«

Sofia betrachtete sich im Spiegel. Sie zog einen Lippenstift hervor und zog die Konturen ihrer Lippen in knalligem Rot nach. »Ich will zurück«, sagte sie dann.

»Die DI wird dich nicht zurückhaben wollen. Du hast uns alle verraten.« Allegra war stolz darauf, den Satz ohne Stocken hervorgebracht zu haben. Noch vor zwei Stunden hatte sie mit der Direktorin diverse Gesprächsvarianten besprochen und eingeübt.

»Das weiß ich. Deswegen rede ich ja mit dir.«

»Ich höre.«

»Ich will der DI einen Deal anbieten.«

»Ein Deal? Was für einen Deal?«

»Straffreiheit gegen die Möglichkeit, die Rebellion zu beenden.«

Yes! Allegra ballte innerlich eine Faust. Das war genau das, worauf sie gehofft hatten. Aber noch gab sie sich unnahbar.

»Ach … und was hast du plötzlich gegen den großen Viktor Mortensen?«

Sofia nahm ein Käppi mit der silbernen Aufschrift Avignon von einem Ständer und setzte es auf. Es veränderte sie vollkommen. Aus der arroganten jungen Dame wurde von einer Sekunde zur anderen ein Mädchen mit großen traurigen Augen.

»Du hast deinem Vater das Herz gebrochen«, fuhr Allegra fort, und ihr Herz zog sich bei der Erinnerung an José Adairs Gesichtsausdruck, als er erkannt hatte, dass Sofia ihn verraten hatte, zusammen. »Glaubst du, er hätte dich zurückkehren lassen? Er hat dir vertraut!«

Und in diesem Moment zersplitterte Sofias Selbstbeherrschung. Sie sank in sich zusammen, bis sie auf den Knien lag. »Ich habe ihn getötet«, flüsterte sie. »Der Bürgermeister, das war mein Werk.« Die letzten zwei Worte klangen grenzenlos traurig.

Allegra sah sie entsetzt an. Das hatte sie nicht erwartet. Aber Sofia war schon immer gut darin gewesen, Menschen im Traum zu manipulieren.

»So wie ich es war«, sagte Lorenzo hart. Es waren die ersten Worte, die er sagte, seit Sofia das Geschäft betreten hatte.

Sofia blickte ihn nicht an, als sie antwortete: »So wie du, Lorenzo.«

»Vorausgesetzt, ich würde dir glauben. Was weißt du?«, fragte Allegra.

Ein Rest Arroganz schimmerte durch Sofias Tränen, als sie entgegnete: »Oh nein, so nicht. Ich weiß, wie die DI Verräter bestraft. Lebenslange Einzelhaft in einem Gefängnis mitten im Nirgendwo. Erst will ich eure Zusicherung: Ich darf mein Leben leben.«

Allegra und Lorenzo tauschten einen Blick. Sofia traf sich hier mit ihr und nicht in der Traumzeit, das allein war schon ein Indiz dafür, dass sie es ernst meinte. Und die Trauer über den Tod ihres Vaters schien echt. »Du verstehst, warum wir misstrauisch sind, oder?«

»Du musst uns schon einen Beweis dafür liefern, dass du die Wahrheit sagst«, forderte Lorenzo.

Sofia nickte. »Das dachte ich mir schon.« Sie erhob sich, trotz des zerlaufenen Make-ups und den Spuren von Wimperntusche auf ihren Wangen wirkte sie wieder gefasst. Sie wandte sich an Allegra. »Viktor weiß, dass du deinen Eltern einen Zufluchtstraum gebaut hast. Er würde ihn gerne zerstören, geht aber davon aus, nicht so einfach an ihn heranzukommen.«

Allegra schluckte leer. »Und weiter?«, fragte sie, um eine ruhige Stimme bemüht.

»Easy. Er will nicht, dass deine Eltern zurückkehren. Also wird er die Klinik niederbrennen.«

»Er … was?«

»Heute Nacht.«

Allegra sah Sofia ungläubig an. Sie hatte damit gerechnet, Mortensens Telefonnummer zu erfahren oder dergleichen – nicht, dass Sofia eine solche Bombe platzen ließ.

Auch Lorenzo war blass geworden. Er murmelte in das kleine Headset, lauschte konzentriert einige Sekunden und nickte. »In Ordnung«, sagte er und stand auf. »Gehen wir. Du bekommst deinen Deal.« Und zu Allegra gewandt, sagte er: »Keine Sorge. Er wird es nicht schaffen.«

Er deutete zum Ausgang.

»Warte!«, sagte Allegra hastig. »Sofia, du bist hier in Avignon! Weiß Mortensen davon?«

»Ja natürlich«, erwiderte Sofia. »Ich habe Viktor gesagt, dass ich vorhabe, mich euch wieder anzuschließen. Nur mit dem Unterschied, dass er glaubt, ich stünde weiterhin auf seiner Seite.«

Ich weiß, auf welcher Seite du stehst, dachte Allegra. Auf deiner. Aber stattdessen sagte sie: »Ich hoffe, dass er darauf reinfällt.«

»Die Lüge muss nur ein bis zwei Tage halten«, warf Lorenzo ein.

In diesem Moment rüttelte jemand von außen an der Tür. Lautes Keifen ertönte.

Allegra blickte verwirrt zwischen Tür und Sofia hin und her.

»Die Ladenbesitzerin«, erklärte Sofia gelassen. »Ich habe ihr vorhin, als sie sich einen Kaffee geholt hat, den Schlüssel gestohlen. Also? Ich denke, es ist alles klar. Können wir gehen?« Sie drehte besagten Schlüssel im Schloss, schob die Tür auf und ging, das Käppi tief ins Gesicht gezogen, an der Besitzerin vorbei.

»Diebe!«, kreischte diese. »Polizei!«

Sofia drückte ihr einen Fünfzigeuroschein in die Hand. »Voilà. Zufrieden?«

»Ladenverbot! Sie haben Ladenverbot!«, kreischte die Besitzerin weiter, steckte den Geldschein jedoch rasch ein und spähte misstrauisch in ihren Laden, als fürchtete sie, er wäre bereits leer geräumt.

Der grüne Oldtimer wartete mit laufendem Motor. Madame Pinot saß am Steuer, Christine Lamartin neben ihr. Allegra und Lorenzo flankierten Sofia auf dem Rücksitz, wobei Lorenzo so viel Abstand wie möglich zu Sofia hielt. Es war nicht zu übersehen, dass Lorenzo sie auf keinen Fall berühren wollte. Deutlich sanfter als beim letzten Mal gab Madame Pinot Gas und winkte dem Streifenpolizisten bei der Ausfahrt durch das Stadttor höflich zu, der ihnen verwirrt nachblickte und sich dann etwas in einem kleinen Block notierte. Hinter ihnen passierte das Auto mit Madame Berger ebenfalls das Tor und bog auf die Straße Richtung Rhone ein.

Die Direktorin warf Sofia im Rückspiegel einen kühlen Blick zu. »Mademoiselle Adair«, sagte sie nur. »Wir haben viel zu bereden.«

Allegra sah Sofia von der Seite an und stellte die Frage, die ihr schon seit dem Telefonat mit Mortensen auf der Seele brannte: »Was ist mit Jenny? Kommt sie auch zurück?«

Sofia starrte geradeaus, während sie sprach. »Nein. Jenny Harper hat in Viktors Kampf ihre Bestimmung gefunden. Sie hat nicht einmal um ihre Schwester getrauert. Sie kommt nie wieder zurück.« Sie knetete unaufhörlich ihre Hände im Schoß, der einzige Hinweis darauf, dass sie nicht so ruhig war, wie sie vorgab.

»Vielleicht, wenn wir all dem ein Ende bereiten«, protestierte Allegra. »Und du hast versprochen, uns zu helfen, vergiss das nicht.«

»Du hast dich verändert, Allegra«, murmelte Sofia.

»Ruhe«, fuhr Madame Lamartin dazwischen. »Haltet beide den Mund, sofort! Wir besprechen das in meinem Büro. Nicht hier.«

Im Schritttempo passierten sie das Gittertor der Akademie. Rechts und links auf dem breiten Gehsteig standen zwei Männer, die Hände um die großen Fackelstiele gelegt, und warfen ihnen misstrauische Blicke zu. Allegra fühlte sie förmlich in ihrem Nacken kribbeln. Madame Pinot parkte hinter Corlaeus’ Haus, stieg aus und wartete, bis Sofia neben ihr stand. Dann legte sie ihr mit eisernem Griff die Finger um den Unterarm.

Lorenzo tippte Allegra auf die Schulter. »Komm mit, wir gehen in Madame Bergers Büro und skypen mit Corlaeus, damit er uns erzählen kann, was er plant.«

Zu Allegras Überraschung trafen sie dort auch auf Arthur, der gerade von seiner Wachschicht kam. »Ihr habt wirklich Sofia mitgebracht? Respekt!«, sagte er.

»Wie geht’s meinem Traum?«, fragte Allegra besorgt. »Wurdet ihr angegriffen?«

Arthur zog sie auf den Stuhl neben sich. »Nein. Komisch, ich hätte gedacht, dass Mortensen uns auch in der Traumzeit mehr auf die Pelle rückt.«

»Der hat anderes im Sinn, wie du gleich hören wirst. Und Gabriella?«

»Die ist selig, dass sie hierbleiben darf. Wir müssen uns nur überlegen, wie wir das mit der Schule regeln. Auf der Akademie geht sie ja nicht in den regulären Unterricht, sie braucht aber einen normalen Abschluss. Ich habe auch mit meiner Mutter gesprochen, wir werden mit Miller zusammen eine Allianz bilden. Die Sorentos brauchen in der DI wieder eine stärkere Stimme. Alleine schon, um in der Lage zu sein, machtgierigen Familien wie den Lamartins etwas entgegensetzen zu können.«

Madame Berger aktivierte einen großen Flatscreen, gab ein zehnstelliges Passwort ein, und Sekunden später verpixelte sich der Bildschirm, um anzuzeigen, dass eine außergewöhnlich gut gesicherte Verbindung aufgebaut wurde.

Dann erschien das ernste Gesicht ihres Mentors. »Wir haben Vorkehrungen getroffen und werden die Patienten noch heute Nacht an einen geheimen Ort verlegen. Derzeit haben wir an der Klinik nur vier inklusive der Hellers, die ständig überwacht werden müssen. Olive hat einen früheren Flug genommen, sie ist schon hier. Ich habe bereits den Großraum-Rettungshubschrauber angefordert, der kann sie alle samt den zwei Ärzteteams transportieren.«

»Wieso weiß Mortensen eigentlich, wo die Klinik ist? Ich dachte, die ist supergeheim?«, fragte Allegra.

»Mortensens Hauptquartier ist in München«, sagte Corlaeus. »Er hat sich direkt vor unserer Nase versteckt.«

»Ja, das wussten wir. Mithilfe von Jenny hat er sich in einen unserer Server gehackt«, erklärte Arthur. »Wir haben es leider zu spät bemerkt. Genau genommen haben wir es erst bemerkt, seit wir von Sofia wissen, was er vorhat. Ansonsten wäre uns der Angriff nicht aufgefallen. Jenny hat es wirklich drauf. Weit mehr, als ich es je schaffen werde.« Er klang wütend.

Allegra drückte seine Hand unter dem Tisch. »Können meine Eltern verlegt werden, solange ihre Seelen in meinem Traum sind?«

Corlaeus schüttelte den Kopf. »Nein. Wir werden daher versuchen, sie zurückzuholen, bevor wir sie verlegen.«

»So schnell? Wie denn?«

»Wir arbeiten auf zwei Ebenen und mit drei Teams. Ich schicke euch den genauen Einsatzplan über den Messenger. Start ist um zwanzig Uhr. Zwei Stunden später beginnt die Verlegung. Allegra, du bist mit deinem Team natürlich im Traum. Du musst deine Eltern nach draußen bringen.«

»Aber wie soll das gehen? Meine Mutter … und wenn sie noch bewusstlos ist? Bisher konnte ich noch nicht mal mit ihr sprechen!«, warf Allegra ein.

»Das klärst du mit Olive. Sie wird von München aus in die Traumzeit kommen und das Team leiten, das den Übergang vollzieht. Ein weiteres Team steht in der Klinik bereit. Es geht nicht darum, dass sie sofort aufwachen. Wir müssen daran arbeiten, ihre Seelen möglichst ohne weiteren Schaden zurückzubekommen. Dann werden sie zunächst in ein künstliches Koma versetzt und von dort aus Schritt für Schritt zurückgebracht.«

»Wie bei Tauchern?«

»Ja, ganz genau. Bei zu schnellem Auftauchen platzt die Lunge, und die Taucher sterben. Wir müssen deine Eltern ebenfalls langsam aus dem Koma ins Hier und Jetzt zurückbringen.«

Jetzt war es an Arthur, beruhigend Allegras Hand zu drücken. »Egal, wie sehr ich mich in letzter Zeit über Olive geärgert habe, sie ist eine sehr gute Ärztin.«

Die Tür wurde aufgerissen, und die Direktorin trat ein. »Ah, Sie sind alle noch hier, sehr gut. Martine und ich haben Sofia eingehend befragt. Sie hat mehrfach darauf hingewiesen, dass Mortensen sehr daran gelegen ist, die Hellers für immer unschädlich zu machen. Er wird alles daransetzen, die Rettung zu verhindern. Wir müssen auf das Schlimmste gefasst sein.«

»Glauben Sie ihr?«, fragte Allegra leise.

Die Direktorin wandte sich ihr zu. »In diesem Fall spielt es keine Rolle, ob ich ihr glaube, Allegra. Momentan haben wir keine andere Wahl. Ich möchte deine Eltern zurückbringen, für dich – und für die Dream Intelligence. Also tun wir das, was nötig ist.«

Es machte ping, und ein Icon ploppte auf dem Bildschirm auf.

Der Einsatzplan.

»Ich bleibe hier und leite die Verteidigung der Klinik«, versprach Corlaeus. »Wir müssen damit rechnen, auch hier angegriffen zu werden. Ich wünsche uns allen viel Erfolg. Mögen nach heute Nacht wieder alle Seelen nur guten Träumen begegnen. Corlaeus Ende.« Der Bildschirm verpixelte wieder, dann wurde er schwarz.

Madame Berger sah ernst in die Runde. »Das wird unser alles entscheidender Einsatz. Gehen wir die Hellers retten, und legen wir Mortensen ein für alle Mal das Handwerk!« Sie schob ihnen ein Tablet entgegen, auf dem die Teams, die Teamleiter und die Einsatzorte und -zeiten vermerkt waren. Allegra würde in einer halben Stunde in die Traumzeit gehen. Sabine würde ihr Anker sein.

Allegra sah Arthur und Lorenzo an. Einer ein guter Freund, einer so viel mehr als das. Dennoch hatte sie Geheimnisse vor ihnen. Sie stand auf, murmelte: »Ich muss aufs Klo, wir treffen uns im Traumsaal«, und rannte aus Madame Bergers Büro.

Wo war Sofia? Sie versuchte es mit Lamartins Büro – und hatte Glück. Sofia saß am schwarzen Konferenztisch. Das Käppi überschattete ihre Augen. Sie sah auf, als Allegra vorsichtig die Tür aufstieß. »Ach, sieh an«, sagte sie gedehnt. »Was willst du hier?«

»Dir einen Deal vorschlagen«, sagte Allegra und schloss leise die Tür hinter sich. »Und ich habe nicht viel Zeit, also hör mir zu. Du hast deinen Vater so gut wie eigenhändig umgebracht.«

Sofias Augen verengten sich, aber sie sagte nichts.

»Ich weiß, dass dich das belastet. Mehr, als du je zugeben würdest. Aber letztlich ist Viktor Mortensen derjenige, der daran schuld ist. Was hältst du davon, wenn wir ihn aus dem Verkehr ziehen?«

»Das schaffst du nicht.« Sofias Stimme klang kraftlos.

»Alleine nicht, aber mit dir zusammen schon! Was ist, bist du interessiert?« Allegra sah demonstrativ auf die Uhr. »Tick tock, Sofia.« Sie stand neben Sofia, die Hände auf den Tisch gestützt.

In Sofias Augen glomm so etwas wie Bewunderung auf. »Nicht schlecht, Allegra. Aber ich komme hier nicht weg.« Jetzt hob sie ihre Handgelenke ein kleines Stückchen an, und Allegra musste unwillkürlich grinsen. Sofia war mit Kabelbindern an ein Tischbein gefesselt.

Allegra sah sich um, entdeckte in einem Fach auf Adairs ehemaligem Sekretär eine Schere und schnitt das Kunststoffband kurzerhand durch. »So – willst du meinen Plan hören?«

Sofia schüttelte ihre Hände aus und drehte das Käppi mit dem Schirm in den Nacken. »Ja, das will ich.« Es klang wie ein Schwur.

Zwanzig Minuten später schlich Allegra auf den Gang. Immer wieder sah sie sich nach allen Seiten um, ob sie auch niemand beobachtet hatte. Ein Telefonat noch, dann war sie bereit.

»…lo?«, meldete sich eine rauchige Männerstimme.

»Herr Miller? Hier ist Allegra Heller.«

Am anderen Ende der Leitung blieb es still.

»Hey, hören Sie mich?«

»Was willst du?«

Allegra zuckte zusammen, aber sie ließ sich von dem bissigen Ton nicht abschrecken. »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken.«

»Hä?«

»Ich weiß nicht, ob wir es schaffen, meine Eltern zurückzuholen. Aber wenn ja, dann liegt es an Ihnen. Sie haben ihre Botschaft verstanden. Dafür danke ich Ihnen.«

»Oh«, sagte die Männerstimme, merklich sanfter. »Ich hatte vielleicht auch etwas gutzumachen.«

»Ich habe noch eine Bitte an Sie«, sagte Allegra hastig.