Prolog

Dichter Nebel waberte in kühlen Schwaden über den Boden, hüllte ihre Beine ein. Das Weiß erstreckte sich in alle Richtungen, immer in Bewegung, alles einnehmend, was sich ihm in den Weg stellte. In dieser unermesslich weiten Ebene reihten sich milchig schimmernde Kugeln aneinander, manche ganz klein, manche mit einem Durchmesser von mehreren Metern: Träume, so weit das Auge reichte. Trübes Dämmerlicht warf ein Schattenspiel auf ihre Haut, als verstecke sich eine milchige Sonne knapp unter dem Horizont.

»Bewege deine Hände ganz langsam! Ja, genau so. Träume und ihre Schutzhüllen sind sehr empfindlich. Wenn du mehr Druck ausübst, zerbricht die Membran …«

Wenn Lehrer etwas beschreiben, klingt es immer ganz einfach, dachte Allegra und stöhnte unterdrückt. Aber die haben auch gefühlt hundert Jahre Vorsprung. Sie hatte ihre Hände ausgestreckt und tastete mit steifen Fingern über die Schutzhülle, die den Traum vor ihr umgab. Wer diesen Traum geträumt hatte, wusste sie nicht – und wollte es auch gar nicht wissen. »Ich. Mach. Ja. Schon!« Bereits seit Stunden, so kam es ihr vor, versuchte sie ganz, ganz vorsichtig, die Schutzhülle einen Spalt weit zu öffnen, ohne das fragile Gebilde zu zerstören. Sie hatten sich Träume herausgesucht, in der sich bestimmt keine träumende Seele mehr befand, weil deren Träumer gerade erwacht war, und doch tat es ihr jedes Mal weh, wenn die Traumhülle zusammenschnurrte wie ein kaputter Luftballon oder in tausend kleine Fetzen zerplatzte und ihr damit zeigte, dass sie schon wieder zu viel Energie verwendet hatte. Auch der Traum, an dem sie gerade arbeitete, wurde in diesem Moment merklich kleiner. Allegra zog ruckartig ihre Hände weg und trat ihrem Lehrer auf den Fuß.

»Hm. Bitte noch etwas sanfter«, kommentierte Ruben Corlaeus unbeirrt, während er ihr über die Schulter sah und an dem weißen Bart herumzupfte, der sein Gesicht umrahmte. »Lass es fließen. Stell dir vor, du hältst eine Stimmgabel, keine Laserkanone! Wir haben das doch geübt. Sieh mal!« Er trat neben sie und fuhr mit der Handfläche in einem Abstand von vielleicht zwei Zentimetern an der Traummembran entlang. Sofort glühte sie dort bläulich auf. Wie einfach das bei ihm aussah!

Allegra atmete tief durch, lockerte ihre Schultern und hob dann erneut die Hände, folgte seiner Bewegung, ließ sich von ihm leiten, und da! Da war sie endlich! Eine leuchtende Linie, die sich auf der Traumhülle von oben nach unten zog und ihr zeigte, dass die Membran auf sie reagierte. »Hey«, sagte sie überrascht.

Corlaeus lächelte wissend. »Mach weiter«, forderte er sie auf, »ganz vorsichtig. Sieh mal hier. Der Traum öffnet sich für dich. Und wenn du unten angekommen bist, dann verschließe den Riss wieder. Am besten legst du die Hände übereinander und bewegst sie in einer Wellenlinie nach oben, als würdest du den Riss wieder zunähen wollen.«

Wie gut, dass Ruben Corlaeus hier war, als ihr Beschützer – und als ihr Mentor. Mit seinem weißen Lockenschopf und dem Bart hätte man den Wächter der Akademie Adair auf den ersten Blick für den Weihnachtsmann halten können, doch da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Allegra hatte noch keinen seiner Wutanfälle erlebt, aber sie hatte von mehreren Mitstudenten gehört, sie seien legendär. Jetzt klang er zum Glück überaus zufrieden.

»Sehr gut, Allegra«, sagte er, als Allegra seinen Anweisungen folgte und sich die Membran langsam, ihren Handbewegungen folgend, wieder schloss. »Du hast in den letzten Tagen enorm viel gelernt. Arbeit in der Traumebene ist zur Hälfte Technik und zur Hälfte Vorstellungskraft. Komm, wir gehen zurück. Die Sanduhr ist ohnehin fast durchgelaufen. Du brauchst eine Pause.«

Allegra nickte. Kurz stemmte sie die Hände auf die Oberschenkel, ließ den Kopf hängen und atmete tief durch. Sie konnte ihre Füße nicht sehen. Unter ihren Sohlen spürte sie zwar festen Boden, doch der Nebel reichte ihr bis über die Knie. Sie achtete darauf, ihn nicht mit bloßen Händen zu berühren. Es war nicht schmerzhaft, doch der Nebel bestand aus Traumresten, und dieser Energie setzte man sich auch als Traumagentin nicht mehr aus als nötig.

Jetzt legte Corlaeus ihr die Hand auf die Schulter, sie fühlte das vertraute Ziehen um ihren Nabel herum und das Summen in ihren Ohren, das ihr ankündigte, dass sie die Dimension wechselte. Ihre Seele kehrte in ihren Körper zurück, und sie schlug die Augen auf.

Allegra lag auf dem großen Wohnzimmersofa, zu Hause in München. Vor dem Fenster konnte sie Corlaeus erkennen, der es sich auf einem Sessel bequem gemacht hatte und sich bereits wachsam umsah. Ihr Blick fiel auf Arthur, der neben dem Sofa kniete und erleichtert aufatmete, als er bemerkte, dass sie zurückgekehrt war. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer.

Bevor sie etwas sagen konnte, stemmte Corlaeus sich mit einer fließenden Bewegung hoch, die sein Alter Lügen strafte. »Für heute sind wir fertig. Versuch es, wenn Arthur dich lässt, heute Abend noch mit ein paar Minuten Yoga, okay? Wir sehen uns morgen«, sagte er, und ein Lächeln war in seiner Stimme zu hören.

»Na endlich«, murmelte Arthur, kaum dass Corlaeus das Zimmer verlassen hatte, beugte sich über Allegra und legte ihr eine Hand an die Wange.

»Hallo«, flüsterte Allegra und schaute in die braunen Augen mit den Goldpünktchen. Arthur sah blass aus, der einzige Hinweis auf die Sorgen, die er sich gemacht haben musste. »Wie lange waren wir weg?«

Arthur wies mit dem Kinn auf die Sanduhr, die auf dem Couchtisch stand. Unten im Glas hatte sich der blaue Sand zu einem Häufchen gesammelt. Nur eine kleine Schicht Körnchen war im oberen Teil verblieben. Es würde höchstens noch drei Minuten dauern, bis er vollständig durchgelaufen war. »Bisschen knapp, würde ich sagen.«

»Auf Corlaeus’ Timing kannst du dich verlassen«, sagte Allegra.

»Ihr wart eine Ewigkeit weg«, widersprach Arthur mit düsterer Miene, doch dann grinste er und legte seine Lippen auf ihre. In seinem Kuss spürte sie seine ganze Verliebtheit, die Freude, dass Allegra heil aus der Traumwelt zurückgekehrt war, und ein bisschen Wehmut, denn er würde, nachdem er die letzte Woche bei Allegra verbracht hatte, morgen wieder nach Avignon an die Akademie zurückkehren. »Schon Obelix wusste, dass irgendwann die Schonzeit für Wildschweine vorbei ist, Schwesterchen«, hatte Allegras Schwester Elena gestern trocken gesagt, als Allegra mit traurigem Gesichtsausdruck Arthurs Flugticket betrachtet hatte. Doch diesen Abend hatten sie noch für sich. Allegra zog ihn näher zu sich.

 

Ein letzter langer Kuss, ein in ihr Haar geflüstertes »Pass auf dich auf, Süße. Wir sehen uns bald«, dann stand Allegra allein in der Abflughalle des Münchner Flughafens. Sie schluckte und konnte sich nicht einen Millimeter von der Stelle rühren.

Corlaeus hatte die letzten Wochen mit ihr zu Hause trainiert, sie musste ihre Technik verfeinern und vieles nachholen, was ihre Kommilitonen ihr voraushatten. Es war eine große Ehre, aber sie fühlte sich von Tag zu Tag mehr unter Druck. Als einziger Scout an der Akademie galten für sie besondere, sprich: höhere, Maßstäbe. Gott sei Dank war Arthur dabei gewesen. Er hatte ihr Sicherheit gegeben, sie hatte jede Sekunde mit ihm genossen. Und jetzt war er viel zu schnell schon wieder weg. Wie sollte sie das, was noch vor ihr lag, ohne ihn überstehen?

Um sie herum wuselte es von Passagieren, die von Schalter zu Schalter rannten, ein kleines Mädchen stolperte über seinen Einhorn-Trolley, mehrere ernst schauende Geschäftsleute gingen, das Handy bereits am Ohr, zielstrebig zu den wartenden Taxis, eine Lautsprecherdurchsage kündigte zwei verspätete Flüge an. Die kühle Luft aus der Klimaanlage strich über Allegras Gesicht, durch die großen Glaswände schien die Sonne.

Ein ganz normaler Dienstag.

Nicht für Allegra.

Vor vier Jahren hatten sie und Elena ihre Eltern begraben. Sie waren im Dienst umgekommen, hatte es geheißen. Die beiden Mädchen hatten Abschied genommen und versucht, so gut wie möglich weiterzuleben. Zur Schule gehen, Freunde treffen, Hausaufgaben machen, Geld verdienen, die Küche aufräumen, sich über den Einkauf streiten. Leben eben.

Dann hatte vor einigen Wochen die Dream Intelligence – ausgerechnet jene Geheimorganisation, für die ihre Eltern gearbeitet hatten – Allegra nach Avignon an die Akademie gerufen, und sie war innerhalb von Stunden in eine neue Welt gerissen worden. In eine Welt nicht hinter den Spiegeln, aber so gut wie: in die Welt der Träume, in der nichts so war, wie sie es gedacht hatte. In der Agenten dafür zuständig waren, die Träume der Menschen zu beschützen. Sie hatte dort ihre Bestimmung gefunden und Elena vor einem grausigen Schicksal bewahrt. Und sie hatte den Mann kennengelernt, der für den Tod ihrer Eltern verantwortlich war: Viktor Mortensen.

Jetzt lief Allegra die Rolltreppe hinunter zu S-Bahn, sprang in den ersten Waggon der S1 und zählte die Sekunden bis zur Abfahrt. Ihr Herz flatterte, und in ihren Fingern kribbelte es, Vorfreude und Angst mischten sich in ihr zu einem sprudeligen Cocktail. Irgendwann sprang sie auf, stolperte durch den schmalen Gang, stieß an die Knie ihrer Mitreisenden und erntete genervte Blicke. Doch es könnte ihr nicht egaler sein. Am Ende des Waggons blieb sie stehen. Hände und Stirn an das kühle Glas gepresst, starrte sie nach draußen, Bäume und Felder rasten an ihr vorbei, jetzt kamen die ersten großen Gebäude in Sicht.

In Laim verließ Allegra den Zug, und das Gefühl der Dringlichkeit wurde plötzlich übermächtig. Sie rannte nach Norden, ihre blaue Umhängetasche schlug ihr bei jedem Schritt an den Oberschenkel, und in der Eile übersah sie sogar die rote Fußgängerampel an der nächsten Kreuzung und hatte Glück, dass der von rechts kommende Wagen rechtzeitig bremsen konnte. Sie blickte sich nicht einmal zu dem wütenden Fahrer um, der ihr etwas Unflätiges durchs offene Fenster hinterherschrie.

Mit schweißnasser Stirn und Seitenstechen stand sie kurz darauf vor einer gelb gestrichenen Gründerzeitvilla und drückte auf die Klingel, an der kein Name angebracht war. Das schmiedeeiserne Tor schwang lautlos auf, eine wortlose Einladung. Allegra machte einen zögernden Schritt, dann blieb sie doch noch einmal stehen und atmete tief durch.

Vor ein paar Tagen erst hatte sie erfahren, dass ihre Eltern noch am Leben waren.

Und jetzt würde sie sie zum ersten Mal wiedersehen.