2.

Allegra und Corlaeus verließen das Haus der Hellers in Pasing bereits am frühen Morgen. Ein Taxi brachte sie zum Flughafen. Leichter Dunst hing noch über den Wiesen, doch man konnte bereits erahnen, dass es wieder ein heißer Tag werden würde. Sie hatte leichte Kleidung, ein paar T-Shirts und zwei Sommerkleider eingepackt, das meiste befand sich ohnehin schon in ihrem Bungalow auf dem Akademiegelände. Auf der Fahrt beantwortete sie noch ein paar Textnachrichten ihrer Freundinnen. Für sie hatte sie in den letzten Tagen so gut wie keine Zeit gehabt.

Als sie vor einigen Wochen an die Akademie gerufen worden war, hatte sie Johanna schlichtweg belogen. Wie erklärte man seiner Freundin, dass man zur Agentin in der Traumwelt ausgebildet wurde, ohne die Geheimhaltungsvorschriften zu verletzen? Am besten gar nicht, hatte sie gedacht und etwas von dringender Familienangelegenheit gefaselt.

Mittlerweile hatten sie und Elena sich auf eine offizielle Version geeinigt: Wer fragte, bekam zur Antwort, dass Allegra ein Stipendium an einem privaten, sehr exklusiven Collège erhalten habe und dass ihre Eltern das noch vor ihrem Tod in die Wege geleitet hätten. Solange niemand sie besuchen wollte, war das eine wasserfeste Geschichte.

Corlaeus hatte Flüge über Marseille gebucht. Air France spendierte ihnen eine Brioche und einen Café au Lait, und um zehn Uhr landeten sie bereits in der französischen Hafenstadt. Die Luft roch anders hier. Salzig, ein bisschen brackig, der Wind strich warm über ihre Haut. Französische Sprachfetzen schwirrten um sie herum. An einer Bushaltestelle entdeckte sie einen kleinen Jungen, der genüsslich in ein Croissant biss, sodass ihm die flüssige Butter übers Kinn und aufs T-Shirt tropfte. Allegra musste grinsen und drehte sich einmal um sich selbst. Komisch, es fühlte sich an, als käme sie nach Hause.

Auch hier erwartete sie ein Wagen. Die Akademie mochte derzeit durch die abtrünnigen Agenten in großen ethischen und organisatorischen Schwierigkeiten stecken, doch Finanzprobleme hatte sie nicht. Dafür sorgten ein paar großzügige Sponsoren aus den Traumwandererfamilien, die regelmäßig die Konten auffüllten.

Sie ließ sich in die Polster auf dem Rücksitz fallen und öffnete trotz Protest des Fahrers, er habe schließlich nicht umsonst eine Klimaanlage, ihr Fenster. Corlaeus stieg vorne ein.

Während des Fluges hatte er ihr erklärt, dass sie sofort wieder in den Unterricht einsteigen solle. Das war Allegra nur recht. Sie brannte darauf, mehr zu erfahren, mehr zu wissen. Schon allein, um das Gefühl der Hilflosigkeit nicht länger ertragen zu müssen.

Als der Fahrer vor dem Eingang zum Akademiegelände den Motor ausstellte, bemerkte Allegra einen neuen Metallzaun, der das Gelände umgab. Der war letztes Mal noch nicht da gewesen. Genauso wenig wie die großen, schlanken Traumstäbe, die alle paar Meter nahe am Zaun angebracht waren. Die rot-weiße Schranke, die das Gelände bisher nachlässig abgetrennt hatte, war hingegen entfernt worden. Zwei Agenten hielten Wache. Das war auch neu. Die Wachen traten auf das Auto zu, ihre angespannten Gesichter zeigten erst einen erleichterten Ausdruck, als sie Corlaeus erblickten. Das übermannshohe Gittertor fuhr lautlos zur Seite, der Fahrer lenkte den Wagen hindurch und stellte neben Corlaeus’ Bungalow den Motor ab.

Kaum hatte Allegra die Tür geöffnet, begann ihr Herz zu hüpfen. Arthur wartete bereits auf sie. Er stand an einen Baum gelehnt und sah ihr mit schiefem Lächeln und leuchtenden Augen entgegen. Allegra rannte um das Auto herum in seine ausgebreiteten Arme. Er drehte sich mit ihr um die eigene Achse und küsste sie. Allegra schmolz dahin. Endlich! Endlich hatte sie ihn wieder. In diesem Moment war ihr völlig egal, wer ihnen zusah und welche Last sie derzeit niederdrückte. Sie war wieder mit Arthur zusammen – nur das zählte. Sie spürte seine Schultermuskeln unter dem Shirt, ein leichter Bartschatten kitzelte sie an der Wange, und sie versenkte die Finger in seinem Haar. Dann stutzte sie. Irgendetwas war anders. »Hey, wo sind deine Dreadlocks? Und wieso«, Allegra ging einmal um ihn herum, »sind deine Haare so unregelmäßig geschnitten? Bei welchem Friseur warst du? Du siehst gerupft aus.«

Arthur blickte etwas verlegen drein und fuhr sich mit einer Hand über die kurzen Stoppeln. »Gestern … äh …«

»Musste er eine Wette einlösen«, sagte eine helle Stimme. Arthurs Schwester war hinter ihm aufgetaucht und sah Allegra neugierig an.

»Hallo, Gabriella«, sagte Allegra herzlich. »Wie geht’s dir? Und was meinst du mit einlösen? Hat Arthur eine Wette gegen dich verloren?«

Gabriella feixte, und Arthur verdrehte die Augen. »Denk dran, dass ich dich rauswerfe, wenn du dich nicht benimmst«, drohte er, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen.

Die Familie Sorento hatte angesichts der aktuellen Krise beschlossen, José Adairs Angebot anzunehmen. Sie hatten Gabriella nach Avignon gebracht. Etliche andere Familien hatten es ihnen gleichgetan. Entweder hatte man nur die Kinder geschickt oder war gleich mit Sack und Pack aufs Akademiegelände gezogen. Wo bisher zwei Studenten zusammengelebt hatten, drängten sich jetzt in manchen der kleinen Bungalows bis zu sechs Familienmitglieder. Doch Sicherheit ging vor, und die meisten waren froh, innerhalb der Traumstäbe schlafen zu können, auch wenn sie dafür etwas zusammenrücken mussten. Durch den neuen Zaun, der das Gelände zusätzlich umgab, waren sie alle sicher und konnten sich frei bewegen.

»Wir sehen uns später, Allegra«, drang jetzt Corlaeus’ Stimme an ihr Ohr, und sie nickte.

Zum ersten Mal, seit sie angekommen war, sah sie sich richtig um. Zwischen den Häusern ging es zu wie auf dem Jahrmarkt. Kinder aller Altersklassen rannten über den Rasen, eine Horde Jungs spielte Fußball, Eltern und Großeltern spazierten auf den Wegen auf und ab, ein Pulk erschöpft aussehender Studenten kam aus dem Hauptgebäude, in dem der Unterricht stattfand. Hinter ihnen erschien eine kleine alte Dame, die grimmig dreinschaute.

»Madame Pinot!«, rief Allegra und winkte. Sie hatte einen Heidenrespekt vor ihr, aber Madame Pinot war trotzdem ihre Lieblingslehrerin.

Diese winkte zurück und kam mit eiligen Schritten auf sie zu. »Schön, dass du wieder da bist, Allegra«, sagte sie. »Wie geht es deinen Eltern?«

»Ich habe sie gesehen. Sie leben. Mehr kann man noch nicht sagen«, erklärte Allegra.

Madame Pinot verzog den Mund und nickte knapp.

Allegra griff nach ihrer Tasche, die neben ihr auf dem Boden stand. Mit der anderen Hand hielt sie Arthurs fest umschlossen.

Gabriella schaute sie mit großen Augen an. »Was ist mit deinen Eltern?«, fragte sie.

»Erklär ich dir später«, winkte ihr Bruder ab. »Wolltest du nicht eigentlich für Mama herausfinden, wie das mit den Waschmaschinen funktioniert? Sie kommt doch übermorgen.«

»Du wolltest ja auf Allegra warten«, fuhr Gabriella dazwischen. »Arthur ist verlie-hiebt«, sang sie halblaut und grinste, warf aber dennoch einen vorsichtigen Blick zu Madame Pinot.

»Das weiß ich schon«, erwiderte diese trocken, und Gabriella musste kichern. »Bist du morgen wieder im Unterricht, Allegra?«

»Ich glaube schon. Aber ich muss erst mit dem Direktor reden, wie mein Stundenplan aussieht. Ich soll ja auch nach meinen Eltern suchen.«

»Du wirst jede Hilfe bekommen, die du benötigst«, versprach die alte Dame und wandte sich zurück zum Hauptgebäude. »Was du tust, hat oberste Priorität, Allegra. Wir sehen uns später.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging zurück in Richtung Hauptgebäude.

Gabriella fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Du bist ja ein richtiger VIP«, sagte sie ehrfürchtig.

»Wie kommst du denn darauf?«

Gabriella zeigte auf den Rücken der alten Lehrerin. »Wir, also ich und ein paar andere, die schon über zwölf sind, haben Übungsstunden bei ihr. Ich hab solche Angst vor ihr! Sie ist so … weiß nicht … gruselig! Aber bei dir ist sie ganz anders. Voll krass!«

Allegra grinste. »Das fand ich am Anfang auch. Aber eigentlich ist sie eine tolle Lehrerin. Lass dich von ihr nicht einschüchtern. Sie hat mir mal gesagt, dass man lieber Fehler machen als keine Entscheidung treffen soll, das habe ich seitdem beherzigt.«

Noch schien Gabriella zu zweifeln, doch dann gewann ihre Frohnatur wieder die Überhand. »Wir sehen uns heute Abend, Aru, okay? Wir wollten ja noch mit Mama skypen.« Damit sauste sie in Richtung der Bungalows davon.

Arthur lächelte ihr hinterher, dann legte er den Arm um Allegra und drückte sie an sich. »Ich habe dich vermisst!«

Und noch einmal versank alles um Allegra herum, und sie spürte nichts außer Arthurs Lippen auf den ihren.

Irgendwann, sie hätte nicht sagen können, ob Sekunden oder Stunden vergangen waren, hörte sie ein Hüsteln. Dann zupfte jemand an ihrem Ärmel, und eine Stimme sagte: »Kein Wunder, dass du mich nicht siehst. Hallo? Erde an Allegra? Arthur, lass sie doch mal los.«

Arthur folgte der Aufforderung, und gleich darauf wurde Allegra erneut heftig umarmt. Rote Haare versperrten ihr plötzlich die Sicht, und sie konnte nicht anders, sie musste lachen.

»Flo! Du bist schon da?«

»Bin gestern Nacht angekommen!« Ihre Mitbewohnerin stemmte die Hände in die Hüften. »Der Zug war tatsächlich mal pünktlich. Und wenn ihr beide kurz die Finger voneinander lassen könntet, geb ich dir ein Update von allem, was du wissen musst. Ich war nämlich schon bei Adair, und der hat mir unseren neuen Stundenplan gegeben. Wir haben nicht mehr so viel Theorie, das ist schon mal gut.« Florentine war einen Kopf kleiner als Allegra, dafür redete sie doppelt so schnell.

»Stimmt«, warf Arthur ein. »Ich bin fast wahnsinnig geworden mit der ganzen Leserei. Ab jetzt trainieren wir in der Traumzeit. Dafür dürfen die Geschwisterkinder hier in die Schule gehen. Gabriella findet es momentan noch toll. Mal sehen, wie lange.«

»Pff«, machte Allegra, die sich an ihre hoffnungslose Verwirrung in den ersten Unterrichtsstunden erinnerte. Sie hing in den theoretischen Fächern immer noch hinterher, aber zumindest hatte sie die Grundlagen mittlerweile verinnerlicht. Klassifizierung von Träumen? Machbar. Einordnung der Membranen? Kinderspiel. Und wie sich die Dream Intelligence zu dem entwickelt hatte, was sie heute war – nun, für Geschichtsunterricht würde später noch Zeit genug sein. Wenn sie diese Schlacht geschlagen hatten, ihre Eltern wieder zurück waren und ein halbwegs normales Agentenleben für sie begann.

Nebeneinander liefen sie zu den Bungalows. Die Häuschen aus schwarzem Stein mit den großen, verdunkelten Fenstern machten einen eher abweisenden Eindruck. Neben jedem Haus stand an einer Ecke ein großer Traumstab, knapp zwei Meter hoch. Manche Stäbe waren ganz gerade, manche drehten sich in einer Spirale nach oben, wieder andere waren eher gewellt, wie die Stäbe, an denen sich im Sommer Tomatensträucher nach oben ranken. Traumstäbe bestanden aus einer Art Iridium-Legierung und machten in ihrer direkten Umgebung jedes unbefugte Eindringen in Träume unmöglich. So schützte die Akademie ihre Mitglieder, und vorsichtshalber waren jetzt auch rund um das Gelände Stäbe angebracht worden. José Adair hatte Viktor Mortensen den Kampf angesagt und versprochen, dafür zu sorgen, dass dieser nie wieder in den Köpfen der Agenten herumspukte.

Das Haus von Allegra und Florentine befand sich in der zweiten Reihe. Allegra hielt ihre Hand vor den Scanner neben der Haustür und wartete auf das Klicken. Die Tür schwang auf und eröffnete ihr das bereits vertraute Halbdunkel, in dem sie die Küchenzeile und das gemütliche Sofa erkannte. Sie drehte sich um, blinzelte in die Sonne und legte Arthur die Arme um den Hals. »Wir sehen uns später, ja?«

Arthur stand auf der Treppe unter ihr, sodass ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Er legte seine Stirn an ihre. »Okay«, sagte er, und sein Atem strich über ihre Wange. Dann küsste er sie zärtlich, bis Florentine hinter ihnen in die Hände klatschte. »So, ihr zwei Lovebirds, es reicht jetzt.«

»Hey!«, protestierte Allegra, meinte es aber nicht böse.

Florentine tippte auf ihre Armbanduhr. »Es ist jetzt halb zwölf. Um zwei geht’s weiter. Wir haben Selbstverteidigung bei Madame Berger und danach eine Einheit in der Traumzeit.«

»Wer unterrichtet das denn jetzt?«, fragte Allegra. Professor Hammond, ursprünglich für die Traumzeitausflüge der Studenten zuständig, hatte sich heimlich Mortensen angeschlossen und vor den Augen seiner Kollegen und Studenten Madame Reloy, eine allseits geschätzte Kollegin, ermordet. Allegra sah vor ihrem inneren Auge immer noch die Blutlache, die sich unter ihr ausgebreitet hatte, und schauderte.

»Adair selbst. Ich geh jetzt, Allegra. Ciao, Flo. Bis nachher.« Arthur winkte ihnen beiden zu, warf Allegra noch eine Kusshand zu und zog von dannen.

»Wie, Adair selbst?«

»Ich hatte noch keine Stunde bei ihm«, sagte Florentine. »Aber ja, er übernimmt einen Teil des Unterrichts, hab ich gehört. Muss ziemlich intensiv sein.«

Allegra nickte beeindruckt. Sie hatte Adair bereits in Aktion erlebt, sowohl in der Traumzeit wie auch in der Realität, und festgestellt, dass er nicht umsonst Direktor der Akademie geworden war. In dem blassen Spanier brannte eine Flamme, die auch Mortensen nicht hatte löschen können.

Allegra zog den Koffer in ihr Zimmer und stellte ihn vor dem Bett ab. Es sah alles so aus, wie sie es verlassen hatte: die blaue Tagesdecke auf dem Bett, das Bild von Elena an der Wand. Ansonsten war es recht karg, sie hatte ja auch noch nicht viel Zeit hier verbracht. Sie packte den Stapel Taschenbücher aus, den sie in München in ihrer Lieblingsbuchhandlung besorgt hatte, und stellte sie ins Regal, hängte die Sommerkleider auf Bügel und wechselte bei dieser Gelegenheit gleich von der Jeans in eine knielange Sportleggins. Dann marschierte sie hinüber zu Florentine und ließ sich bei ihr aufs Bett fallen. Florentines Zimmer wurde dominiert von zwei Postern.

»Wow, das ist neu.« Allegra zeigte auf einen großformatigen Druck, auf dem ein Wasserfall zu sehen war, der bestimmt fünfzig Meter in die Tiefe stürzte.

»Von mir«, sagte Florentine stolz. »Meine Eltern haben das Foto groß aufziehen lassen, als Glückwunsch für mein erstes bestandenes Jahr an der Akademie.«

»Toll! Ich wusste gar nicht, dass du fotografierst. Also nicht so gut, meine ich.« Allegra stopfte sich zwei Kissen in den Rücken und lehnte sich an die Wand. Florentine setzte sich neben sie.

»Danke. Mir macht es einfach Spaß, mit Perspektiven zu experimentieren. Zu schade, dass man in die Traumzeit keine Kamera mitnehmen kann. Das wäre der Hit.«

Allegra grinste. »Das wäre so was von cool. Ich frage mich sowieso, ob wir, wenn wir in der Ebene eins vor den Träumen stehen, alle immer genau das Gleiche sehen. Oder ob jeder von uns die Traumwelt ein bisschen anders wahrnimmt. Was die Farben betrifft, zum Beispiel.«

»Kannst ja nachher gleich mal Direktor Adair fragen.« Florentine drehte sich auf den Bauch, streckte den Arm aus und zog ein Blatt Papier vom Nachttisch. »Schau mal, so sieht unsere Woche jetzt aus: Morgens Theorie, mittags Kampftraining, nachmittags Traumzeit. Und das quasi fünf Tage die Woche. Die Ferien fallen aus.«

»Aus gutem Grund«, sagte Allegra nachdenklich und überflog den Plan. »Wir können uns keine Ferien leisten. Nicht, solange Mortensen frei herumläuft und eine Schattenakademie aufbauen will.« Sie presste den Namen ihres Feindes förmlich heraus.

»Schattenakademie?«

»So hat Corlaeus es genannt. Also eine zweite Akademie, die nach und nach die Akademie Adair verdrängen und damit die Zielrichtung der Dream Intelligence ändern will.« Sie faltete das Papier und ließ es auf den Boden segeln. Sie würde es nachher mitnehmen.

»Ach so. Der Begriff passt. Außerdem versteckt der Typ sich.« Jetzt legte Florentine ihre Hand auf Allegras. »Wie geht’s dir? Mit deinen Eltern und so? Kommst du klar?«

»Ja. Es war voll seltsam, sie zu sehen, irgendwie. So irreal. Und gleichzeitig wundervoll.« Allegra schluckte. »Jetzt muss ich nur noch ihre Seelen finden und zurückbringen.«

»Nur ist gut«, murmelte Florentine. »Aber du hast ja Madame Pinot gehört. Alle werden mithelfen, und ich bin sicher, dass ihr am Ende wieder eine Familie sein werdet!«

Allegra drückte Florentines Hand. »Danke. Dass du das sagst, bedeutet mir wirklich viel. Und jetzt erzähl mir noch mal, weshalb du dich auf der Beerdigung versteckt hast?«

»Ach, mir gingen die ganzen Leute auf die Nerven. Ich wollte nur von meiner Uromi Abschied nehmen, und stattdessen findet da so ein Volksauflauf statt. Es war schrecklich! Also hab ich mich mit meinem Weinglas verdünnisiert. Und mein Onkel hat nichts Besseres zu tun, als mich zu suchen und mir einen Vortrag darüber zu halten, wie man sich bei einer solchen Festivität – ich schwöre, genau so hat er es genannt – verhält. Florentine, du bist jetzt erwachsen, und blablabla. Ich hätte ihm am liebsten den Rotwein über den Kopf gekippt.«

»Also ich hätte mich nicht beherrschen können, glaube ich«, sagte Allegra und musste wider Willen grinsen. »Und so wie ich deine Urgroßmutter erlebt habe, war sie auch nicht zimperlich, wenn ihr was nicht passte. Das hast du bestimmt von ihr.«

Florentine sah kein bisschen schuldbewusst aus. »Kann schon sein.« Dann setzte sie sich in den Schneidersitz und sah Allegra mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und jetzt: bitte ein paar Details! Du und Arthur«, sie wedelte mit der Hand, »habt ihr schon …?«

»Äh …«

»Ich frag nur. Wir leben hier alle eng zusammen, und die Häuser sind hellhörig, und ich hab keine komplett dichten Kopfhörer –«

Allegra hielt Florentine kurzerhand den Mund zu. »Also wenn ich sturmfreie Bude brauche, sag ich Bescheid, okay? Ehrlich, wir haben doch gerade wirklich andere Probleme.«

»Aber genau in solchen Krisenzeiten braucht man doch …«

Allegra schnappte sich Florentines Kopfkissen und warf es nach ihr. Florentine fing es lachend auf und ließ sich mitsamt dem Kissen rückwärts aufs Bett fallen. »Ist ja gut. Ich dachte nur, ich frag mal.«

»Haha«, machte Allegra und griff nach einem zweiten Kissen. »Hab ich dich schon mal nach deinem Liebesleben gefragt?«

»Nein. Aber das ist ja momentan auch nicht vorhanden. Im Gegensatz zu deinem.«

»Ich erzähl dir mal was über Liebesleben.« Allegra wechselte das Thema und berichtete über Elenas neuen Freund.

»Ach du Schande!«, war Florentines spontane Reaktion. »Das ist schwierig.«

»Du sagst es!«, schloss Allegra düster. »Schwierig ist die Untertreibung des Monats.«

 

Allegra pinnte ihren neuen Stundenplan an eine kleine Korkpinnwand neben ihrem Schreibtisch. Florentine und sie hatten noch ewig gequatscht und sich gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht. Ihr blieben nur noch ein paar Minuten, bis der Unterricht wieder losging. Sie öffnete das Fenster und sah nachdenklich hinaus. Die Kiefern, die zwischen den rund zwanzig Bungalows standen, bildeten ein schattiges Dach, das das grelle Sonnenlicht filterte. Jetzt, im Juni, duftete es bereits würzig nach Thymian, der sich wie Unkraut auf der Wiese breitmachte. Und wenn sie die Augen schloss, meinte sie, das Meer zu riechen.

Ein heißer Luftschwall wehte ihr ins Gesicht, und mit einem Seufzer schloss sie das Fenster wieder und machte sich auf zum Unterricht.

Eine Gruppe von rund zehn Studenten und Studentinnen hatte sich vor dem Trainingsraum im hinteren Teil des Hauptgebäudes eingefunden. Allegra wurde von den meisten herzlich begrüßt, nur Laurie Harper, die blonde, elfengleiche Engländerin, hielt sich im Hintergrund.

Allegra ging auf sie zu. »Hey«, sagte sie.

»Selber hey«, gab Laurie zurück, nahm aber die offensichtliche Aufforderung zum Gespräch nicht an. Allegra meinte zu wissen, weshalb. Laurie musste unter schrecklichen Schuldgefühlen leiden. Ihre Schwester Jenny hatte, genau wie Professor Hammond, in Mortensen die Verheißung einer besseren Zukunft gesehen und sich ihm angeschlossen. Unbemerkt hatte sie die Traumstäbe innerhalb der Akademie außer Kraft gesetzt. Damit hatte sie entscheidend dazu beigetragen, dass mehrere Studenten im Schlaf manipuliert werden konnten. Einige von ihnen würden womöglich lebenslange Schäden davontragen. Das war unverzeihlich. Ganz abgesehen von dem Verrat, den sie damit an der Akademie, an ihnen allen, begangen hatte.

In diesem Moment tauchte Madame Berger auf. Sie war Adairs rechte Hand und unterrichtete hauptsächlich Sport.

In der Halle waren Hindernisse aufgebaut. Parkour, schoss Allegra unwillkürlich durch den Kopf. Ihr Exfreund hatte das zweimal die Woche gemacht. Im Prinzip ging es darum, Stangen hochzuklettern, über Kästen zu springen, unter Bänken hindurchzukriechen und über Balken zu balancieren. Und das so schnell wie möglich. Madame Berger scheuchte ihre Schüler eine Stunde lang gnadenlos durch die Halle und ließ ihnen zwischendurch kaum Zeit, um etwas zu trinken. »Allez, allez!«, rief sie, wenn jemand japsend auf dem Boden saß, und: »Das ist keine Rückenschule für Senioren, ihr seid hier, um euch zu verbessern. Also, auf, auf! Keine Müdigkeit vorschützen!«

Zuletzt kletterten Florentine und Allegra hintereinander über eine gut drei Meter hohe, frei stehende Sprossenwand. Florentines Gesicht war fast so rot wie ihre Haare. Sie ließ sich die letzten eineinhalb Meter einfach auf die dicke Matte darunter fallen, rollte sich ab und schlurfte stöhnend zu der Bank an der Hallenwand, ließ sich darauf sinken und griff nach ihrer Wasserflasche. Auch Arthurs T-Shirt war schweißgetränkt. Er wartete, bis Allegra die letzte Hürde überwunden hatte, dann hielt er ihr eine Flasche hin.

Allegra trank in gierigen Schlucken. »Ich will eine Dusche«, keuchte sie. »Oder gleich einen See. Da tauch ich unter und komm nie wieder raus.«

Arthur schmunzelte. »Wir gehen am Wochenende an den See, versprochen.« Er nahm Allegra die Flasche ab. »Hey, du hättest mir was übrig lassen können.«

»Sorry«, murmelte Allegra. »Hab ich gar nicht gemerkt.«

»Ah ja.« Arthur schüttelte die Flasche und hielt sie über sich mit der Öffnung nach unten, als würde er noch ein paar Tropfen erwarten.

»Wozu brauchen wir so eine Schinderei eigentlich?«, fragte Laurie, die sich – Allegra musste zweimal hinschauen – einen batteriebetriebenen Taschenventilator vors Gesicht hielt und sich damit abkühlte. »In der Traumzeit ist es doch egal, ob wir fit sind oder nicht. Ist ja ohnehin alles nur eine Frage der Vorstellung.«

Das war wohl etwas zu laut gewesen, denn Madame Berger blies in ihre Trillerpfeife. »Kurze Pause für alle«, verkündete sie. Dann stützte sie die Hände in die Seiten und sah ihre Schüler einen nach dem anderen an. »Um deine Frage zu beantworten, Laurie: Deine Theorie stimmt nicht. Natürlich ist die Traumwelt eine geistige Dimension. Aber wie dein Körper mit dieser Anstrengung umgeht, das hängt von deinem Fitnessgrad ab. Ihr liegt zwar auf den Ottomanen im Traumsaal, alles spielt sich woanders ab, aber glaubt ja nicht, dass ihr die körperlichen Auswirkungen vernachlässigen dürft.« Sie klopfte mit dem Fuß auf den Boden. »Und in diesen gefährlichen Zeiten ohnehin nicht. Wir können uns keinen Ausrutscher erlauben. Um gegen Viktor Mortensen zu bestehen, müssen wir alle körperlich und geistig auf dem höchstmöglichen Level sein, das wir erreichen können.«

Laurie hielt sich weiterhin den Ventilator vors Gesicht. Er surrte leise. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich halte diese tägliche Rumrennerei dennoch für Zeitverschwendung. Warum gehen wir stattdessen nicht alle zwei Tage auf Patrouille?«

»Hast du mir nicht zugehört? Wenn du nicht fit bist, kannst du gar nicht länger auf Patrouille gehen. Und nun habt ihr euch genug erholt! Bitte stellt euch in Zweierteams auf. Wir machen mit den Grundlagen der Selbstverteidigung weiter.«

Madame Berger kannte kein Pardon. Sie übten eine Abfolge von Schlägen und Abwehrpositionen, dann gingen sie zu Tritten über, mit und ohne Drehung. Allegra, die bis vor einigen Jahren Karate trainiert hatte, kam damit gut zurecht. Sie drehte sich blitzschnell um die eigene Achse und deutete einen Tritt in Florentines Gesicht an, stoppte kurz vor ihrer Nase.

Die blinzelte überrascht. »Boah, nicht schlecht«, sagte sie, zielte ihrerseits mit der Faust in Richtung von Allegras Kinn und senkte ihre Hand gerade noch rechtzeitig.

Allegra zuckte zurück. »Hey, noch ist das hier kein Kontaktsport! Du musst vor dem Ziel stoppen, das weißt du, oder?«

»Ups.«

»Ja. Ups. Genau.« Allegra grinste und sah sich um. Arthur und Jean, ihr Kommilitone mit dem kahlen Schädel, waren in einen Zweikampf verwickelt. Sie deuteten nicht gerade sanfte Schläge an und würden sich, wenn es so weiterging, demnächst am Boden wälzen. Laurie stand mit bebenden Mundwinkeln einer großen, blonden Studentin gegenüber, die sie finster anblickte und gerade zu einem Tritt auf Kniehöhe ausholte. Immer wieder hörte man dumpfes Klatschen und lautstarken Protest, wenn doch jemand seinen Schlag nicht rechtzeitig stoppte. Madame Berger ging mit gerunzelter Stirn durch die Reihen, korrigierte Technik und Stand und ließ sich ansonsten nicht aus der Ruhe bringen.

Bam!

Allegras Wange brannte, und von Florentine kam ein überraschtes Quieken. »Oh nein! Sorry!«

»Spinnst du?«

»Ich hab es nicht so mit dem Timing von diesen Schlägen.« Florentine sah sie zerknirscht an.

»Ist nicht so schlimm. Du hast mich nur überrascht. Madame Berger«, rief sie durch die Halle, »haben Sie nicht ein paar kleine Matten, auf die wir zielen können? Sonst fließt hier noch Blut.«

Madame Berger musterte Allegras Wange, die noch ordentlich von Florentines Schlag brannte, griff in eine Box und reichte ihr ein Kühlpack. »Es ist ohnehin genug«, gab sie zurück. »Alle zuhören, bitte.«

Jean und Arthur rappelten sich vom Boden auf und klatschten sich ab.

»Wir machen Schluss. Dehnt euch bitte noch fünf Minuten, sonst gibt es Muskelkater. Wir sehen uns morgen.« Madame Berger kam auf Allegra und Florentine zu. »Allegra, heute Abend nach eurer Traumzeitstunde findet eine Ratssitzung statt. Kommst du bitte dazu? Florentine«, sie machte eine Pause, »du auch, bitte.«

»Wieso denn ich?« Florentines rotes Gesicht wurde noch röter.

»Weil du zu Allegras Team gehörst. Genauso wie Arthur.« Madame Berger runzelte die Stirn. »Und weil wir nicht wollen, dass ihr drei wieder einen Alleingang unternehmt.« Ihre Augen blitzten. »Ich hätte große Lust, euch eine Stillhaltevereinbarung unterschreiben zu lassen. Aber das ist hoffentlich nicht nötig.«

Allegra zog innerlich eine Grimasse. Ihren letzten sogenannten Alleingang hatten sie nur wie durch ein Wunder überlebt. Insofern konnte sie die Lehrerin gut verstehen. Zugeben würde sie das allerdings nicht. »Wer ist denn jetzt eigentlich im Rat?«, fragte sie stattdessen.

»Der Direktor, Corlaeus, Madame Pinot und ich. Kommt um sieben zum Haupteingang, wir fahren gemeinsam zum Abendessen in die Stadt.«

Arthur trat näher. »Ich muss mich aber um Gabriella kümmern, bis meine Eltern an die Akademie kommen«, sagte er zögernd. Er beugte sich zu seiner Tasche hinunter, zog ein Handtuch heraus, hängte es sich um den Nacken und versuchte, mit einem Zipfel sein Gesicht abzutrocknen. »Da kann ich sie nicht allein lassen, schon gar nicht abends.«

»Deine Schwester bleibt bei den Walkers aus Edinburgh, das habe ich vorhin schon mit ihr besprochen«, erklärte Madame Berger. »Sie kann mit der Familie zu Abend essen und dort auch übernachten.«

Normalerweise aßen die Studenten und Professoren in der Mensa im Hauptgebäude. Madame Marius kochte mit Hingabe und Talent und verwöhnte ihre Studenten gerne mit internationalen Köstlichkeiten. Doch seit so viele Familien auf dem Gelände lebten, sei sie überlastet, erklärte Madame Berger weiter. Alle Bungalows besäßen eine kleine Küchenzeile, und so hätten einige Mütter und Väter die Küchenausstattung aufgestockt und kochten selbst. »Die Walkers haben zwei Enkelinnen, beide ungefähr in Gabriellas Alter«, schloss sie.

»Ah, dann ist ja gut«, sagte Arthur erleichtert. Er legte Allegra einen Arm um die Taille. »Jetzt ist es kurz vor vier. Um halb fünf müssen wir im Traumsaal sein. Ich geh duschen, treffen wir uns nachher dort?«

Allegra lächelte ihm zu. Wieder flatterten Schmetterlinge in ihrem Bauch. Wenn sie Arthurs Körper so nah an ihrem spürte, fühlte es sich an, als befände sich zwischen ihnen ein elektrisches Feld. Sie hatte sich überhaupt nicht verlieben wollen – Arthur nach eigener Aussage auch nicht –, beide waren sie von ihren Gefühlen überwältigt worden. Und es könnte nicht schöner sein! Sie genoss jede Minute mit ihm und war froh, in ihm jemanden gefunden zu haben, der Teil ihrer neuen Welt war. Wie die Sache mit Elena und Quirin funktionieren sollte, ohne ihn hineinzuziehen, war ihr schleierhaft.

»Kann denn Gabriella Englisch?«, fragte Florentine. »Ich habe Elaine Walker neulich beim Essen getroffen und wegen ihrem schottischen Akzent nur die Hälfte verstanden.«

Arthur grinste. »Meine Mutter kommt ja aus der Nähe von London, sie spricht viel Englisch mit uns. Ich glaube, die unterhalten sich in drei Sprachen und mit Händen und Füßen. Irgendwie klappt das schon.«

Allegra, Florentine und Madame Berger lachten.

 

Nach einer schnellen Dusche ging es auch schon weiter. Allegra band sich die feuchten Haare im Gehen zu einem Zopf zusammen, Florentine versuchte, ihre roten Wuschelhaare mit einer Bandana zu bändigen. »Warst du mit Corlaeus oft in der Traumzeit?«, fragte sie.

Allegra nickte. »Er hat mich stundenlang an den Membranen üben lassen. Mittlerweile kriege ich es ganz gut hin. Aber wie man den Anker macht, ist mir immer noch nicht klar. Ich schaff es einfach nicht, mich genug zu konzentrieren.«

Normalerweise gingen Agenten immer in kleinen Teams los. Ein Agent fungierte als Anker, behielt sozusagen die Wirklichkeit mit im Blick und – ganz wichtig – die Sanduhren, damit alle Teammitglieder auch rechtzeitig wieder zurückkehrten.

»Komisch, das fand ich immer einfach«, sagte Florentine. »Hätte ich auch nie gedacht.«

»Du bist ein super Anker«, sagte Arthur, der sich zu ihnen gesellt hatte und jetzt hinter ihnen das Hauptgebäude betrat.

Florentine warf ihm über die Schulter einen misstrauischen Blick zu. »Ein Kompliment von dir? Du willst doch was von mir. Also?«

Arthur zuckte mit den Schultern. »Gar nichts.« Dann grinste er schief. »Vielleicht zwischendurch mal sturmfreie Bude mit Allegra?«

»Ha!« Florentine stieß Allegra den Ellbogen in die Seite. »Was hab ich gesagt?«

Allegra wurde knallrot, schüttelte nur den Kopf.

Sie stieß die großen Flügeltüren auf und betrat zum ersten Mal seit dem Kampf gegen Viktor Mortensen den großen runden Saal, in dem die Studenten lernten, sich in die Traumwelt zu begeben. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu Boden, sie sah Madame Reloy reglos in einer Blutlache liegen. Ihr Atem stockte, sie kniff die Augen zusammen. Als sie erneut einen Blick wagte, war der Boden leer.

Erleichtert ließ Allegra die Schultern sinken, merkte, dass sie die Fäuste geballt hatte, und lockerte die Finger.

Direktor Adair, der in der Mitte des Saales am Projektor stand, nickte ihr ernst zu. Allegra wusste nicht genau, wie sie ihn begrüßen sollte. Sie war in ihrem Innersten erschüttert gewesen, als herauskam, dass er ihr und Elena verschwiegen hatte, dass ihre Eltern noch am Leben waren. Doch er hatte ihr versprochen, jetzt alles zu tun, um sie zurückzubringen. Corlaeus vertraute ihm, also würde sie das auch tun. Sie nickte zurück. Sein ohnehin immer blasses Gesicht war noch schmaler geworden, er hatte tiefe Schatten unter den Augen, aber seine Stimme klang kräftig, als er die Gruppe begrüßte. »Buenas tardes. Schönen Nachmittag, alle zusammen. Ich stelle gleich Teams zusammen, setzt euch dann bitte nebeneinander auf eine Liege.«

Allegra stutzte. José Adair, der Inbegriff des bürokratischen Beamten, war zum Du übergegangen? Aber es gefiel ihr. Es fühlte sich an, als seien sie alle näher zusammengerückt, seit die Bedrohung so greifbar geworden war. Adair teilte Florentine und Arthur jeweils anderen Gruppen zu, Allegra bildete mit Jean und Laurie ein Team.

Jetzt hob Adair die Hand, und es wurde still. »Heute üben wir den schnellen Wechsel von unserer Dimension in die Traumwelt. Wir müssen damit rechnen, dass wir Mortensen oder seinen Anhängern in der Traumzeit begegnen werden. Ich kann die Patrouillen nicht aussetzen, bis die Gefahr gebannt ist. Ihr wisst, wie ihr mit dem Summton arbeitet – dafür ist aber nicht immer genügend Zeit. Also werdet ihr lernen, wie ihr innerhalb von wenigen Sekunden auf die erste Ebene kommt, und auch eure Rückkehr muss deutlich beschleunigt werden.«

Tuscheln setzte ein.

»Wie soll das denn gehen?« Arthur klang zweifelnd. »Dimensionswechsel geht doch nur behutsam. Etwas anderes habe ich noch nie gehört.« Und das wollte etwas heißen, dachte Allegra. Arthur hatte so ziemlich die komplette Literatur zum Traumwandern verinnerlicht.

»Normalerweise ja. Aber in Zeiten wie diesen müssen wir uns umstellen. Die letzten Wochen haben wir nicht nur das Gelände komplett abgesichert, Madame Pinot und ich haben auch die Fachliteratur durchstöbert und für euch eine neue Methode entwickelt«, erklärte Adair, und die Studenten schauten ihn gespannt an. »Wir üben es in einzelnen Schritten. Zuerst helft ihr euch gegenseitig: Einer ist der Anker, der zweite steht fest auf Ebene eins, und der dritte wird – so könnt ihr euch das vielleicht am besten vorstellen – von den beiden hin- und hergeschubst. Wie ein Ball, den man sich zuwirft. Zu Beginn langsam und vorsichtig, dann immer schneller.«

Unruhe brach im Saal aus, alle redeten durcheinander. »Tennisball oder Luftballon?«, rief jemand.

»Volleyball«, lachte Florentine und zwinkerte Allegra zu.

Adair wartete den Tumult einige Sekunden ab, dann bat er um Ruhe. »Ihr werdet sehen, es funktioniert. Jetzt setzt euch nebeneinander und fasst euch an den Händen.«

»Wer macht was?«, fragte Jean die beiden Mädchen.

»Ich kann noch nicht verankern«, gab Allegra zu.

»Dann gehe ich vor, Jean bleibt hier, und du … du bist der Ball«, schlug Laurie vor, die ihre schlechte Laune von vorhin anscheinend überwunden hatte und interessiert und aufmerksam wirkte.

»Okay«, sagte Allegra zögernd. »Ich bin der Ball.« Bevor sie sich zwischen die beiden auf die Liege setzte, suchte sie Arthurs Blick. Er saß am Rand seines Teams. Als er erkannte, was Allegra blühte, gab er ihr ein Daumen-hoch-Zeichen, bevor er seinen Partner an der Hand nahm.

»Alle bereit? Wechselt alle bitte auf Ebene eins, und seht von dort aus zu. Ich zeige euch an Allegras Beispiel, wie es weitergeht.« Adair sah sie der Reihe nach an, dann drehte er eine der großen Sanduhren um, und der violette Sand begann zu rieseln.

Laurie schloss die Augen, summte einen leisen Ton, Jean und Allegra fielen ein. Lauries Händedruck lockerte sich etwas, wurde dann wieder fester. Sie war in der Traumzeit angekommen. Jean richtete seinen Blick nach innen und folgte Laurie, blieb aber mit seinem Bewusstsein eher an der Oberfläche, was Allegra daran erkannte, dass er die Augen nur halb geschlossen hatte und immer wieder einen Blick auf die Sanduhr warf.

Tja, und was sollte sie jetzt tun? Bevor sie fragen konnte, kam Adair zu ihr herüber. »Schließ bitte die Augen, Allegra. Tu erst einmal gar nichts. Jean, nimm sie mit dir, und schiebe sie in Richtung Laurie«, forderte er. Jean nickte ansatzweise. Allegra spürte seine Finger, die ihre Hand beinahe schmerzhaft zusammendrückten. Und plötzlich zog etwas an ihr, erst an ihrem Bauchnabel, dann an ihrem Hinterkopf. Allegra atmete, so gut es ging, gleichmäßig weiter, doch schlagartig verstärkte sich das Ziehen. Es fühlte sich an, als würde ihr der Kopf von den Schultern gerissen. »Stopp!«, keuchte sie auf. »Das tut höllisch weh!«

»’tschuldigung«, murmelte Jean.

»Mit etwas weniger Kraft, Jean«, sagte Adair ruhig. »Es ist nicht schwer.«

Allegra zog verunsichert den Kopf ein. Adair hatte nichts davon gesagt, dass man dabei zerrupft wurde.

»Nicht verkrampfen. Entspann dich«, murmelte der Direktor, ging um die Liege herum und legte ihr von hinten sanft beide Hände auf die Schultern. Sie richtete sich auf, streckte den Hals und zog die Schultern nach unten, wie man es in jeder Meditationsstunde lernte.

Erneut ruckte es an ihrem Bauchnabel, dann spürte sie, wie es auch in ihrem Kopf anfing zu ziehen, aber diesmal ging Jean vorsichtiger zu Werke. Er zupfte mehr, als dass er zog.

»Lass dich führen«, hörte sie Adairs Stimme, und von einem Moment zum anderen verließ Allegras Seele den Traumsaal, und sie fand sich inmitten des dichten Nebels wieder, der so kennzeichnend für die Traumdimension war.

Laurie wartete schon auf sie. »Hey, da bist du ja«, sagte sie. Sie hatte die Kapuze ihres rosa Hoodies über den Kopf gezogen. Ihre Aura, das Energiefeld, das die Traumagenten umgab, schimmerte bläulich. Schemenhaft erkannte sie die anderen Studenten, die einen losen Kreis um sie herum bildeten.

Adair tauchte neben ihnen auf. »Sehr gut.« Er sah Allegra prüfend an: »Alles in Ordnung?«

»Mhm«, machte Allegra. In ihrem Kopf pochte es dumpf.

»Schaut alle genau her. Jetzt machen wir das Ganze rückwärts. Laurie, gib Allegra einen leichten Stoß. Aber bitte – ganz sanft. Zurück zu Jean.« Dieser stand ein paar Schritte von ihnen entfernt und sah Allegra besorgt an. »Tut mir echt leid«, sagte er.

»Passt schon«, erwiderte Allegra und fühlte im selben Moment, wie Laurie sie vorsichtig zu Jean hinüberschob. Der nahm sie in Empfang, sie schlug im Traumsaal kurz die Augen auf, dann kam bereits der nächste leichte Stoß, der sie zurück zu Laurie beförderte. Zurück in den Traumsaal, wieder hinüber auf die erste Ebene. Erneut. Und noch einmal.

Nach und nach entwickelten sie einen Rhythmus, Allegra wechselte immer schneller hin und her, bis Adair schließlich sagte: »Genug. Kommt alle zurück.«

Allegra ließ sich erst einmal auf die Liege sinken. Um sie herum drehte sich alles. Die Seele wie einen Gummiball hin- und hersausen zu lassen, war ganz schön anstrengend. Und nicht nur für sie. Auch Laurie und Jean sah man die Anstrengung an. Auf Jeans kahlem Schädel glänzten Schweißtropfen, und er polierte sich mit einem Zipfel seines Hemdes die beschlagene Brille.

»Wir waren gerade mal zwanzig Minuten weg«, sagte Jean mit einem verdutzten Blick auf seine Armbanduhr.

»Echt?« Laurie und Allegra antworteten gleichzeitig und in gleichem Maße ungläubig. »Dafür bin ich aber ganz schön fertig«, ergänzte Allegra.

Adair nickte. »Körperliche Fitness ist hier ein nicht zu unterschätzender Vorteil!«

Eine leises »Pffff« von Laurie war zu hören, und Allegra musste grinsen.

»Ruht ihr drei euch aus, ich werde jetzt eine Gruppe nach der anderen begleiten, und dann starten wir einen zweiten Durchgang.« Er durchquerte den Saal und stellte sich zu Florentines Gruppe.

Allegra legte sich auf die Seite, schob eine Handfläche unter ihren Kopf und beobachtete sie. In ihren ersten Wochen an der Akademie hatte sie wenig Gelegenheit gehabt, sozusagen von außen zuzusehen, wenn Agenten in die Traumzeit gingen. Ein Schauer überlief sie, und sie rollte sich enger zusammen.

Laurie, die es sich auf der benachbarten Liege bequem gemacht hatte, warf ihr eine Fleecedecke zu. »Du bist ganz bleich«, flüsterte sie.

Allegra zog die Decke bis zum Kinn hoch. »Danke. Ich weiß auch nicht, aber ich find’s plötzlich eisig hier. Ich könnte glatt einen heißen Tee vertragen.«

»Hier drin sind’s bestimmt fast dreißig Grad«, flüsterte Laurie und musterte Allegra besorgt.

Florentine und ihre zwei Mitstreiter saßen mit geschlossenen Augen da, sie atmeten, aber ihr Gesichtsausdruck war leer, man konnte ihnen ansehen, dass etwas … fehlte. Außer bei Florentine, die die Rolle des Ankers übernommen hatte und noch mit der Realität verbunden war. Auch hier protestierte Olivier, der Student, der als Ball fungierte, zuerst, aber das Team hatte den Dreh schnell raus. Adair machte einen zufriedenen Eindruck. Bei Arthurs Gruppe dauerte es etwas länger. Arthur kämpfte sichtlich damit, als Anker die Kontrolle zu behalten, und sein Partner beschwerte sich mehrfach darüber, dass Arthur so unsanft mit ihm umging. Doch auch ihnen gelang es nach einer Weile, einen Rhythmus zu finden. Als Adair sagte: »Genug. Die Nächsten«, und die Sanduhr stoppte, sah Arthur erleichtert aus. Er ließ sich von der Liege gleiten und kam zu Allegra herüber, die immer noch unter der Decke lag. Er kniete vor ihr und umfasste ihre Hände mit seinen. Arthur verströmte eine solche Wärme, dass es ihr schlagartig besser ging, und sie seufzte wohlig auf.

»Hey, wie geht’s dir?«

»Jetzt wieder ganz gut«, flüsterte Allegra, um die Konzentration der vierten und letzten Gruppe nicht zu stören. »Und dir?«

»Geht schon. Aber das war furchtbar«, murmelte Arthur an ihrem Ohr. »Rob hat sich beschwert, ich hätte mit seinem Kopf Baseball gespielt. Und geschworen, es mir heimzuzahlen. Dabei war ich so vorsichtig, wie ich konnte.«

Allegra rutschte auf der Liege so weit vor, dass sie ihre Stirn an seine lehnen konnte. »Auweia. Und gleich kommt auch noch ein zweiter Durchgang auf uns zu.«

Arthur verzog den Mund. »Ich weiß. Freu mich jetzt schon.« Er richtete sich auf. »Aber Adair hat recht, wir müssen schneller werden. Effektiver.«

Allegra schlug die Decke zurück und setzte sich vorsichtig hin, hörte in sich hinein. Ihr Kopf blieb klar, und sie zitterte auch nicht mehr. Gut. Sie war bereit für die nächste Runde!

Arthur gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze und ging zurück zu seinem Team, wo besagter Rob ihn schon mit misstrauischem Gesichtsausdruck erwartete. Allegra konnte nicht hören, was sie miteinander sprachen, aber keiner von beiden sah danach glücklicher aus. Doch bevor Arthur sich wieder ins Gefecht stürzen konnte, war sie selbst an der Reihe. Diesmal würde Jean der Spielball sein, befahl Adair, und Allegra sollte die Position in der Traumzeit einnehmen.

Allegra setzte sich diesmal nach außen, nahm Jeans Hand. Sie wartete, bis Adair die Sanduhr gedreht hatte und ihnen ein Zeichen gab, dann schloss sie die Augen und begann, sich in die andere Dimension zu summen. Es dauerte ein bisschen, zu viel ging ihr im Kopf herum, sodass sie zuerst Mühe hatte, sich zu konzentrieren. Doch dann lauschte sie auf Lauries Ton und merkte ein paar Atemzüge später, wie ihre Seele hinüberglitt und sie den Traumsaal verließ.

Auf der ersten Traumebene angekommen, sah sie sich um. Um sie herum leuchteten die Träume, und wenn sie genauer hinsah, konnte sie erkennen, was darin vor sich ging. Doch sie riss sich los. Wenn sie anfing zu gucken, würde sie nicht mehr aufhören können. Träume hatten Suchtpotenzial. »Wie eine Serie, bei der du eine Folge nach der anderen einfach gucken musst«, hatte sie Florentine letztens erklärt. »Ich bin dann so fasziniert, dass neben mir eine Bombe hochgehen könnte, und ich würde es nicht mal mitkriegen.«

Laurie tauchte ein paar Schritte von ihr entfernt auf. Sie würde diesmal die Sanduhr im Blick behalten. Als Letztes kam Adair und nickte ihnen zu. »Fang an, Laurie«, befahl er. Laurie gab Jeans Seele einen Schubs, und Allegra konnte förmlich sehen, wie Jean schneller als erwartet bei ihr ankam. Sie hob die Hände und versetzte ihm einen leichten Stoß in Richtung Laurie, Jean verschwand aus ihrem Blickfeld und tauchte eine Sekunde später wieder auf. »War das vorhin bei mir auch so?«, fragte sie Adair. »Man ist tatsächlich hier und dann weg und dann gleich wieder da?«

»Das ist der Plan«, bestätigte der Direktor.

Allegra verpasste Jean einen Stoß. »Aber wir sind ja nicht immer zu dritt«, gab sie zu bedenken.

Adair lächelte. »Das ist nur die Vorübung. Morgen oder übermorgen werdet ihr versuchen, diesen schnellen Wechsel auch alleine zu schaffen. Durch das Ballspiel sollt ihr ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, schneller unterwegs zu sein.«

»Ach so.« Allegra nahm Jean in Empfang und schob ihn in der nächsten Sekunde vorsichtig zu Laurie zurück.

Der zweite Durchgang klappte bei allen Gruppen schon wesentlich besser als der erste, niemand beschwerte sich über Kopfschmerzen, und auch bei Arthur und Rob lief es, zumindest soweit Allegra das von außen beurteilen konnte, reibungslos.

»Wir hören jetzt auf«, verkündete Adair schließlich. »Morgen machen wir weiter, sodass jeder einmal Spielball war. Bei Madame Pinot in der Theoriestunde werdet ihr übrigens noch diese Woche über die dem Ganzen zugrunde liegende Theorie sprechen und über die Regeln, die ihr beim Dimensionswechsel einhalten müsst, vor allem, wenn ihr jemanden – aus welchem Grund auch immer – in die Traumzeit mitnehmt. Wer will, kann das bei Meyer noch einmal nachlesen, ich vermute, dass es kaum einer von euch parat hat.«

Allgemeines Stöhnen und Augenrollen war die Antwort.

Adair schaltete ungerührt den Projektor aus. Allegra wandte sich zum Gehen.

»Allegra, einen Moment noch, bitte!«, rief er. Er wartete, bis sie zusammen mit Florentine und Arthur bei ihm stand, dann sagte er: »Du musst dringend das Verankern lernen.«

»Ja, ich weiß. Nur wie?«

»Komm morgen früh zu mir ins Büro. Um sieben. Ich gebe dir noch vor der Stunde bei Madame Pinot deine erste Anker-Einheit.« Er überlegte einen Moment. »Und ich habe auch schon den perfekten Trainingspartner für dich.«

»Wen denn?«, fragte Allegra neugierig, doch Adair winkte ab. »Morgen. Hat euch Elisabeth« – das war Madame Berger – »Bescheid gegeben wegen des Abendessens?«

Alle drei nickten.

»Gut. Wir treffen uns in einer halben Stunde vorne bei Corlaeus.« Damit entließ er sie.

Allegra schwirrte der Kopf. »Ich bin völlig fertig«, gab sie zu. »Und ich hatte heute Morgen noch nicht mal Theorie. Wie schafft ihr das bloß?«

»Schau mich an«, sagte Florentine, trat durch die Eingangstür nach draußen und breitete die Arme aus. »Seh ich vielleicht fit aus?« Die Haare klebten ihr an der Schläfe, sie hatte Schatten unter den Augen und war blasser als sonst.

Allegra grinste. »Nein. Nicht wirklich.«

»Siehst du. Oh, Arthur, da ist Gabriella.« Florentine wies nach links.

Arthur drückte Allegra kurz an sich. »Bis gleich, okay?«

Er bog zu seinem Bungalow ab, wo Gabriella auf den Stufen saß und bei seinem Anblick aufsprang.

»Gut, dass sie hier ist, wo sie sicher ist«, sagte Florentine nachdenklich. »Grässliche Vorstellung, dass jemand in den Träumen der Kinder herummarschiert und ihnen Dinge ins Ohr flüstert!«

»Mir wäre auch wohler, wenn Elena hier wäre. Aber sie wollte nicht. Und mit Quirin im Schlepptau geht das sowieso nicht.« Allegra seufzte.

»Deine Schwester ist erwachsen. Die kann auf sich aufpassen«, versuchte Florentine zu trösten.

Hoffentlich! »Ja, ich weiß schon«, sagte Allegra aber nur.

»Du solltest dir lieber Sorgen um dich machen.«

»Wieso?«

»Ankerstunde bei Adair? Lieber Himmel. Und auch noch so früh!«

»Meinst du? Ich fand ihn heute ganz okay. Also schon streng, aber nicht unfair oder so. Und ich kann sowieso nicht schlafen, bei allem, was mir hier im Kopf rumgeht.«

»Wer wohl noch dazukommt?«

»Er klang ganz geheimnisvoll. Ich schick dir ein Foto«, versprach Allegra grinsend.

 

Das Restaurant, in dem sie sich zum Abendessen trafen, lag mitten in Avignon. Der Fahrer hatte sie bis zum Place de l’Horloge gebracht, und zu Fuß waren sie Adair gefolgt, der zielstrebig durch die kleinen Seitengässchen marschierte. Noch war es hell, es hatte sich ein bisschen abgekühlt, und der Duft von Knoblauch und Kräutern lag in der Luft. Allegra hatte nach einer weiteren Dusche ihre Trainingsklamotten gegen ein Sommerkleid und halbhohe Ballerinas getauscht. Ihre Finger waren mit Arthurs verschränkt, und in diesem Moment war sie einfach nur glücklich. Ein Anflug von Kopfschmerz pochte noch in ihrem Hinterkopf, wurde aber immer schwächer.

Das La Goulue hatte mehrere große Gasträume, doch der Kellner führte sie in den Innenhof. Allegra staunte. Der Hof war von Wänden aus dem landestypisch roséfarbenen Stein eingefasst und war großzügig um mehrere alte, knorrige Olivenbäume herumgebaut, deren Zweige grünlich silbern schimmerten. Er bot Platz für sechs Tische. Große Windlichter standen zwischen den Bäumen auf dem Kies und warfen flackernde Schatten an die Wände. Die Tische waren mit weißen Decken und Lavendelgestecken dekoriert. Der Kellner geleitete sie zu der Tafel ganz hinten, auf der sieben Gedecke platziert worden waren. Leises Gemurmel erfüllte den Hof, drei Tische waren bereits besetzt.

Adair begrüßte an einem der kleineren Tische die Gäste, die gerade mit dem Aperitif begonnen hatten. Es waren zwei Männer, beide in dunkle Anzüge gekleidet, der ältere der beiden lockerte seine Krawatte und sah die Ankömmlinge neugierig an. Dann nickte er freundlich.

»Zwei Stadträte«, erklärte Adair leise, als sie alle um den ovalen Tisch Platz genommen hatten. »Ich habe neulich eine Anfrage vom Stadtmarketing bekommen, ob wir Werbung machen wollen. Da wir doch ein Weiterbildungsinstitut sind. Natürlich habe ich abgelehnt, aber seitdem sind sie neugierig geworden, wer oder was wir sind.« Er hängte sein Jackett über den Stuhl und lockerte seine Krawatte.

»Insofern ist es gut, dass wir uns in der Öffentlichkeit sehen lassen«, ergänzte Corlaeus. »Der Restaurantbesitzer, Monsieur Robert, ist gut mit dem Bürgermeister befreundet.«

Allegra legte sich die Stoffserviette auf den Schoß und griff nach einem Stück Brot. Während alle Wein und Wasser tranken, wählte sie eine Orangina. Corlaeus bestellte gebratene Sardinen als Vorspeise für alle. Als die große Platte mit den gegrillten Fischen vor ihnen stand und der Kellner sie mit Zitronensaft beträufelte, lief Allegra das Wasser im Mund zusammen. Sie aß die Sardinen mit Kopf und Schwanz und leckte sich nach einem halben Dutzend Fische genüsslich die Finger ab. Erst dann sah sie wieder in die Runde. Die anderen waren ebenfalls mit der Vorspeise beschäftigt. Adair schien keine Eile zu haben, die Ratssitzung zu eröffnen. Er hatte Allegras fragenden Blick anscheinend gespürt, denn er lächelte. »Erst essen, dann reden«, sagte er.

Der zweite Gang bestand aus Lammsteaks, gegrilltem Gemüse und Pommes frites. »Himmlisch«, murmelte Florentine, während sie sich eine Riesenportion auf den Teller schaufelte.

»Wobei Madame Marius nicht schlechter kocht«, kommentierte Arthur, der sein Lammstück am Knochen gefasst hatte und davon abbiss. »Gegen das Essen an der Akademie kann man nichts sagen. Ihre Pasta ist genauso gut wie die meiner Großmutter aus Sizilien.«

»Sag ihr das. Es wird sie freuen«, schlug Madame Berger vor. Eine Zeit lang sprach keiner, anscheinend hatte der Unterricht nicht nur die Studenten, sondern auch die Lehrer hungrig gemacht.

Erst nach einer Weile kam das Gespräch langsam wieder in Gang. Corlaeus und Berger unterhielten sich über einen Film, den sie kürzlich gesehen hatten, Madame Pinot erzählte eine heitere Anekdote von Florentines Urgroßmutter, die sie mehrfach getroffen hatte. Florentine musste kichern. Allegra wurde unruhig. Adair führte sie mit Sicherheit nicht aus stadtpolitischen Gründen zum Essen aus. Sie drückte unter dem Tisch Arthurs Hand und beugte sich zu ihm hinüber. »Wann lässt er die Bombe platzen?«, murmelte sie.

Arthur erwiderte den Druck, zuckte jedoch mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber irgendwas ist im Busch«, flüsterte er, das Gesicht halb hinter der Serviette verborgen, zurück.

Nach der Mousse au Chocolat schob Adair schließlich seinen Teller zurück und knöpfte seine Manschetten, die er zum Essen aufgekrempelt hatte, wieder sorgfältig zu.

»Ich hoffe, es hat jedem geschmeckt«, begann er und erntete allseits Nicken. »Kommen wir zu dem Grund, aus dem wir heute hier sind. Erstens: Allegra, du wirst ab morgen vor dem Unterricht jeweils ein bis zwei Stunden verankern lernen, dann müsstest du Ende der Woche so weit sein, dass wir dich auch als Anker einsetzen können.«

Allegra riss die Augen auf. »Jeden Morgen?«

»Ganz genau.«

»O…kay«, sagte sie gedehnt. »Dann fange ich jetzt schon mal an mit dem Kaffee.« Und sie kippte ihren Espresso runter. Das klang nach einem straffen Programm. Aber sie würde zur Not auch die Nächte durchtrainieren, wenn das die Chance, ihre Eltern wiederzufinden, auch nur ein klitzekleines bisschen erhöhen würde.

»Damit wäre das erledigt.« Adair räusperte sich, sein Blick wanderte ins Leere. »Und jetzt zum zweiten Thema, das ich mit euch besprechen möchte. Besprechen muss.« Er holte tief Luft. »Meine Tochter Sofia.«

»Oh José …«, sagte Madame Berger sanft, doch Adair hob die Hand. »Ich muss kurz etwas dazu sagen, Elisabeth. Ihr alle wisst, dass ich nicht unschuldig daran bin, dass Sofia zu Mortensen übergelaufen ist. Sie ist zu ihm geflüchtet, vor mir. Dennoch weigere ich mich, sie endgültig aufzugeben. Sie ist meine Tochter, und auch wenn sie auf den falschen Weg geraten ist, ist sie trotzdem nicht durch und durch böse.« Seine Stimme zitterte leicht, doch er sprach weiter. »Ich habe eine Bitte. Keinen Auftrag, eine Bitte. Wenn ihr in der Traumzeit unterwegs seid, haltet nach ihr Ausschau! Besonders du, Allegra.«

Allegra stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte nachdenklich das Kinn auf ihre verschränkten Hände. Der Berg an Aufgaben vor ihr wuchs und wuchs. Sie und Sofia hatten sich nie besonders leiden können, doch sie respektierte die Tochter des Direktors – vor allem, weil Sofia eine herausragende Traumwanderin war und ihr eine Menge beigebracht hatte. Langsam nickte sie.

»Ich weigere mich, sie verloren zu geben. Genauso wie Lauries Schwester Jenny.«

»Wir werden nach beiden suchen, José«, versprach Corlaeus mit seiner grollenden Stimme.

»Moment mal. Allegra muss in erster Linie nach den Seelen ihrer Eltern fahnden«, protestierte Arthur.

Allegra sah ihn dankbar von der Seite an. Sie wollte Adair seine Bitte nicht abschlagen, aber ihr war schleierhaft, wie sie das alles schaffen sollte. »Plus Verankern lernen, plus Unterricht, plus Sofia. Wie soll ich das alles schaffen? Oder anders gefragt: wann? Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden«, bemerkte sie.

»Wegen Sofia müsst ihr keine Extratouren in der Traumzeit machen«, erklärte Adair. »Ich bitte euch nur, die Augen offen zu halten, wenn ihr ohnehin da seid. Allegra, du wirst sowieso unzählige Träume durchsuchen müssen. Wenn dir also etwas auffällt …«

»Ja, natürlich. Aber trotzdem: Sie haben versprochen, dass die Suche nach meinen Eltern Priorität hat«, beharrte Allegra.

»Das weiß ich.« Adairs Augen funkelten, der einzige Hinweis darauf, dass ihm die Richtung, die das Gespräch genommen hatte, nicht gefiel. »Und du weißt, in welcher prekären Lage die Akademie ist.«

Allegra nickte und wartete gespannt. Würde Adair sein Versprechen brechen?

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Adair wieder das Wort ergriff: »Du wirst genügend Zeit haben.«

»Okay, dann machen wir morgen einen Zeitplan.« Mehr sagte Allegra nicht.

»Darf ich auch noch etwas fragen?« Florentine setzte ihre Kaffeetasse so schwungvoll ab, dass die Tischdecke braune Spritzer bekam. »Ups. Sorry.«

»Ja, bitte, Florentine?«

»Was sollen wir denn tun, falls wir sie finden? Sie festnehmen?«

»Solltet ihr Sofia begegnen, werdet ihr das tun, was ihr gerade übt. Sie blitzartig mitnehmen.«

Florentine blieb der Mund offen stehen. »Wie bitte? Wohin denn?«

Und Arthur warf stirnrunzelnd ein: »Ihr Körper kann sonst wo sein. Wir könnten sie höchstens zurückschicken.«

Adair lächelte grimmig. »Dazu wollte ich als Nächstes kommen. Ich habe mir Mortensens Idee zu eigen gemacht und beschlossen, einen Traum zu konstruieren. Wenn ihr Sofia oder Jenny findet, bringt ihr sie dorthin. Und dann kümmere ich mich um sie.« Er faltete die Hände auf dem Tisch und lehnte sich nach vorn. Der Reihe nach sah er alle in der Runde an. »Sofia und Jenny gehören zu uns. Wir müssen sie zurückbekommen.«

»Mit all dem Wissen, das sie über Mortensen haben«, ergänzte Corlaeus.

Berger wirkte nicht überzeugt. Sie fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Glases, sodass ein leises Klingen ertönte. »José, ich verstehe, dass dir vor allem Sofias Verlust zu schaffen macht. Aber sie ist erwachsen. Sie ist freiwillig gegangen. Du kannst sie nicht zwingen, zurückzukehren.«

»Ich kann ihr aber zeigen, dass unser Weg der bessere ist.« Adairs Augen blitzten.

Madame Berger seufzte leise. »Wenn sie dir zuhört. Was sie nicht tun wird, wenn du sie in einem Traum festsetzt.«

»Wir haben keine andere –«

»Wir müssen Sofia ohnehin erst einmal finden«, unterbrach ihn Corlaeus. »Hab Geduld, José.«

Adair biss sich auf die Lippen. Röte stieg ihm in die Wangen, doch er nickte. »Dann sind wir hier fertig.« Er winkte dem Kellner, der diskret immer wieder an ihrem Tisch vorbeiging, darauf bedacht, jeden Wunsch zu erfüllen. »Die Rechnung, bitte.«

»Selbstverständlich, Monsieur. A votre service.«

»Und wir haben auch noch eine Bitte an euch drei.« Corlaeus verschränkte die Arme vor der Brust. Sein weißes Leinenhemd spannte über seinen muskulösen Oberarmen. Unter buschigen Augenbrauen sah er Allegra, Florentine und Arthur streng an. »Keine Alleingänge diesmal. Verstanden?«

»Ganz genau. Die Situation ist gefährlich genug, niemand geht unkalkulierbare Risiken ein!« Adair wurde von dem Kellner unterbrochen, der mit der Rechnung in der Hand an ihren Tisch getreten war. Der Direktor erhob sich und zog seine Geldbörse aus seinem Jackett hervor.

»Okay«, antworteten Allegra, Florentine und Arthur unisono.

Im selben Moment trat Florentine Allegra unterm Tisch leicht ans Bein, und Arthur warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Allegra verzog andeutungsweise den Mund.

Ohne Alleingänge hätten sie Mortensen das letzte Mal nicht schlagen können.