3.

Ein nervtötendes Schrillen bohrte sich in ihren Schädel. Was zur –

Es hörte nicht auf, wurde immer lauter. Allegra stöhnte, drehte sich auf die andere Seite und vergrub den Kopf unter dem Kissen. Das Schrillen blieb. Ihr Wecker! Sie blinzelte zu ihrem Nachttisch.

Sie hatte schlecht geschlafen. Das Essen hatte wunderbar geschmeckt, aber sie hatte wohl zu sehr zugeschlagen. Stundenlang hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt, mehrere Gläser Wasser getrunken und schließlich sogar gelesen, in der Hoffnung, endlich einzuschlafen. Nichts hatte geholfen. Erst als der Morgen bereits dämmerte, war sie in einen unruhigen Halbschlaf gefallen.

Fluchend versetzte sie dem Wecker einen Schlag und rieb sich die Augen. Das Zimmer war in einen orange-goldenen Schein getaucht und ließ das Bild, das Elena für sie gemalt hatte und das über ihrem Bett hing, geradezu aufleuchten.

Leise, um Florentine nicht zu wecken, tappte Allegra ins Bad und stellte sich unter die Dusche, um einigermaßen wach zu werden. Nachdem sie sich die Zähne geputzt hatte, zog sie ein hellblaues T-Shirt und eine dünne Sweathose aus ihrem Schrank, schlüpfte in ein Paar Sneaker und band sich die feuchten Haare am Hinterkopf zusammen.

Ein zweiter Blick in den Spiegel ließ sie eine doppelte Schicht Concealer auftragen. Jetzt war sie startklar!

Schwalben flitzten hoch über ihr hin und her, kein Wölkchen war zu sehen. Aus einigen Bungalows hörte sie Kinderstimmen, ein paar Meter entfernt spielten zwei Kleinkinder bereits in einem Sandkasten, der die Form einer Schildkröte hatte. Die Traumstäbe mit den silbernen Kugeln an der Spitze wiegten sich im Morgenwind. Zwei Pärchen joggten an ihr vorbei und riefen ihr einen Gruß zu, um dann weiter Richtung Wald zu laufen, der sich über den hinteren Teil des Geländes erstreckte. Allegra musste grinsen. Die eine – Sylvie – hatte ihr verraten, dass sie jede Art von Sport, ja, jede Art von Bewegung hasste. Aber sie war verliebt. In einen Fitnessfanatiker. Also war sie zu jedem Opfer bereit.

Noch einmal ließ Allegra ihren Blick über die Akademie schweifen, die langsam zum Leben erwachte. Sie atmete tief die kühle Luft ein. Trotz der Gefahr, in der sie schwebten, war es schön, wieder hier zu sein.

Sie machte sich auf zum Hauptgebäude. Der Eingangsbereich war hell und luftig, Wasserkaskaden stürzten fast lautlos von den Wänden und verschwanden im Boden. Hier herrschte selbst tagsüber ein angenehmes Klima. Allegra stieg die Stufen der breiten Treppe hinauf. Für einen schnellen Kaffee in der Mensa blieb noch Zeit. Der große Raum war noch leer, doch Madame Marius und zwei Gehilfen waren schon dabei, das Frühstücksbüfett zu bestücken.

»Bonjour, Allegra«, sagte die Küchenchefin. »Schön, dich hier wiederzusehen. Darf’s schon was sein?«

»Milchkaffee und einen frischen Orangensaft, bitte«, antwortete Allegra und erhielt beides prompt. Sie verzichtete auf ein Tablett oder darauf, sich hinzusetzen, leerte das Glas Saft im Stehen und hielt die Tasse hoch. »Ich nehme das mit zum Direktor, okay?«

Madame Marius nickte zustimmend und verschwand durch eine Schwingtür in der Küche. Mit der randvollen Tasse in der Hand ging Allegra langsam die Treppe wieder hinunter, bemüht, nichts zu verschütten. Sie wandte sich nach rechts in den Gang, in dem die großformatigen Sandbilder an der Wand hingen. Vor der dritten Tür angekommen, trank sie vorsichtig einen Schluck und klopfte.

Drinnen waren Schritte zu hören, dann öffnete Adair und lächelte. »Guten Morgen. Schön, dass du pünktlich bist. Wir gehen gleich in den Traumsaal.«

Allegra folgte ihm, nippte im Gehen an ihrem Kaffee. Als die Tür zum Traumsaal aufschwang, fragte sie neugierig: »Wer ist denn jetzt eigentlich mein Übungspar– oh. Oh.« Und sie ließ vor Überraschung fast ihre Tasse fallen.

Sie musterte den jungen Mann, der auf einer der Ottomanen saß. Sein braunes, kurzes Haar mit der Locke, die ihm immer in die Stirn fiel. Die durchtrainierte Figur in Jeans und kurzem Hemd. »Hallo, Allegra«, sagte er und lächelte zurückhaltend, als wäre er nicht sicher, welche Art von Begrüßung Allegra ihm zukommen lassen würde.

Allegras Herz setzte kurz aus. Mit zitternden Fingern stellte sie die Tasse auf der nächstbesten Liege ab und stemmte die Hände in die Seiten. Sie betrachtete ihn einige Augenblicke wortlos. In ihr wirbelten Gedanken und Gefühle wild durcheinander.

Misstrauen.

Wut.

Enttäuschung.

»Lorenzo«, sagte sie und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

Adair, dem Allegras Unbehagen offensichtlich aufgefallen war, stellte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Bevor wir beginnen: Lorenzo genießt wieder das volle Vertrauen der Akademie, Allegra.«

Allegra nickte langsam. Sie sah dem Jungen in die Augen, der sie alle verraten hatte. »Wie geht’s dir?«, erkundigte sie sich schließlich. Sie konnten es sich nicht leisten, Zurückkehrer abzuweisen.

»Besser«, erwiderte der junge Spanier. Er wirkte schmaler, kantiger als noch vor wenigen Wochen. »Ich bin wieder ich«, fügte er trocken hinzu.

Jetzt lächelte Allegra ein erstes echtes Lächeln. »Das ist gut. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

»Wirklich? Du sahst grade so aus, als würdest du mich jeden Moment umbringen wollen.«

»Du hast mich noch nie richtig wütend erlebt, oder?« Allegra fühlte sich wieder in der Lage, Kaffee zu trinken, ohne sich zu verschlucken.

»Ein Mal. Du hast meine Wii geschrottet, und ich weiß heute noch nicht, wie du das angestellt hast.«

»Da war ich noch nicht wirklich wütend«, konterte Allegra. »Sonst wäre wahrscheinlich noch mehr zu Bruch gegangen. Aber jetzt ernsthaft – niemand mehr in deinen Träumen unterwegs? Und du auch in keinen, in die du nicht gehörst?«

»Ich schwöre es!«, sagte Lorenzo ernst.

»So, ich würde gerne beginnen!« Adair klang ungeduldig.

»Ja.« – »Entschuldigung.« Beide sagten es gleichzeitig. Die Stimmung hatte sich merklich entspannt. Lorenzo war einer der fähigsten Agenten gewesen, die die Akademie zu bieten hatte. Bis Sofia – zu dieser Zeit seine Freundin – ihn in seinen Träumen manipuliert hatte. Derart ferngesteuert, hatte er sein komplettes Team in den Tod geführt. Als ihm klar geworden war, was er getan hatte, war er in eine tiefe Depression gestürzt, doch obwohl seine Augen immer noch gehetzt blickten, vertraute Allegra auf Adairs Urteil. Er würde sie nicht gefährden. Und Lorenzo war unbestritten ein begabter Lehrer.

»Dann los!«, sagte sie und sah Adair gespannt an.

Lorenzo wusste, was er zu tun hatte. Er legte sich auf die Liege und schloss die Augen.

»Du positionierst dich so, dass du die Sanduhr im Blick behalten kannst. Später geht es auch ohne den direkten Blickkontakt zur Sanduhr, aber jetzt üben wir es nach dem Lehrbuch.«

Allegra kniete sich auf den kühlen Boden und legte eine Hand auf Lorenzos Arm. »Klopf nun mit der freien Hand einen langsamen Rhythmus. Zähle bis acht, dann wieder von vorn.«

»Kann ich das auch mit dem Fuß machen? Das fällt mir leichter.«

»Ja, natürlich.«

Allegra konzentrierte sich auf das Klopfen und Zählen, bis diese acht Schläge ihr gesamtes Denken ausfüllten.

Adairs Stimme war auf einmal ganz leise. »Jetzt wechselst du hin und her. Die ersten acht Schläge nimmst du wahr, was auf Ebene eins geschieht, dann richtest du deine Aufmerksamkeit für acht Schläge auf die Sanduhr, dann wieder zurück auf Ebene eins und so weiter. Kümmere dich noch nicht um Lorenzo. Den holst du später dazu.«

So, wie Adair es beschrieb, klang es ganz einfach. Allegra startete mit dem vertrauten Summton, fühlte schneller als üblich den Wechsel – aha, das Training von gestern zeigte bereits Wirkung, cool! – und zählte bis acht, dann kam sie zurück und schlug die Augen auf, zählte weiter –

»Fokussiere dich darauf, mehr in der Traumzeit zu bleiben. So etwa im Verhältnis siebzig zu dreißig. Kehre nicht ganz zurück«, forderte Adair.

Allegra schnaufte. »Okay. Ich versuch’s.«

Und sie zählte weiter. Begab sich in die Traumzeit und probierte, den Großteil ihrer Aufmerksamkeit dort zu lassen. Zu ihrer Verärgerung rutschte sie wieder komplett zurück.

»Verdammt!«, murmelte sie und startete den nächsten Versuch. Bei Florentine, bei Arthur, eigentlich bei allen, sah es so einfach aus. Dagegen war Membranarbeit ja ein Kinderspiel. Aber sie wollte es schaffen, unbedingt. In der Ebene eins zählte sie bis acht – und zögerte. Was, wenn es wieder nicht klappte?

Plötzlich stand Lorenzo neben ihr. »Schwierig, hm?«, fragte er. Der Nebel waberte ihnen bis zu den Knien, es sah aus, als hätte jemand eine Ladung Trockeneis neben ihnen ausgekippt.

»Ja, schon«, gab Allegra zu. »Ich weiß nicht, wie ich meine Aufmerksamkeit teilen soll. Ich bin entweder hier. Oder da. Aber nie gleichzeitig an beiden Orten. Wie machst du das denn?«

Lorenzo verschränkte die Arme. »Mir hat immer die Vorstellung geholfen, dass ich etwas schreibe und gleichzeitig ein Lied singe. Da hast du gleichzeitig verschiedene Wörter im Kopf. Versuch es damit.«

Allegra gehorchte und –

– landete erneut im Traumsaal. »Es klappt nicht«, berichtete sie, als sie wieder vor Lorenzo in der Traumwelt stand, und ließ den Kopf hängen.

»Die Zeit ist um«, erklang da Adairs Stimme, und sie und Lorenzo kehrten zurück.

»Das hast du gut gemacht, Allegra«, lobte der Direktor, »ich bin sehr zufrieden.«

Doch sie schüttelte den Kopf. »Wie können Sie zufrieden sein? Es hat überhaupt nicht funktioniert.«

»Ich habe nicht erwartet, dass du heute bereits ein perfekter Anker wirst«, erklärte Adair, »ich wollte dir erst einmal das Prinzip verdeutlichen. Wir haben die ganze Woche Zeit. Niemand lernt das Ankern am ersten Tag.«

Allegra presste die Lippen zusammen. Geduld war nicht ihre Stärke.

»Jetzt solltest du frühstücken, sonst fällst du in Madame Pinots Stunde noch um.« Er lächelte. »Du hast eine Menge vor dir. Aber ich möchte nicht, dass wir uns – oder du selbst dich – zu sehr unter Druck setzen. Erfolgreiches Traumwandern hängt ganz erheblich auch davon ab, wie sehr du dich entspannen kannst.«

Er ging zur Tür. »Kommt, ihr beiden, ich möchte den Saal zusperren.« Er wartete, bis Allegra und Lorenzo auf den Gang getreten waren, und hielt eine Karte vor den Scanner, bis es piepste. »Bis morgen, Allegra.«

»Okay. Danke, Direktor«, sagte sie und kniete sich hin, um sich die losen Schnürsenkel zu binden. Lorenzo blieb neben ihr stehen.

»Entspannung. Pff«, murmelte Allegra, während sie sich wieder aufrichtete. Sie streckte die Arme über den Kopf und verzog das Gesicht, als ihre Knochen knackten. »Boah, ich hätte nicht gedacht, dass Verankern so schwer ist.«

»Komm doch heute Nachmittag in meine Yogastunde«, schlug Lorenzo vor, während sie langsam nebeneinander in Richtung Eingang liefen.

»Geht leider nicht. Ich muss zu Madame Berger ins Training«, sagte Allegra. Sie setzte sich auf die große Treppe und beobachtete die Studenten, die nach und nach ins Gebäude strömten. Viele von ihnen sahen auch nicht unbedingt wacher aus als sie selbst.

Lorenzo nahm neben ihr Platz und rückte noch ein Stückchen näher, um eine Gruppe Mädchen vorbeizulassen, die wild gestikulierend die Treppe hinaufkamen. Ihre Knie berührten sich fast. »Dann rede mit ihr, ob du diese Woche vielleicht abwechselnd zu ihr und zu mir kommen kannst. Ich versprech dir, dass Yoga auch ganz schön anstrengend sein wird. Du musst keine Angst haben, dich nicht genügend auszupowern. Nur eben anders als bei Elisabeth.«

Allegra wollte schon ablehnen, dann fiel ihr auf, dass das vielleicht eine gute Idee war. »Ich frag sie.«

»Sei nicht zu streng mit dir.« Lorenzo legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, zog sie jedoch sofort wieder zurück.

In diesem Moment kamen Arthur und Florentine um die Ecke. Allegra winkte ihnen zu. Täuschte sie sich, oder hatten Arthurs Augen sich eben verengt, als er sie und Lorenzo entdeckt hatte? Aber Arthur sagte nichts, sondern nickte dem ehemaligen Mentor nur zu.

»Und, wie war’s?«, fragte Florentine fröhlich und musterte Allegras Gesicht. »Also wach siehst du nicht gerade aus.«

Allegra küsste Arthur erst zur Begrüßung, dann zuckte sie mit den Schultern. »Noch nicht so gut. Adair meinte, es dauert eben.«

»Normalerweise drei bis vier Wochen«, erklärte ihre Mitbewohnerin. Sie wandte sich Lorenzo zu, der sich gerade seine Tasche über die Schulter hängte. »Du bist Allegras Ankerpartner?«

»Du klingst so überrascht«, erwiderte Lorenzo.

»Bin ich auch«, sagte Florentine unverblümt. »Muss ich mir Sorgen um Allegra machen?«

Lorenzo sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Adair bürgt für mich.«

»Ich will es von dir hören!«, beharrte Florentine und verschränkte die Arme.

»Ihr könnt mir vertrauen«, sagte Lorenzo ernst und sah Florentine in die Augen.

Was war denn hier los? Damit hatte Allegra nicht gerechnet. Und das von Florentine, die bis vor Kurzem ins Stottern geraten war, wenn Lorenzo sie auch nur anlächelte.

»Gut«, sagte Florentine jetzt. »Dann können wir ja frühstücken. Allegra, kommst du noch mal hoch?«

Allegra löste sich aus ihrer Erstarrung und sah Lorenzo nach, der wortlos aufgestanden war und die Treppe hochstieg. »Gerne. Ich brauche dringend Zucker. Und Kohlenhydrate. Und vielleicht ein oder zwei Vitamine.«

Eine Gruppe Kinder kam johlend hinter einem Mädchen die Treppe heruntergerannt. Sie liefen Slalom um die Studenten herum, die auf dem Weg zur Mensa waren, und blieben schließlich an einer der Wasserwände stehen. Ein paar von ihnen hatten Wasserpistolen dabei, die sie auffüllten, und kurz darauf war eine Wasserschlacht im Gange.

Moment, das Mädchen, das mit beiden Händen Wasser in Richtung ihres Angreifers schaufelte, war doch …

»He, Sorento, pass besser auf deine kleine Schwester auf!«, rief in diesem Moment Lorenzo über das Getöse hinweg. Er stand am oberen Treppenabsatz und hatte sich zu ihnen umgedreht.

Arthur drehte sich um. »Hä? Wieso?«

Lorenzo zeigte nur mit dem Finger auf das Tohuwabohu, und Arthur stöhnte auf. »Wartet mal kurz«, sagte er zu Allegra und Florentine. »Ich muss meiner Schwester den Spaß verderben.« Er zwinkerte ihnen zu, bevor er kurzerhand übers Geländer flankte. Schon stürzte er sich ins Getümmel, umfasste Gabriellas Handgelenk und zog sie aus der Gefahrenzone. Gabriella schüttelte den Kopf, und Allegra bekam ein paar Spritzer ab. »Spinnt ihr? Macht das gefälligst draußen!«, fuhr Arthur sie an, konnte sich ein leichtes Grinsen aber nicht verkneifen. Seine Schwester sah aus wie eine abgesoffene Maus. Wasser lief ihr aus den Haaren übers Gesicht, ihr T-Shirt war durchgeweicht, und ihre Schuhe hinterließen nasse Flecken auf dem Boden.

»Echt jetzt?«, murrte sie und zog ihre Hand weg.

»Hast du nicht gesagt, du hättest Angst vor Madame Pinot? Wenn sie das sieht, bist du geliefert«, gab Arthur zurück. »Nichts gegen eine anständige Wasserschlacht. Aber bitte draußen, ja? Das gilt für euch alle!«, rief er in die Runde.

»Es ist nur ein bisschen Wasser, Arthur. Chill mal!« Doch plötzlich wurde Gabriella blass.

»Gabriella Sorento, was soll das?« Madame Pinot stand plötzlich neben ihr, ein Blick aus grauen Raubvogelaugen traf Arthurs kleine Schwester.

Arthur gab ihr einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. »Du erklärst das. Ich bin eigentlich gar nicht da«, ergänzte er mit Blick auf die Lehrerin.

Die beachtete ihn nicht weiter. »Nun?«, fragte sie scharf, obwohl Allegra hätte schwören können, dass in ihren Augen das Lachen funkelte.

Arthur nahm Allegras Hand. »Gehen wir?«

»Ich dachte schon, ich bekomme heute gar nichts mehr zu essen!« Florentine setzte sich schon in Bewegung.

»Sagt dir den Löwen zum Fraß vorgeworfen etwas?«, fragte Allegra mit einem besorgten Blick auf Gabriella und Madame Pinot.

Arthur zog sie mit sich. »Ich weiß gar nicht, was du meinst.« Doch seine Schultern bebten.

»Ah ja …« Allegra nahm sich vor, hinterher nach Gabriella zu sehen. Eine Strafpredigt von Madame Pinot reichte normalerweise, um selbst erwachsene Studenten zum Weinen zu bringen. Sie mochte Arthurs Schwester. Und dass die anwesenden Kinder trotz – oder gerade wegen? – der Gefahrensituation auf dumme Ideen kamen, wunderte sie nicht im Geringsten. Am liebsten hätte sie mitgemacht. Ein bisschen Ablenkung könnten sie alle gut gebrauchen!

 

Allegra und Arthur trafen als Letzte in Madame Pinots Klassenzimmer ein. Bereits etwa zwanzig Studenten saßen in einem Stuhlkreis zusammen.

Florentine warf ihnen einen bedeutungsschweren Blick und Luftküsschen zu. Allegras Wangen wurden ganz heiß. Es gab keine zwei freien Sitzplätze mehr nebeneinander, also ließ sich Arthur ihr gegenüber auf einen Stuhl sinken und streckte die langen Beine aus. Seine bloßen Füße steckten wie immer in Espadrilles. Wahrscheinlich besaß Arthur gar keine anderen Schuhe. Als Madame Pinot den Raum betrat, erstarben die Gespräche augenblicklich. Die kleine alte Dame trug eine grüne Leinenhose und ein passendes Hemd, auf dem sich etliche dunkle Flecken abzeichneten. Strähnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst und kräuselten sich um ihr Gesicht. Gabriella hatte sich also nicht kampflos geschlagen gegeben? Allegras Respekt vor Arthurs Schwester wuchs.

»Da Allegra ab sofort wieder am Unterricht teilnimmt, sind wir jetzt vollzählig«, begann Madame Pinot ohne Vorrede, »und wir steigen heute auch gleich in ein ganz konkretes Thema ein.« Sie zögerte fast unmerklich. »Viktor Mortensen.«

Zwanzig fragende Blicke richteten sich auf Allegra.

»Ich weiß auch nicht mehr als ihr«, wehrte sie ab und zeigte mit einem Stift auf ihre Lehrerin. »Was meinen Sie genau, Madame Pinot? Mit konkret? Haben Sie neue Erkenntnisse?«

»Nein. Aber ich möchte, dass wir heute darüber nachdenken, was ihr tun würdet, wenn ihr in der Traumzeit oder auch in der Realität einem seiner Anhänger begegnet.«

Allegra schlug das Herz plötzlich bis zum Hals. »Zum Beispiel Sofia«, sagte sie leise.

»Ganz recht. Oder Jenny.« Madame Pinot warf Laurie einen Blick zu. »Was würdet ihr tun?«

Allegra dachte an die seltsame Begegnung im Hirschgarten vor ein paar Tagen. Sollte sie davon erzählen? Sie sah zu Arthur hinüber. Er musste den gleichen Gedanken gehabt haben, denn er nickte ihr zu. »Also, ich weiß nicht, ob das hier reinpasst, aber mir ist was Komisches passiert«, begann sie zögernd. Madame Pinot bedeutete ihr mit der Hand, weiterzureden.

Allegra erzählte von der alten Frau im Park.

»Und wer war das jetzt?«, fragte Jean.

»Keine Ahnung.« Allegra hob ratlos die Schultern. »Vielleicht hat sie Geld gebraucht, und jemand hat ihr gesagt, was sie sagen soll? Sie sah ein bisschen verwahrlost aus, gar nicht so, wie ich mir jemanden von Mortensens Truppe vorstelle. Aber trotzdem hatte ich Angst.«

Madame Pinot, die außerhalb des Kreises stand, lehnte sich gegen ihr Pult und verschränkte die Arme. »In den letzten Wochen sind wir Mortensens Anhängern nicht begegnet, weder in der Realität noch in der Traumwelt. Selbst wenn sie nicht zu ihnen gehört, glaube ich nicht an einen Zufall. Dass jemand mit einer solchen Botschaft bei dir in München auftaucht, ist neu. Und beunruhigend.«

»Deswegen sind wir auch schneller zurück nach Avignon als ursprünglich geplant.«

»Dann nehmen wir das doch gleich als erstes Fallbeispiel«, schlug Madame Pinot vor und sah in die Runde. »Hat Allegra angemessen reagiert?«

»Sie hätte nichts anderes tun können. Außer die Alte umzuhauen, aufs Fahrrad zu binden und mitzubringen«, sagte Florentine. »Sodass Corlaeus sie befragen kann.«

»Unauffälliger geht’s kaum«, protestierte Allegra lachend.

»Eben. Also: Alles richtig gemacht.«

Es entbrannte eine hitzige Diskussion, in der vor allem Jean und Laurie darum stritten, wann man nun eigentlich Gewalt anwenden durfte. »Wenn es nicht anders geht! Dafür lernen wir es doch«, fuhr Laurie ihren Mitstudenten an und schlug mit der flachen Hand auf das kleine Pult, das an ihrem Stuhl angebracht war, sodass es schepperte.

»Selbstverteidigung«, präzisierte Madame Pinot. »Und die auch nur in angemessener Form. Ihr werdet hier nicht ausgebildet, um wahllos Köpfe einzuschlagen. Auch in der Traumzeit nicht.« Sie stellte sich in die Mitte des Raumes und drehte sich langsam um sich selbst, während sie sprach. »Ihr müsst lernen, genau zu beobachten. Jeder von euch. Jede von euch. Nehmt jede Einzelheit wahr, speichert sie ab, sodass ihr hinterher ein genaues Bild der Situation zeichnen könnt. Alles, was ihr seht, könnte nützlich sein. Verteidigt euch, wenn es sein muss. Aber auch hier möchten wir hinterher einen vollständigen Bericht. Verlasst grundsätzlich nicht alleine das Akademiegelände. In der Traumzeit seid ihr ohnehin nur in Gruppen unterwegs.« Nacheinander fixierte sie jeden, auch Allegra, mit ihrem Raubvogelblick. »Adair hat dringend darum gebe–« Doch sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

»Wahrnehmen? Beobachten? Was soll das denn bringen?«, unterbrach Laurie sie. Sie sprang auf und verpasste diesmal ihrem Stuhl einen Tritt, sodass er in den Raum schlitterte und umkippte. Ihr Gesicht war hochrot, und ihre Unterlippe zitterte. »Dadurch bekommen wir weder Sofia noch meine Schwester wieder zurück. Mortensen plant den Umsturz, will uns alle vernichten, und Sie wollen Berichte?« Das letzte Wort spuckte sie förmlich aus.

Totenstille folgte ihrem Ausbruch.

Selbst Madame Pinot starrte sie einen Moment lang sprachlos an. »Nimm deinen Stuhl, setz dich und komm nach dem Unterricht bitte zu mir«, sagte sie dann ruhig, doch alle vernahmen den eisigen Unterton in ihrer Stimme.

Allegra beugte sich vor und ergriff Laurie am Ärmel, aber sie schüttelte ihre Hand sofort ab. »Lass mich«, fauchte sie. »Ihr wisst alle nicht, wie das ist. Jenny ist mit diesem … Monster … unterwegs, und nur der Himmel weiß, ob ich sie je wiedersehe.« Ihre Stimme brach, und sie rannte Richtung Tür. Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Allegra dachte nicht weiter nach, sie lief Laurie hinterher. »Laurie, bleib stehen!«, rief sie. Erst draußen schaffte sie es, die Engländerin einzuholen. »Jetzt warte mal!«, wiederholte sie keuchend, aber Laurie lief weiter und hielt erst an, als sie am Ufer des Flussarmes ankam, der die Halbinsel, auf der sich das Akademiegelände befand, umfloss. Nebeneinander ließen sie sich auf die Steine sinken. Laurie atmete stoßweise, sie wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht und flocht sich dann mit zitternden Fingern ihren langen blonden Zopf neu.

Allegra umschlang ihre Knie mit den Armen und wartete. Laurie tat ihr unendlich leid. Sie konnte gut nachfühlen, was in ihr vorging. Als Elena vor Kurzem in der Traumwelt gefangen gewesen war und Allegra sie hatte zurücklassen müssen, war sie vor Sorge völlig außer sich gewesen. Sie hatte Elena nach wenigen Stunden retten können. Doch Jenny war schon seit Wochen verschwunden. Und noch dazu freiwillig – um jemandem zu folgen, der alles verriet, woran die Akademie glaubte. Woran ihre Schwester glaubte. Doch, sie konnte sich gut vorstellen, welche Gefühle in Laurie tobten. Wenn Allegra daran dachte, wie es ihren Eltern wohl gehen mochte, empfand sie ähnlich. Am liebsten würde sie dann jedes Mal irgendwas kaputt schlagen.

»Warum tust du’s nicht?«, fragte Laurie, und Allegra zuckte zusammen. Sie musste die letzten Gedanken laut ausgesprochen haben.

Sie suchte neben sich am Boden nach ungewöhnlichen Kieseln und sammelte sie in ihrer Hand. Braune, grüne, schwarze mit goldenen Einsprengseln. »Weil ich mir immer und immer wieder sage, dass ich meine Kraft dafür brauche, sie zurückzubringen. Ich will die Kontrolle nicht verlieren.« Sie fing an, die gesammelten Kiesel einen nach dem anderen in das Wasser zu werfen.

»Du bist doch auch wütend über das, was passiert ist, oder?«

»Ja, klar. Natürlich trage ich Wut in mir, aber ich muss sie nicht jedes Mal sofort rauslassen. Genauso wenig wie meine Angst. Und die habe ich, das sage ich dir. Aber ich schlucke sie runter, sammle sie ganz tief in meinem Bauch und versuche, nicht zu viel daran zu denken.«

»Das schaffe ich nicht.«

»Corlaeus hat mir gesagt, dass man Wut nutzen kann. Angst auch. Sie machen dich für eine Weile stark. Nicht für längere Zeit, weil es destruktive Emotionen sind, aber manchmal braucht man Wut. Also nimm das Gefühl an und speichere es irgendwo ab.«

Über Lauries Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns. »Das ist ein Spruch aus deiner persönlichen Schatzkiste, oder? Klingt so typisch nach dir. Du bist anders als ich. Du findest immer einen Weg.«

»Nicht immer. Aber es geht mir besser, wenn ich das Gefühl habe, nicht so hilflos zu sein.«

Laurie hatte einen Zweig in die Hand genommen und brach ihn methodisch immer wieder in zwei Hälften, bis nur noch fingerlange Stückchen übrig blieben. »Weißt du, wovor ich am meisten Angst habe?«

»Jenny nie mehr zu sehen?«

»Nein. Jenny zu sehen. Ihr quasi auf dem Schlachtfeld gegenüberzustehen und dann erkennen zu müssen, dass sie nicht mehr mein Zwilling ist. Die Person, mit der ich alles geteilt habe.«

Hinter ihnen knackte ein Ast, und beide fuhren herum. Doch es war nur Lorenzo, der die Böschung herunterstieg. »Geht’s euch gut?«, fragte er besorgt. »Madame Pinot schickt mich.«

»Alles in Ordnung«, sagte Allegra nach einem Blick auf Laurie. »Wir reden. Gibst du uns noch ein paar Minuten?«

Lorenzo neigte den Kopf, sah Laurie forschend an. »Natürlich. Ich warte dahinten auf euch.« Er legte Allegra kurz eine Hand auf die Schulter, was wohl so viel hieß wie, dass er ihrem Urteil vertraute. Er wanderte ein paar Schritte flussabwärts, wo die Äste einer großen Weide bis übers Wasser ragten, und zog sich auf die unterste Astgabel. Gedankenverloren starrte er auf die schimmernde Wasserfläche.

»Lorenzo … Der ist wieder zurückgekommen«, sagte Laurie leise.

»Ja.«

»Er wird vielleicht nie mehr derselbe sein.«

Allegra zog eine Grimasse. »Vielleicht nicht. Aber er wurde manipuliert, auf gemeine Art und Weise, und hat sich schließlich gegen die andere Seite entschieden. Jenny hingegen …«

»Ist freiwillig böse?« Laurie krampfte ihre Hand um einen Stein.

»Nein, das meinte ich nicht. Jenny kann selbst entscheiden. Lorenzo konnte das nicht. Vielleicht hat deine Schwester eine schlechte Entscheidung getroffen, aber das macht sie nicht zu einem schlechten Menschen.« Allegras Stimme war eindringlich.

Laurie schluckte. Sie presste eine Hand auf den Mund und starrte einige Sekunden vor sich hin. »Ich vermisse sie«, sagte sie dann mit belegter Stimme. »Ich fühle mich, als würde mir ein Körperteil fehlen. Ich würde gerne wissen, ob es ihr genauso geht. Oder ob sie da, wo sie jetzt ist, glücklicher ist.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Allegra ehrlich. »Ich kannte sie nicht besonders gut. Aber hey, noch geben wir nicht auf! Wir sind doch erst am Anfang.« Sie sprang auf und zog Laurie in die Höhe. Sie waren fast gleich groß, und Allegra sah ihr in die Augen, als sie hinzufügte: »Ich werde meine Eltern finden, und du wirst wissen, ob du noch eine Schwester hast. Und wenn nicht, dann ziehen wir so lange an ihr, bis sie wieder auf der richtigen Seite steht.«

Laurie schlang die Arme um sich selbst. »Immerhin sind wir die Dream Intelligence. Keine Amateure«, sagte sie dann, und ihre Stimme zitterte nur noch ein kleines bisschen.

»Genau. Das ist das Zitat des Tages.« Allegra drückte sie kurz, um sich schließlich in Richtung der großen Weide zu drehen. »Lorenzo! Wollen wir zurück?«

Lorenzo rutschte wieder von seinem Baum herunter und schlenderte zu den Mädchen. »Seid ihr fertig? Alles geklärt?«

»Ja«, antwortete Laurie. Sie warf Allegra noch einen dankbaren Blick zu und marschierte voran, zurück in Richtung Hauptgebäude. »Madame Pinot lässt mich garantiert nachsitzen«, murmelte sie.

Allegra grinste Lorenzo an. »Sie wird Laurie einen Aufsatz über Wahrnehmung schreiben lassen.«

Laurie schnaubte zum Zeichen, dass sie das gehört hatte. »Ich freu mich jetzt schon. Auf jeden Fall bleibe ich bei meiner Meinung, dass Beobachten zu wenig ist.«

»Aber wenn du unvorbereitet in eine Konfrontation mit Mortensens Leuten gerätst, begibst du dich in Gefahr.« Lorenzo holte sie mit zwei langen Schritten ein und lief neben ihr her. »Laurie, hör mir gut zu: Mortensen, Sofia und Hammond und all die anderen, sie haben seit Monaten, wenn nicht seit Jahren, an diesem Plan gearbeitet. Okay, sie haben – nicht zuletzt dank Allegra – die erste Schlacht verloren, aber deswegen dürfen wir sie noch lange nicht unterschätzen.«

Laurie sah ihn nicht an, als sie antwortete: »Ja, Sir.«

Lorenzo zuckte mit den Schultern. »Wir sehen uns später«, sagte er und bog zu seinem Bungalow ab. »Ich muss jetzt eine Sportstunde für die Familien geben. Viel Erfolg mit Madame Pinot.«

 

Der Unterricht bei Madame Pinot war offensichtlich ohne weitere Zwischenfälle weitergegangen, auf dem Whiteboard des Unterrichtsraumes waren in elegant geschwungener Handschrift Schlagworte wie Abstand halten, offene Fragen stellen, Stärke zeigen, Nahkampf und Information notiert. »Wenn ihr also mitbekommt, dass er jemanden kontaktiert, wisst ihr, was zu tun ist«, sagte die Lehrerin gerade und hakte den untersten Begriff an der Tafel ab.

Allegra trat hinter Laurie ein und ließ leise die Tür ins Schloss fallen. Arthur hob fragend die Brauen, während sie sich wieder hinsetzte.

Alles okay, formte Allegra lautlos mit den Lippen und versuchte, unauffällig zu wirken.

»Kann jemand von euch bitte für Allegra und Laurie zusammenfassen, was wir besprochen haben?« Madame Pinot schaute erwartungsvoll in die Runde.

»Wenn wir einem Verdächtigen in der Traumzeit begegnen, sollen wir Abstand halten, offene Fragen stellen, Stärke zeigen, notfalls Nahkampftechniken anwenden und Informationen sammeln« sagte Amelie prompt.

»Das steht bereits an der Tafel«, kommentierte Madame Pinot trocken. »Ich vermute, dass alle lesen können. Wie wäre es hingegen mit einer Erläuterung, was ihr wann einsetzt?«

Amelie wurde rot, ließ den Kopf sinken und betrachtete ihre Notizen.

»Wir sollen immer im Team zusammenbleiben, auf das Gespräch eingehen und den Verdächtigen offene Fragen stellen. Aber innerlich Abstand halten, uns nicht aus der Reserve locken lassen. Nicht auf Angebote eingehen. Dann natürlich jedes Detail einprägen, um denjenigen hinterher gut beschreiben zu können. Auf einen möglichen Angriff angemessen reagieren mit dem Ziel, unbeschadet zurückzukommen.« Florentine ratterte ihre Aufzählung mit gewohnter Geschwindigkeit herunter, und Madame Pinot nickte zufrieden. »Sehr gut, Florentine. Ihr wisst, was offene Fragen sind?«

»Das sind die, auf die man nicht mit Ja oder Nein antworten kann«, erklärte Florentine.

»Ganz genau. Gibt es dem noch etwas hinzuzufügen? Noch Fragen?«

Jean meldete sich. »Es wäre alles viel einfacher, wenn wir einen Maulwurf in seinen Reihen hätten.«

»Wissen wir denn überhaupt, wo er sich versteckt hält?«, griff Stéphane, Mitbewohner von Jean und unermüdlicher Organisator von Grillabenden, die Frage sofort auf.

Madame Pinot sah die beiden mit so weit hochgezogenen Brauen an, dass sie fast in ihrem Haaransatz verschwanden. Sie schrieb ein weiteres Wort, undercover, an die Tafel, wandte sich dann wieder an ihre Klasse. »Wir haben natürlich im Rat und auch mit den anderen Akademien darüber gesprochen, ob wir versuchen sollten, jemanden in Mortensens Organisation einzuschleusen. Doch dafür ist die Zeit zu knapp. Mortensen wird vermutlich nicht mehr allzu lange warten, um die Dream Intelligence zu übernehmen. Noch wissen wir leider nicht, wo er ist. Aber auch darauf haben wir Teams angesetzt. Und sollte er sich auf einer kleinen Bohrinsel im Nordpolarmeer verstecken, wir werden ihn finden.« Sie klatschte in die Hände. »Wir machen für heute Schluss. Denkt darüber nach, was wir besprochen haben, ihr werdet es brauchen. Selbst wenn ihr nicht auf Patrouille geht, könnte euch jemand begegnen – auch in einer Übungseinheit mit dem Direktor. Und während ihr den schnellen Dimensionswechsel übt, werden wir am Ende dieser Woche über die Theorie sprechen. Lest bitte Meyer, Traumtheorie Band drei, Kapitel 20 bis 25. Die meisten kennen das schon aus dem letzten Jahr. Das solltet ihr im Schlaf herunterbeten können.«

Allgemeines Stöhnen war die Antwort.

Sie nahm den Tafelschwamm in die Hand und holte gerade Luft, um noch etwas zu sagen, als es an der Tür klopfte. »Ja, bitte?«

Eine Frau mit dunklem Pagenkopf trat ein. Sie trug ein grünes Sommerkleid und hatte eine Jeansjacke um die Hüfte geknotet. Allegra brauchte einen Moment, bis sie das Gesicht zuordnen konnte. »Dr. Lamartin!«, rief sie überrascht.

Die Ärztin sah ebenso überrascht zu ihr hinüber, lächelte dann und schloss die Tür hinter sich. »Hallo, Allegra.« Sofort spürte Allegra die neugierigen Blicke der anderen auf sich.

Madame Pinot warf den Schwamm mit Schwung in einen Eimer und machte eine einladende Geste. »Kommen Sie herein.« Dann fügte sie, an die Studenten gerichtet, hinzu: »Bleibt bitte noch einen Moment. Darf ich euch eine neue Kollegin vorstellen? Dr. Olive Lamartin. Momentan tätig in Deutschland, wird sie die nächsten Tage für euch ein Blockseminar halten. Olive, schön, dass Sie da sind. Vor Ihnen sitzen alle Studenten aus dem zweiten Jahr.«

Dr. Lamartin verschränkte die Hände hinter dem Rücken und trat ein paar Schritte in den Raum. »Guten Tag zusammen. Über kurz oder lang werde ich die Stunden von Madame Reloy übernehmen. Aber in den nächsten Wochen pendle ich noch zwischen München und Avignon, und in dieser Zeit werde ich euch die medizinisch-wissenschaftlichen Aspekte des Traumwanderns erklären. Eine Kollegin von mir forscht zum Beispiel über die Aura, das ist ein unheimlich faszinierendes Thema. Und wir werden über Erstversorgung der Seelen im Notfall sprechen.«

»Wow«, raunte Jean deutlich hörbar und sah die Ärztin bewundernd an.

»Heiß«, flüsterte jemand.

Florentine begann zu kichern.

»Fangen Sie doch am besten gleich an«, meinte Madame Pinot. »Ich bin ohnehin früher fertig geworden, und bis zur nächsten Einheit bei Direktor Adair ist noch Zeit.« Sie ignorierte das leise Stöhnen, das ihr aus dem Stuhlkreis entgegenkam.

»Jetzt sofort? Ich wollte eigentlich … aber … nun, das geht in Ordnung.« Dr. Lamartin wartete, bis Madame Pinot das Klassenzimmer verlassen hatte, dann lehnte sie sich gegen die Tafel. »Wie ihr gehört habt, bin ich Olive Lamartin. Vielleicht sage ich erst einmal ein paar Worte zu mir. Ich bin in Paris aufgewachsen und habe dort auch Medizin studiert. Für meine erste Stelle bin ich nach Deutschland gegangen und habe mich hier auf Chronobiologie und Schlafforschung spezialisiert.«

Allegra sah sie zum ersten Mal wirklich genau an und stellte fest, dass die Ärztin weitaus jünger war, als sie gedacht hatte. Vielleicht gerade mal Ende zwanzig. Die halblangen dunklen Haare und die braunen Augen ließen sie aussehen wie eine Schwester von Nina Dobrev.

Währenddessen fuhr die Ärztin fort: »Und ich gehöre einer Forschergruppe an, die Daten darüber zusammentragen, was mit uns, während wir in der Traumzeit unterwegs sind, genau passiert. Deswegen arbeite ich in München in der DI-Klinik: Dort haben wir einige Fälle, bei denen das Band zwischen Seele und Körper zu reißen droht – oder bereits gerissen ist.«

Zwanzig Köpfe wandten sich Allegra zu. Sie hob verlegen die Hände.

»Ganz recht«, bestätigte die Ärztin, »so wie bei den Hellers. Gleich vorweg: Dazu kann ich keine Fragen beantworten. Alles, was die Hellers betrifft, unterliegt der Geheimhaltung.« Sie griff nach einem Stück Kreide und schrieb, während sie sprach. »Fangen wir vielleicht damit an, warum es Menschen gibt, die wie wir in die Traumzeit wechseln können. Und bitte sagt mir gleich eure Namen dazu.«

»Jean Sonnier. Das ist genetisch bedingt. Deswegen besteht die DI ja aus Familien. Das Gen wird rezessiv vererbt, sodass nicht alle in jeder Generation die Fähigkeit besitzen.«

»Stimmt. Meine Urgroßmutter konnte es, meine Großeltern und Eltern nicht. Dafür ich wieder. Ach so, ich bin Florentine«, warf Florentine ein.

Arthur klopfte ungeduldig mit dem Stift auf seinen Tisch. »Arthur Sorento. Mich würde viel eher diese Erste Hilfe interessieren. Was genau meinen Sie damit? Reden wir über das, was man beim Führerschein lernt? Also beatmen und stabile Seitenlage und so etwas?«

Madame Lamartin schüttelte den Kopf. »Ich gehe davon aus, dass ihr alle mal einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht habt, oder? Wer noch nicht?«

Zwei Hände hoben sich zögernd.

»Nun, das solltet ihr dringend nachholen. Das ist Basiswissen. Meine Ankündigung bezog sich allerdings tatsächlich auf die Versorgung von verwundeten Seelen in der Traumzeit.«

»Ah ja. Und was genau muss man –«

Die Ärztin fiel Arthur ins Wort. »Genug! Bevor wir darüber sprechen, muss ich sicher sein, dass ihr die Grundlagen beherrscht. Wenn nicht, bringe ich sie euch bei. Erst danach reden wir über die Erstrettung.« Ihre Stimme klang scharf, und Arthur sah sie verblüfft an.

Allegra grinste in sich hinein, nicht wirklich überrascht. Sie hatte Olive Lamartin schon in München als sehr zielstrebig und ehrgeizig kennengelernt. Jemand, der sich nicht von seinem einmal gefassten Plan ablenken ließ. Auch nicht von einem gut aussehenden Studenten, und mochte er noch so brillant sein.

Die nächste Stunde ließ sie dann nicht mehr durchatmen. Dr. Lamartin bombardierte sie mit Fragen zum Zellaufbau, den Eigenschaften des menschlichen Genoms, der Chromosomenpaare und nebenbei auch noch zum großen und kleinen Blutkreislauf. Auch die Blut-Hirn-Schranke wurde erwähnt. Zumindest glaubte Allegra das. Sie war sich nicht sicher. Sie hatte zwar alles mitgeschrieben, doch ob sie das je wieder entziffern und in eine sinnvolle Reihenfolge würde bringen können, war eine ganz andere Frage.

»Und das alles auf Französisch«, beschwerte sie sich beim Mittagessen und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. »So schnell kann ich in einer Fremdsprache nicht denken, schon gar nicht mit den ganzen Fremdwörtern. Und ich hatte nie Latein. Das war ein Fehler, sehe ich jetzt. Hätte ich mal nehmen sollen. Uff.« Mit einem dumpfen Schlag ließ sie ihren Kopf mit der Stirn voran neben ihren Teller sinken.

»Dann hättest du aber kein Französisch gelernt und könntest dich jetzt hier nicht mit Arthur unterhalten«, warf Florentine ein.

»Wir müssen ja nicht reden«, erwiderte er und drehte eine große Portion Spaghetti Vongole auf seine Gabel.

»Ha«, machte Florentine. »Schon wieder! Mann, Arthur, jetzt habe ich den ganzen Tag dieses Bild vor Augen. Danke auch!« Dafür erntete sie einen Rippenstoß von Allegra, die immer noch völlig erledigt war und mit halb geschlossenen Augen ihr Glas mit Orangina anstarrte.

Im nächsten Moment ließ ein splitterndes Geräusch alle hochfahren, sie sahen sich panisch um. War es so weit? Startete jetzt der nächste Angriff?

Doch es war nur ein Mädchen, das versehentlich seinen Teller fallen gelassen hatte. Sekunden betretener Stille folgten, bis langsam die Gespräche wieder einsetzten. Und auch das nur im Flüsterton. Das Mädchen war puterrot geworden und sammelte mit zitternden Händen die Splitter auf eine kleine Schaufel. Ein Mann, offensichtlich ihr Vater, half ihr dabei, sprach beruhigend auf sie ein und nahm ihr dann sanft die Schaufel ab.

»Wir sitzen wie die kleinen Kinder im Bett, ziehen die Bettdecke über den Kopf und haben Angst vor dem schwarzen Mann«, sagte Arthur nachdenklich und lehnte sich über den Tisch, griff nach Allegras Hand. »Das ist nicht gut.«

Allegra drückte seine Hand. Der Appetit war ihr vergangen, aber sie zwang sich dazu, ein paar Löffel Gemüsesuppe zu essen. Sie wusste, dass sie sonst am Nachmittag zusammenklappen würde.

Als sie nach dem Essen den Traumsaal betraten, legte sie Arthur den Arm um die Taille. »Ob uns Adair heute mal zusammen in eine Gruppe steckt?«, fragte sie flüsternd.

Ihr Wunsch ging in Erfüllung. Zusammen mit Laurie bildeten Allegra, Arthur und Florentine eine von drei Gruppen.

»Diesmal schickt ihr mit der neuen Technik zwei von euch hin und her«, forderte Adair. »Immer etwa fünf Minuten, dann wird getauscht. Ich stelle die Sanduhren auf eine halbe Stunde ein. Der letzte Anker achtet bitte genau darauf, dass alle rechtzeitig zurück sind. Ich schicke euch alle gleichzeitig rein, Lorenzo und ich beobachten euch. Danach besprechen wir alles, wie immer. Und wenn noch Zeit bleibt, machen wir eine zweite Runde.«

Allegra schaute sich um. Lorenzo? Dann entdeckte sie ihn. Er stand in der Mitte des Traumsaals, halb vom Projektor verdeckt. Als ob er Allegras Blick spüren würde, drehte er sich um und lächelte ihr zu.

»Nehmt euch eine Decke und setzt euch im Kreis auf den Boden«, schlug er vor. »So könnt ihr euch an den Händen fassen und seid gut miteinander verbunden.«

»Wer fängt an?«, fragte Allegra. »Laurie, machst du den Anker?«

»Klar«, sage Laurie. »Dann seid ihr, also du und Arthur, die Bälle.«

Allegra ergriff ihre Hand, fühlte neue Schwielen an ihren Fingern. Florentine schloss die Augen, Allegra konnte an ihrem Gesichtsausdruck den Moment erkennen, an dem ihre Seele den Körper verließ. Und kaum spürte sie selbst das Ziehen um den Bauchnabel, da glitten sie schon schneller als je zuvor in die andere Dimension. Arthur landete neben ihr, und ein paar Meter entfernt erschienen die anderen Gruppen.

Der Nebel war ziemlich dicht, nur schemenhaft sah sie die Träume um sich herum wie fahle Lichtkugeln leuchten. Sie entdeckte Jean und Stéphane, wie sie auftauchten und gleich wieder verschwanden, dann spürte auch sie den leichten Ruck und fand sich im Traumsaal wieder.

Sie fanden schnell einen Rhythmus, und Allegra und Arthur sausten ein paar Mal hin und her. Zu Allegras Überraschung blieben die Kopfschmerzen diesmal aus, der Übergang fiel ihr mit jedem Mal leichter. Beim dritten oder vierten Mal griff Allegra nach Arthurs Hand, nur um zu sehen, was passieren würde. Sie umklammerte seine Finger, Laurie gab ihnen den mentalen Stoß, sie glitten los, und an irgendeinem Punkt trennten sich ihre Wege, jede Seele suchte ihren Körper, Allegras Hand schloss sich um Luft. Sie fand sich beim nächsten Herzschlag im Traumsaal wieder, wo ihr Florentine erneut einen Stoß gab.

»Ist eigentlich egal, ob man einen oder zwei oder wahrscheinlich noch mehr mitnehmen muss«, sagte Florentine zwischendurch. »Wenn man’s mal raushat.«

Adair, der ebenfalls in die Traumzeit übergewechselt war und im Nebel zwischen den Gruppen umherwanderte, hörte die Bemerkung und nickte. »Genau das ist das Ziel dieser Übung. Ihr müsst die Technik verinnerlichen, dann geht der Rest von allein. Oder zumindest fast. Allegra, am Ende der Woche kannst du auch hier die Funktion des Ankers übernehmen.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Allegra, »ein paar Übungstage brauche ich bestimmt noch.«

»Die bekommst du ja auch«, mischte sich Lorenzo ein. »Arthur, tauschst du bitte mit Florentine? Allegra, du übernimmst Lauries Position.« Er wartete ein paar Sekunden, dann stellte er sich hinter Allegra. »Du kannst hier üben.«

Allegra schickte erst Laurie, dann Florentine, die vor ihr auftauchten, wieder zurück zu Arthur.

»Jetzt«, sagte Lorenzo. »Erweitere dein Sichtfeld. Folge das nächste Mal Florentine gedanklich zurück.«

Allegra runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht genau, was du meinst.«

Lorenzo legte ihr die Hand auf die Schulter. »Schau, wie Florentine vor dir Gestalt annimmt.« Allegra tat, was er sagte, fokussierte sich auf ihre Freundin, die sich vor ihr materialisierte. »Wenn du sie zurückschickst, versuch ihr mit deinen Gedanken zu folgen.«

Sie gab Florentine einen leichten Stoß und klebte sich gedanklich an ihrem T-Shirt fest. Als wäre sie ein Sticker. Florentine zog sie tatsächlich mit sich, es war, als würde ein Teil von ihr wie mit einem Gummiband mitgezogen, doch sie spürte weiterhin Lorenzos Hand auf ihrer Schulter.

»Woah«, machte Allegra überrascht.

Florentine erschien ein weiteres Mal vor ihr, und jetzt gelang es Allegra tatsächlich, ein bisschen länger an ihr dranzubleiben.

»Sehr gut!«, lobte Lorenzo. Doch dann atmete er scharf ein. Abrupt drehte er sich um, und sein ganzer Körper spannte sich an. »Achtung!«, warnte er leise. »Wir haben Besuch.«

Sie waren zu sechst. Die Kapuzen tief in die Stirn gezogen, einheitlich in dunkle Sweathosen, Combat Boots und karminrote Hoodies gekleidet. Bevor irgendjemand reagieren konnte, hatten sie bereits einen losen Kreis um sie gebildet.

Adair hatte es ebenfalls bemerkt. Er zischte einen scharfen Befehl, und drei Übungsgruppen verschwanden. Allegra und Laurie blieben bei Lorenzo stehen.

Adair machte eine unmissverständliche Geste in Richtung Allegra. Sofort zurück!

Doch Allegras Neugier überwog. Auch Laurie rührte sich nicht von der Stelle, mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, die Gesichter unter den Kapuzen zu erkennen.

Adair und Lorenzo tauschten einen verärgerten Blick.

»Allegra Heller«, dröhnte eine Stimme unter einer der Kapuzen hervor. »Hast du die erste Botschaft nicht gehört? Er wartet auf dich.«

Allegra trat einen Schritt vor. »Wer seid ihr?«

»Ich sagte, keine Alleingänge, Allegra!« Und damit verspürte Allegra einen Stoß, und ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, glitten sie und Laurie davon.

Kurz bevor sie die Traumdimension verließ, hörte sie noch ein höhnisches Lachen, dann hatte sie wieder die Kuppel des Traumsaals über sich.

»Was ist passiert?«, fragte Arthur und rüttelte sie an der Schulter. »Ich konnte nichts erkennen in dem Nebel.«

»Ein paar Typen sind aufgetaucht.«

»Mortensens?«

»Vermutlich. Aber Adair hat uns rausgeschmissen, bevor es interessant wurde«, sagte Allegra und spürte, wie sie von Sekunde zu Sekunde wütender wurde. »Am liebsten würde ich zurück, aber –«

»Dann macht uns Adair einen Kopf kürzer«, sagte Laurie dumpf.

Im nächsten Moment schlugen Adair und Lorenzo die Augen auf. Adair sprang sofort auf. »Sind alle da?«, fragte er und sah sich um. »Allegra, Laurie, das nächste Mal befolgt ihr meinen Befehl, sonst ziehe ich euch sofort aus dem Verkehr. Verstanden?«

»Aber Jenny ist« – »Aber wir könnten doch –«

Allegra und Laurie protestierten gleichzeitig.

»Kein Aber!«, unterbrach Adair sie streng. »Ich weiß, dass ihr helfen wollt, schließlich bilden wir euch dafür aus. Ihr müsst jedoch Folgendes bedenken: Mortensen sammelt Informationen. Unter anderem darüber, wozu wir imstande sind. Allegra und Laurie, ihr habt beide eine persönliche Rechnung mit ihm offen. Ich weiß das. Eure Emotionen sind euch hier aber im Weg. Und das kann uns letztlich gefährlich werden. Wenn ich sage, ihr geht, dann geht ihr. Klar?« Seine Augen funkelten. »Ich werde nicht meine Asse in der ersten Runde ausspielen, verstanden?«

Allegra sah Laurie an und zuckte mit den Schultern. »So habe ich es noch gar nicht betrachtet«, gab sie offen zu. »Entschuldigung, Direktor.«

»Gut.« Adair machte eine Pause, dann verkündete er: »Und da uns die Herren so rüde unterbrochen haben, gehen wir jetzt noch auf eine echte weitere Patrouille.«

Diese Bombe zündete. Es herrschte Totenstille.

Diesmal war es Lorenzo, der die Stimme erhob. »Ihr werdet für den Kampf ausgebildet, aber wir dürfen unsere eigentliche Aufgabe nicht vernachlässigen: den Schutz der Träumer. Wir teilen euch in zwei Gruppen auf. Eine geht mit mir, die andere mit Direktor Adair.« Er tippte auf den Tisch neben dem Projektor, woraufhin der darin eingelassene dunkle Bildschirm zum Leben erwachte und eine Grafik anzeigte, die in etwa aussah wie eine Sternkarte. Mit zwei Fingern zoomte er einen Ausschnitt heran, Allegra blickte ihm über die Schulter. Alles war voller großer und kleiner Symbole, manche blinkend, manche mit Zahlen markiert. An der Ecke des Ausschnitts stand ein Beta. »Quadrant vier, Sektion acht bis neun. Ihr achtet bitte auf die Membranen. Und natürlich auf alles, was euch ungewöhnlich erscheint.«

»Zu mir kommen: Sonnier, Sorento, Harper und ihr drei!«, rief Adair. »Die anderen bitte zu Lorenzo. Setzt euch wie eben auf den Boden, haltet Kontakt, indem ihr euch an den Händen fasst oder eurem Nachbarn die Hand auf die Schulter legt.« Schweigend verteilten sich die Studenten, es herrschte ungewöhnliche Stille. Das plötzliche Auftauchen von Mortensens Männern hatte sie alle geschockt. Auch in Allegra flatterte etwas, der Adrenalinstoß ließ sie zitternd Luft holen.

Nacheinander glitten sie in die Nebelwelt und sammelten sich um Lorenzo. »Wo sind die anderen?«, fragte Florentine und sah sich suchend um.

»Andere Sektion«, sagte Lorenzo kurz angebunden. Er sah, dass Allegra verwirrt die Stirn runzelte, also holte er aus: »Auf der Karte sind sie quasi direkt neben uns, aber du weißt, dass die Entfernungen in der Traumzeit nicht immer der Darstellung auf den Karten entsprechen. Eigentlich gibt es keine Distanzen hier. Geht immer zu zweit, und achtet darauf, zu jeder Zeit zwei weitere Paare in Sichtweite zu haben. So stellen wir sicher, dass niemand verloren geht.« Ein Schatten flog über sein Gesicht, und er tauschte einen Blick mit Florentine, die ihm fast unmerklich zunickte. Allegra sah es dennoch, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Lorenzo hatte – zwar unter Hypnose, aber trotzdem – dafür gesorgt, dass sein Team bei der letzten Expedition in einem Traum gefangen wurde und so den Tod von vier Agenten verschuldet.

»Los geht’s«, sagte Florentine und zog Allegra am Arm mit sich. »Gehen wir da rüber und fangen bei den Träumen in dieser Reihe an?«

Der Nebel waberte um sie herum. Je höher er schwebte, desto durchsichtiger wurde er allerdings, sodass man die Traumkugeln, zumindest die größeren, gut erkennen konnte. Die meisten leuchteten in einem fahlen Gelb, als hätte jemand drinnen eine Energiesparlampe angeknipst. Während Florentine aufmerksam die Membranen absuchte und ab und zu auch mit den Händen versuchte nachzuspüren, ob es Unregelmäßigkeiten gab, richtete Allegra ihren Blick zusätzlich auf das Innere des Traums. Sie nahm sich für den Anfang einen der kleineren Träume vor. Dafür beugte sie sich vor, ließ den Blick über die Traumhülle wandern. Sie hatte festgestellt, dass es länger dauerte, wenn sie sich zu sehr darauf konzentrierte. Wenn sie aber den Blick eher unfokussiert darüberschweifen ließ, wurde das Milchige der Membran auf einmal klar.

Nach ein paar Sekunden tat sich vor ihr eine staubige Straße auf, links und rechts davon graue Wohnblöcke, am Horizont erstreckte sich die Skyline einer Großstadt. Jetzt erkannte sie jemanden, der die Straße hinunterrannte. Kies und Staub wirbelten auf, aber er kam nicht vorwärts. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft ihn auf der Stelle treten lassen. Mit allen Kräften bemühte er sich, holte mit den Armen aus, lehnte sich nach vorne, doch er kam kaum weiter. Allegra seufzte mitleidig und wandte den Blick ab. Sie hasste solche Träume, in denen man wie durch Watte rannte und rannte und nie ankam. Da wachte man am Ende vollkommen erledigt auf. Doch sie konnte dem Träumenden nicht helfen. Sie durfte nicht. »Wie willst du entscheiden, wer deine Hilfe verdient und wer nicht?«, hörte sie Corlaeus’ Stimme, mit dem sie kürzlich genau diesen Fall diskutiert hatte.

Also trat sie zurück, richtete den Blick auf den Nebel hinter dem Traum. Die Membran wurde wieder milchig. Aufmerksam betrachtete sie die Hülle, fand keine Risse oder ausgedünnten Stellen und ging zum nächsten Traum, an dem Florentine bereits mit gerunzelter Stirn stand. Er war kleiner als der vorherige, reichte ihr höchstens bis zur Schulter. »Kannst du mal reinschauen und mir sagen, was das für ein Traum ist?«, fragte sie.

»Warum?«

»Ach, die Membran schwingt so komisch. Fühlst du das auch?«

Allegra hielt eine Handfläche direkt vor die Membran. Sie pulsierte ganz leicht, wie es Träume tun sollten, aber nach kurzer Zeit fiel ihr auf, dass etwas fehlte. Der regelmäßige Rhythmus. »Du hast recht«, sagte sie. »Da stimmt was nicht.« Sie trat einen Schritt zurück, heftete den Blick auf die Hülle und wartete, dass sie den Blick ins Innere freigab. »Wie ordnest du die Membran ein? Und den Traum?«, fragte sie, ohne sich umzuwenden.

»Hm … Membranstärke nur noch zwei bis drei, würde ich sagen. Und beim Traum – na, deswegen frage ich dich ja.«

»Wahrscheinlich ist derjenige kurz vor dem Aufwachen. Aber ich versuch’s mal.« Allegra wartete, bis die Traumhülle klar wurde, dann spähte sie hinein. »Wow«, sagte sie leise. Da war … nichts, und doch schien der Traum ohne Grenzen, ohne Ende. Eine bodenlose Schwärze, die sich in alle Richtungen ausbreitete. So stellte Allegra sich den Weltraum vor. Kein Licht, keine Materie, keine Luft. Nur Dunkelheit und Kälte. Sie hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu kippen.

»Hey!« Florentine packte sie am Arm und riss sie zurück. »Was machst du da?«

»Äh … gar nichts.« Allegra wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Boah, das war gruselig. So einen Traum habe ich noch nie gesehen. Und auch nie zuvor erlebt, übrigens.« Jetzt sah der Traum wieder aus wie jeder andere, aber Allegras Arme waren von einer Gänsehaut überzogen.

»Das kann ja sein, aber hast du nicht gemerkt, dass du fast reingefallen wärst? Halt das nächste Mal Abstand. Ich wollte von dir nur wissen, was das für ein Traum ist – du sollst dabei nicht draufgehen!«

»Wer geht drauf?« Lorenzo hatte sich ihnen von der Seite genähert und sah beide streng an.

»Niemand geht drauf!«, wehrte Allegra ab. »Ich habe versucht zu sehen, was in dem Traum los ist, das ist alles.«

»Mhm.« Lorenzo betrachtete kurz die Kugel vor ihnen. »Dazu brauchst du aber keine Superkräfte: Das ist ein wiederkehrender Traum kurz vor seinem Ende. Ihr erkennt das am Flackern der Membran, seht ihr? Und diese Zickzacklinien? Noch ein oder zwei Nächte, dann schafft sich die Seele eine neuen Raum. Also Traumklasse B3. Wir müssen in ein paar Tagen nach ihm sehen, ich gebe das nachher in die Software ein.«

»Danke«, sagte Allegra trocken. »Ich versuche, das Supergirl in mir zu bändigen.«

Lorenzo zog angesichts ihres Tons eine Braue hoch. »So war es doch gar nicht gemeint.«

»Passt schon«, sagte sie. »Ich vergesse manchmal, dass es auch auf die klassische Weise geht.«

Diesmal lächelte er. »Mit dem, was du kannst, ist die Versuchung groß, die Theorie einfach zu ignorieren. Und du sollst deine Fähigkeiten einsetzen. Denk aber dran, dass jedes Betreten eines Traums eine Störung ist. Von Reinfallen ganz zu schweigen. Die klassische Methode liefert gelegentlich die schnelleren Antworten.«

Allegra trat ein paar Schritte zur Seite und widmete sich dem nächsten Traum. Sie hatte bemerkt, dass Florentine von einem Fuß auf den anderen trat, als wolle sie etwas sagen, den beiden jedoch nicht ins Wort fallen.

Allegra grinste in sich hinein. Florentine schien Lorenzos Nähe immer noch durcheinanderzubringen. Dass sie ihn gerettet hatte, hatte ihr Ansehen bei ihm auch deutlich gesteigert.

Jetzt lächelte Lorenzo beide Mädchen an. »Ich verstehe schon, dass ihr ungeduldig seid. Vor allem du, Florentine, bei dir kann es ja nie schnell genug gehen.«

Florentine wurde feuerrot. Hastig wandte sie sich ab und stellte sich neben Allegra. Lorenzo, der anscheinend nicht bemerkte, was seine Worte bei Florentine auslösten, fuhr fort: »Scannt bitte noch die Reihe hinter uns. Dann machen wir Schluss. Die anderen sind auch fast fertig.« Er wollte sich abwenden, da verdüsterte sich seine Miene plötzlich. »Verdammt, wir haben Besuch«, murmelte er. »Schon wieder.«