4.

»Wo?«, fragte Allegra und wollte sich umdrehen, doch Lorenzo schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Nein! Lass dir nichts anmerken. Kommt mit, wir gehen unauffällig zurück.«

Allegra kostete es ihre ganze Kraft, dem Befehl zu folgen. Sie vermutete, dass die anderen jede ihrer Bewegungen verfolgten. Als marschierte eine Armee Ameisen über ihren Rücken, spürte sie plötzlich misstrauische Blicke auf ihrer Haut kribbeln. Von Florentine war keuchendes Atmen zu hören.

Scheinbar unbeschwert schlenderte Lorenzo durch die Traumreihen und schickte alle nacheinander zurück, bis mit Allegra und Florentine nur noch Frode, der Student aus Norwegen, und Laurie übrig blieben.

Allegras Herz schlug bis zum Hals, ihr ganzer Körper war angespannt.

»Was zum Teufel wollen die schon wieder von uns?«, murmelte Lorenzo durch zusammengepresste Zähne. »Finden wir es heraus!«

Endlich drehten sie sich um und sahen Mortensens Leuten abwartend entgegen. Wie sie es bei Madame Berger gelernt hatten, stellten sie sich in einer Dreiecksformation auf, in der Lorenzo die Spitze bildete. Unbewusst ahmten sie alle Lorenzos Haltung nach. Hüftbreite Schrittstellung, Arme verschränkt.

Ihre Besucher waren zu dritt, genau wie beim ersten Mal in Schwarz und Rot gekleidet. Eine der Gestalten trat vor. »Übt ihr das Weglaufen? Wie vorhin?«, fragte er mit höhnischem Unterton.

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Lorenzo kurz angebunden. »Was wollen Sie?«

»Wir haben eine Botschaft. Für Allegra Heller.«

»Halten Sie sich von ihr fern!« Lorenzos Stimme wurde eine Spur dunkler, eine Drohung schwang ganz unverhohlen darin mit.

»Na, na, Kleiner. Wir tun euch ja nichts. Bist du ihr Aufpasser? Kann sie nicht selber reden?« Er zeigte mit dem Finger auf Allegra. »Du!«

Allegra funkelte ihn an, aber sie überließ Lorenzo vorerst die Führung und sagte nichts.

»Schreiben Sie ihr einen Brief. Die Akademie-Adresse ist Ihnen ja bekannt«, gab Lorenzo zurück.

»Nicht so kompliziert, Bruder.« Der Mann trat noch einen Schritt näher und schob die dunkelrote Kapuze nach hinten. Zum Vorschein kamen graue Augen, die Allegra abschätzend musterten. Ein kantiges Gesicht, militärisch kurz geschnittene, eisgraue Haare. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

Jetzt reichte es ihr. Allegra trat neben Lorenzo, hörte, wie Laurie hinter ihr sofort nachsetzte und die Lücke schloss. Mit Genugtuung registrierte sie, dass sie genauso groß war wie ihr Gegenüber.

»Er wartet auf dich«, sagte er einfach.

»Ach ja? Da kann er lange warten!« Sie hielt seinem Blick stand, sah dem Mann herausfordernd in die Augen. In seinem Gesicht blitzte Überraschung auf, rhythmisch öffnete und schloss er seine Finger, als wolle er nach ihr greifen, und Allegra ging unwillkürlich in Schrittposition, hob die Hände, zu lockeren Fäusten geballt.

Der Mann gewann seine Fassung schnell wieder. »Nicht gleich so wild, kleine Kampfmaus«, lächelte er. »Ich soll dir noch etwas von Viktor Mortensen ausrichten.«

»Es interessiert mich nicht.«

»Nun, das sollte es aber. Denn es ist wichtig. Hör gut zu.« Er macht eine dramatische Pause.

Allegra versuchte, ihr Pokerface zu wahren.

»Dein sehnlichster Wunsch, er kann ihn dir erfüllen.«

Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Bilder schossen durch ihren Kopf. Sie selbst mit Elena am Strand. Ihre Eltern Hand in Hand durch die Dünen schlendernd. Die vier Hellers mit Arthur und Quirin unterwegs. Mit Mühe drängte sie diese Bilder zurück und schluckte leer. »Woher will Viktor Mortensen wissen, was ich mir wünsche?«, fragte sie heiser.

Ein gieriger Ausdruck huschte über sein Gesicht. Komm, dann findest du es heraus.

Sie hörte diese Worte so deutlich, als hätte er sie laut ausgesprochen. Für einen Moment stand sie wie erstarrt, die Kälte in den Augen des Mannes streifte sie wie ein eisiger Atem. Heftig schüttelte sie den Kopf, verschränkte die Arme. »Ich sagte Nein. Und dabei bleibe ich!« Doch sie hörte selbst, wie unsicher sie klang.

»Das Angebot steht. Aber nicht mehr lange«, sagte der Mann und zog sich die rote Kapuze wieder über den Kopf. Einen Lidschlag später waren er und seine schweigsamen Gefährten verschwunden.

Allegra starrte auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatten, das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr sehnlichster Wunsch …

Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter, sie zuckte zusammen und kam zurück ins Hier und Jetzt. »Mortensen legt es darauf an, dich zu verunsichern, Allegra. Das waren nur Handlanger.« Lorenzo.

Allegra drehte sich zu ihm um. Ihre Wangen fühlten sich ganz heiß an. »Das kann er gut«, murmelte sie. Hilflosigkeit machte sie immer unglaublich wütend. Sie wollte nicht hilflos sein. Schon gar nicht gegenüber Mortensens Männern. Doch die Worte des Eisgrauen schwangen wie ein Echo in ihr nach.

Adair hörte aufmerksam zu, als sie, zurück im Traumsaal, von der Begegnung berichteten. »Es gefällt mir nicht, dass er dich verfolgt«, sagte er zu Allegra. »Aber ich kann dich ja auch nicht immer hier in Sicherheit lassen. Du musst trainieren und vor allem lernen, wie du dich im Notfall verteidigen kannst. Nun, in den nächsten Tagen gehst du grundsätzlich nur mit einem der Lehrer oder mit Lorenzo in die Traumzeit. Ich möchte, dass jederzeit jemand bei dir ist.«

Allegra nickte niedergeschlagen. Sie dachte an Arthurs Bemerkung mit dem schwarzen Mann. Vor dem unartige Kinder gewarnt wurden, der nie kommt und doch eine ständige Bedrohung darstellt. Der die Gedanken vergiftet und dir immer dann, wenn du es nicht brauchst, einflüsterst, dass du ein Versager bist. Und der dir in dem Moment, in dem du am wenigsten damit rechnest, vielleicht ein Angebot macht, dem du nicht widerstehen kannst.

 

Das Gefühl einer nicht greifbaren Bedrohung hielt die nächsten Wochen an. Sie diskutierten mit Madame Pinot über Traumzeitkartografie, sie übten Dimensionswechsel und Membranarbeit mit Direktor Adair, sie lernten von Dr. Lamartin die Grundlagen der Traumzeitmedizin, sie trainierten bis zum Umfallen mit Madame Berger und Lorenzo. Jeden Morgen ging Allegra zudem noch zum Direktor, um das Verankern zu lernen. Bis in die Abende hinein saßen sie über ihre Hausaufgaben gebeugt, und die Sorge hing über ihnen wie ein schweres, feuchtes Tuch, das ihnen das Atmen schwerer machte.

Das harte Training ging an keinem von ihnen spurlos vorüber. Als würden alle wie Tonfiguren geformt und in einen Brennofen gesteckt, konnte man sehen, wie bei vielen von ihnen die weichen Konturen verschwanden und härteren Zügen Platz machten. Allegra spürte Muskelkater an Stellen, von denen sie nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab.

Laurie hatte sich nach ihrem Ausbruch und dem Gespräch mit Allegra merklich gefasst. Sie blieb zwar weiterhin in sich zurückgezogen, sprach im Unterricht nur das Nötigste und versteckte sich, wenn es ihr passte, hinter dem silbrigen Vorhang ihrer langen Haare, aber Allegra beobachtete, dass sie wieder aufrechter ging. Sie lächelte, wenn sie über den Campus ging und hatte sich sogar zu einer Partie Volleyball mit einer Gruppe Jugendlicher auf der Wiese hinreißen lassen.

Mehrfach telefonierte sie mit Elena, die ihr versicherte, dass der Zustand ihrer Eltern weiterhin unverändert sei. Ein Kollege von Dr. Lamartin würde sich kümmern, und Elena sei jeden Tag für eine Stunde dort.

»Fragt dich Quirin nicht, was du machst?«, hatte Allegra gefragt.

»Ich muss ihm nicht für jede Stunde Rechenschaft ablegen, Kleine. Wir sind zusammen, aber ich habe mein Leben und er seines. Keine Angst. Er weiß nichts.«

Florentines Sorge, sie müsste für die zwei Turteltäubchen immer wieder den Bungalow verlassen, erwies sich im Übrigen als unbegründet.

»Ich seh Arthur kaum außerhalb des Unterrichts«, beklagte sich Allegra an einem Samstag. »Er hängt nächtelang nur noch vor dem Computer. Wir schreiben uns Nachrichten …«

»Mit Herzchen?«, erkundigte sich Florentine.

»Haha. Elena hat auch keinen Rat für mich.«

»Wie geht’s deinen Eltern?«

»Sie ist jeden Tag bei ihnen. Seit die Lamartin hier ist, kümmert sich ein Doktor Chen um sie. Sie sagt es nicht, aber ich weiß, dass sie es kaum mehr aushält. Wir wissen, dass unsere Eltern quasi nur eine Haaresbreite von uns entfernt sind, und trotzdem trennen uns Welten. Zum Verrücktwerden ist das!«

Zusammen mit Florentine saß Allegra, einen Becher Milchkaffee in der Hand, auf den Stufen vor ihrem Bungalow und ließ sich von der Sonne, die bereits über die Baumwipfel gestiegen war, die nackten Füße bescheinen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, wie sie nach dem Aufstehen beim Blick in den Spiegel feststellen musste, und war froh, dass Elena nichts vom Skypen hielt und ihr beim Telefonieren nicht ins Gesicht sehen konnte.

»Weißt du noch, wie blass du warst, als du hier aufgekreuzt bist?«, fragte Florentine und nippte an ihrem Milchschaum.

Allegra wackelte mit den Zehen. »Ja klar. Wir waren am See, und ich bin beim Versuch, Wakeboard zu fahren, mehrfach fast ertrunken.« Sie stellte den Becher neben sich, lehnte sich mit den Ellbogen zurück auf die Stufen und schloss die Augen. Die Sonne malte rot gezackte Flecken auf die Innenseite ihrer Lider.

»Ach, das könnten wir doch heute wieder machen. Eine Party am See, meine ich. Nicht das Ertrinken. Wir haben so viel geackert die letzten Wochen, ein bisschen Pause haben wir uns verdient, sonst klappen wir noch zusammen. Und momentan können wir auch nicht mehr tun. Du weißt, dass Adair dich und deine Eltern nicht im Stich lässt. Er hat es versprochen! Aber du musst zugeben, wir haben hier grade mehrere Baustellen.«

Allegra antwortete nicht gleich. Sie war todmüde vom Akademieprogramm, und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, noch nichts Richtiges zustande gebracht zu haben. Bisher hatte sie Sofia nicht ausfindig gemacht, Jenny ebenso wenig, und die Suche nach ihren Eltern hatte noch nicht einmal richtig begonnen. Allegra sah sich jedes Mal um, wenn sie bei Übungen in der Traumzeit unterwegs war, spähte in jeden Traum, an dem sie vorbeikam – keine Spur. Nichts. Der Eisklumpen in ihrem Bauch wurde immer größer, und dass sie mit Arthur kaum mehr länger als fünf Minuten zusammen hatte, tat sein Übriges. Was würde sie dafür geben, mit Arthur am See entlangzuspazieren, den Sonnenuntergang zu beobachten, vorm flackernden Lagerfeuer zu sitzen … Und erneut hörte sie die Stimme des Mannes. Dein sehnlichster Wunsch, er kann ihn dir erfüllen.

Sie schüttelte sich. Florentine hatte recht: Eine Seeparty war jetzt wahrscheinlich genau das Richtige. Doch ehe sie etwas sagen konnte, kam Gabriella mit einem überdimensionierten Tretroller den Weg entlanggesaust, schmiss ihn auf die Wiese und rief Allegra zu, noch bevor sie vor ihr stand: »Du sollst zu Adair kommen!«

Tschüs, Seeparty!

»Ach was. Hat der Mann kein Telefon?«, fragte Florentine stirnrunzelnd. »Seit wann benutzt er Boten?«

Allegra, froh, aus ihren Gedanken gerissen zu werden, schmunzelte.

»Meine Mama ist heute hier, und sie wollte mit mir Eis essen gehen«, erklärte Gabriella. »Und dann haben wir den Direktor getroffen, und dann mussten die beiden unbedingt«, sie zeichnete Gänsefüßchen in die Luft, »›was besprechen‹ und haben mich weggeschickt.« Die Empörung war ihr deutlich anzusehen.

»Hm. Ich dachte, deine Mutter und der Direktor können sich nicht leiden?« Allegra erinnerte sich daran, was sie von Arthur gehört hatte. Die Familie Sorento hatte in der Dream Intelligence keinen besonders guten Stand.

»Ja, das stimmt schon«, erwiderte Gabriella. »Hat mich auch gewundert, dass er sie sprechen wollte.«

»Ach so.« Allegra erhob sich. »Wartest du kurz auf mich? Dann könntest du mich auf dem Roller mitnehmen? Passen wir beide drauf?«

»Ja klar. Cool!« Gabriellas schlechte Laune war wie weggeblasen.

Allegra lächelte und wandte sich an Florentine. »Ich komm später zum See, okay? Fangt ihr schon mal an.«

»Was will Adair wohl von dir?«

Allegra zuckte mit den Schultern. »Ich erzähl’s dir dann.« Sie ging ins Haus, stellte ihre Kaffeetasse in die Spüle und schaute in den Spiegel, der in dem kleinen Flur vor ihrem Zimmer hing. Weißes Top, Jeans-Shorts ohne Risse: Damit konnte sie beim Direktor auftauchen. Sie schlüpfte in ein Paar blaue Ballerinas und steckte sich das Handy hinten in die Hosentasche. »Okay, los geht’s!«, rief sie Gabriella zu, und zusammen rollten sie zum Hauptgebäude.

»Du musst mir unbedingt noch von eurer Wette erzählen«, sagte sie. »Eigentlich fand ich Arthurs Dreadlocks echt cool.«

Gabriella schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Haare Allegra ins Gesicht wehten. »Das geht nicht! Ich habe es Arthur versprochen.«

»Und wenn ich dich mit einem Eis besteche?«

Gabriella bremste, stieg ab und stellte sich mit verschränkten Armen vor Allegra. »Ich breche kein Versprechen!«

»Ach komm schon!«

Gabriella grinste schelmisch. »Kommt allerdings auf die Eissorte an … Maracuja?«, setzte sie hoffnungsvoll hinzu. »Mit Sahne?«

In diesem Moment erblickte Allegra den Direktor, der aus der Eingangstür trat, begleitet von einer großen Frau mit einem strengen, dunkelbraunen Dutt, die sich sofort eine Zigarette ansteckte. Scharfe Falten zogen sich durch ihr schmales Gesicht, und an ihrem Haaransatz schimmerte es grau. Adair sprach leise auf sie ein, sie schüttelte mehrfach den Kopf. Allegra fiel auf, dass sie müde aussah. Sie rauchte mit hektischen Zügen. Als ihr Blick auf Allegra traf, verengten sich ihre Augen.

Allegra schluckte. Sie wäre lieber zusammen mit Arthur das erste Mal auf seine Mutter getroffen. Aber es half nichts. Sie straffte ihre Schultern und ging neben Gabriella auf die beiden zu. Gabriella streckte wie ein Zirkusdirektor beide Arme aus. »Das ist Allegra!«, verkündete sie.

»Das habe ich mir gedacht, Kleine«, sagte Frau Sorento zu ihrer Tochter. Auf einmal überzog ein Lächeln ihr Gesicht, das es viel weicher werden ließ, und Allegra erkannte, woher Arthur seine sanften braunen Augen und seine Grübchen hatte. »Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Nenn mich bitte Barbara.«

Sie schüttelten sich die Hände, und Allegra konnte Schwielen an ihren Fingern spüren. Kein Wunder, immerhin war sie Glasbläserin. Künstlerin und Handwerkerin. Die Agenten hatten den Sorentos ihre fein gearbeiteten Sanduhren zu verdanken.

»Ich bin Allegra. Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen.« Dann wandte sie sich an Adair. »Direktor, Sie wollten mich sprechen?«

»Nicht ich direkt. Dr. Lamartin wollte sich mit dir unterhalten. Sie hat Neuigkeiten für dich.«

Allegras Kehle wurde eng. Sie wartete stumm, bis Adair fortfuhr.

»Geh in mein Büro, dort wartet sie auf dich. Und morgen früh – ich weiß, es ist Wochenende, aber darauf können wir keine Rücksicht nehmen – treffen wir uns bei Ruben. Um halb neun.«

»Okay, danke. Wir essen später dein Eis, ja?« Allegra nickte erst Gabriella, dann Frau Sorento zu und rannte ins Hauptgebäude. In ihrer Eile wäre sie fast gegen die automatische Schiebetür geknallt, trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, bis sie durchkonnte, dann lief sie nach links in den Gang mit den Sandbildern und klopfte an Adairs Tür, bevor sie sie auch schon aufriss.

Adairs Büro war wie eine antike Bibliothek eingerichtet. Auf zwei Stockwerken erstreckten sich raumhohe Regale an den Wänden. Unter der Treppe stand ein Schreibtisch, hinten, an einem der großen Fenster befand sich der große schwarze Besprechungstisch.

Dr. Lamartin hatte mehrere Blätter vor sich ausgebreitet und murmelte, die Hände auf die Tischplatte gestützt, mit gesenktem Kopf vor sich hin. Ein leichter Aftershave-Duft lag in der Luft. Allegra schlitterte in den Raum und stieß so heftig an den Tisch, dass mehrere Blätter zu Boden segelten. »Was ist mit meinen Eltern?«, platzte sie statt einer Begrüßung heraus.

Dr. Lamartin hob den Kopf. »Kein Grund zur Panik, Allegra«, sagte sie, ging in die Knie und sammelte die Seiten auf. »Setz dich, ich zeige es dir.« Sie wies auf einen größeren Bogen Papier, auf dem eine Grafik zu sehen war. »Sieh her. Das ist die Fieberkurve deiner Mutter. Die Grafik zeigt die letzten drei Monate.«

Allegra beugte sich über das Blatt. Die x-Achse zeigte die Wochen an, die y-Achse die Temperatur. Die blaue Linie begann im März bei 34,2 Grad und blieb konstant. Aber in der letzten Woche hatte es plötzlich einen leichten Knick gegeben, und ab da führte die Kurve ganz leicht nach unten, nicht viel, aber doch so, dass der heutige Wert bei 34,1 Grad lag. »Und was heißt das genau?«

»Das ist die Frage.« Dr. Lamartin nahm die Brille von der Nase und hielt sie in der Hand, während sie sprach. »Es könnte sein, dass das nur kurzfristig ist und die Temperatur wieder steigt.«

»Was Sie nicht glauben.«

»Ich weiß es nicht. Aber ich habe versprochen, dich auf dem Laufenden zu halten, auch wenn ich dir keine konkreten Angaben machen kann. Es könnte sein, dass ihre Verbindung zur Realität schwächer wird. Das wiederum würde bedeuten, dass wir weniger Zeit haben, als wir dachten. Die Temperatur darf nicht unter 33 Grad sinken …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber das musste sie auch nicht. Allegra wusste auch so, was die Ärztin meinte. Dann gibt es keine Hoffnung mehr.

»Und mein Vater?«

»Bei dem ist so weit noch alles in Ordnung.« Die Ärztin wies auf eine weitere Grafik mit einer grünen Linie, die konstant 34,4 Grad anzeigte. Sie lehnte sich an die Tischkante und drehte die Brille selbstvergessen in der Hand. »Kannst du mittlerweile verankern?«

»Ja, kann ich.«

»Sehr gut.« Sie setzte die Brille wieder auf und nahm Allegra bei den Schultern. »Wir gehen davon aus, dass wir noch etwas Zeit haben. Aber du solltest wissen, wie es aussieht, da sind Adair und ich uns einig.«

»Weiß Elena davon?«

»Sie wird heute noch informiert werden, aber wenn du vorher mit ihr sprichst, kannst auch du es ihr sagen. Und eines verspreche ich dir: Wir tun, was wir können.«

»Okay.« Allegra war stolz darauf, dass ihre Stimme nicht zitterte. Da hörte sie Schritte auf der Empore, und jemand kam die Treppe herunter.

Arthur.

Ach, daher der Duft nach dem bekannten Aftershave. Jetzt, wo sie es wusste, wunderte sie sich, warum ihr nicht gleich aufgefallen war, dass es Arthurs war.

»Was machst du denn hier?«, fragte Allegra verblüfft.

Arthur hob das Tablet, das er in der Hand hielt, und wies damit auf die Ärztin. »Wir versuchen uns in elektronischer Überwachung. Sehr geheim.«

Allegra starrte ihn an. Er hatte rot geränderte Augen, und seine Haut war fahl. Die ungleichmäßig geschnittenen Haarfransen standen ihm vom Kopf ab. »Ach ja? Und das macht ihr wann? Nachts?«, fragte sie. »Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen.«

»Ich brauche nur noch einen Kaffee«, wehrte Arthur ab.

»Und eine Pause«, beharrte Allegra. »Die anderen gehen zum See. Kommst du mit? Wenigstens für eine Stunde?«

Arthur warf einen vorsichtigen Blick auf die Ärztin. »Dr. Lamartin?«

»Wenn es sein muss«, sagte die Ärztin kühl und setzte ihre Brille wieder auf, sodass ihre Augen plötzlich kleiner wirkten. »Wir machen heute Mittag weiter.«

Arthur gähnte, legte das Tablet auf den Tisch und ließ sich von Allegra aus dem Zimmer ziehen.

»Weißt du eigentlich, dass deine Mutter hier ist?«, fragte Allegra, als sie nach draußen traten.

»Ja. Weiß ich. Wir treffen uns irgendwann, ich muss mit zum Friseur, meine Mutter hat gemeint, sie erträgt meine Frisur nicht länger. Sie wollte mir eine Nachricht schicken oder so.« Er gähnte erneut und stolperte. »In mir dreht sich alles. Welchen Tag haben wir eigentlich?«

»Samstag. Und du bist scheintot.« Allegra zog ihn hinter sich her. »Vergiss das mit dem See, du musst mal schlafen. Hast du die letzten Nächte durchgemacht oder was?«

»So ungefähr«, murmelte Arthur.

»Kein Wunder.« Sie bugsierte Arthur die Treppe zu seinem Bungalow hinauf, wartete, bis er den Handscanner betätigt hatte und die Tür mit einem Klicken aufsprang, und schob ihn in sein Zimmer. Alle Bungalows waren baugleich, und Arthur bewohnte das Zimmer, das bei ihnen Florentines war. Die Tür zu Gabriellas Zimmer war halb offen, und sie konnte einen unsortierten Haufen Klamotten auf dem Boden erkennen.

Arthur ließ sich auf sein Bett sinken. »Bleib noch ein bisschen. Gaby ist grade nicht da …« Er zog Allegra neben sich auf die Matratze und legte seine Stirn an ihre. Allegra schlang die Arme um seinen Nacken, atmete seinen herben Duft ein. Doch ihr brannte noch eine Frage unter den Nägeln. »Ich will ja nicht unromantisch sein, aber was machst du eigentlich nachts mit der Lamartin?«

Sie fühlte, wie Arthur das Gesicht zu einem Lächeln verzog. »Wir versuchen, uns in die Schattenakademie zu hacken.« Arthurs Hand wanderte von ihrer Hüfte zu ihrem Oberschenkel.

Allegra wusste, dass Arthur sich richtig gut mit Computern auskannte. Jenny Harper, die sich fast jede freie Minute im Internet herumtrieb und noch die zwielichtigsten Seiten fand, hatte ihm in den letzten Monaten einiges beigebracht. Dass Dr. Lamartin nicht nur Ärztin, sondern Computergenie war, war ihr indessen neu. Trotzdem fragte sie nach: »Und warum muss das nachts sein?«

Seine Finger lösten einen wohligen Schauer auf ihrer Haut aus.

»Hm?« Arthur war ganz eindeutig nicht bei der Sache.

»Warum nachts?«, wiederholte Allegra.

Arthurs Hand hielt inne. »Weil ich versuche, in Sofias oder Jennys Handy reinzukommen, ohne dass sie was merken. Von einem von beiden zu Mortensen wäre es dann vielleicht nur noch ein kleiner Schritt. Was glaubst du, wie cool es wäre, wenn wir Zugang zu seinem Handy hätten? Dann wüssten wir mehr darüber, was er vorhat. Und während ich das mache, suchst du deine Eltern. Deal?« Die letzten Worte murmelte er nur noch, dann schlossen sich seine Augen, und kurz darauf wurde sein Atem tiefer, gleichmäßiger.

Allegra blieb noch eine Weile liegen, genoss das Gefühl, Arthur endlich mal wieder ganz für sich zu haben. Sie musste wieder an die Situation in Adairs Büro denken. Warum hatte Dr. Lamartin plötzlich so kühl geklungen? Und Arthurs Blick, als er sie um Erlaubnis gebeten hatte, war so untypisch gewesen. Irgendwie unterwürfig. So gar nicht wie der Arthur, den sie kannte. Sie strich mit der freien Hand über seinen Kopf, die Stoppeln fühlten sich überraschend weich an. Ganz sanft drückte sie ihm einen Kuss auf die Lippen. Arthur seufzte, wachte aber nicht auf. Bevor sie noch selbst einschlief, stand sie so leise wie möglich auf und legte eine Fleecedecke über ihn.

Auf seinem Schreibtisch fand sie Notizblätter und Stifte. Elena hätte ihm etwas Lustiges gezeichnet, doch Allegras künstlerische Fähigkeiten hatten nie für mehr als Strichmännchen gereicht. Also hinterließ sie ihm einen Zettel voller Herzchen.

Ein Summen in ihrer Hosentasche kündigte eine Nachricht an. Bin am See. Kommst du noch? Flo.

Später vielleicht, tippte sie zurück.

Alles in Ordnung?

Weiß nicht. Lass uns später reden.

Ein Daumen-hoch-Emoji folgte, und Allegra steckte das Handy wieder ein.

Sie musste dringend mit Elena reden.

Langsam wanderte sie über das Gelände zurück zu ihrem Haus. Die Sonne brannte vom Himmel, wie sie es in München nie erlebt hatte. Das grelle Mittagslicht stahl die Farben aus den Bäumen und Wiesen und ließ die Konturen der Gebäude scharf hervortreten. Eine Gruppe Kinder sauste auf Rollern über die Wege, vor einem Haus hatte jemand ein Planschbecken aufgestellt und darüber einen Sonnenschirm platziert, und zwei kleine Kinder mit Badewindeln saßen in dem lauwarmen Wasser und begossen sich quietschend und lachend mit Bechern. Im Rasen sah man Reifenspuren, viele der neuen Bewohner parkten die Autos zwar vor dem Gelände am Straßenrand, fuhren aber mit ihren Einkäufen direkt vors Haus. Allegra umrundete ihren Bungalow und setzte sich, wie schon so oft, mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt in den Schatten der großen Kiefer. Der sandige Boden unter ihr war warm, und die Kiefernnadeln kitzelten sie in der Kniekehle, als sie die Beine ausstreckte.

Sie zog ihr Handy hervor, doch sie musste gar nicht wählen, genau in diesem Moment fing es an zu klingeln.

»Können wir reden?« Elenas Stimme klang besorgt.

»Ich wollte dich auch gerade anrufen. Ich muss dir was erzählen. Aber du zuerst.«

Es entstand eine Pause, dann sagte Elena gepresst: »Mama …«

»Ja, ich weiß. Dr. Lamartin hat es mir auch gerade gesagt. Sie meinte, es könnte auch einfach ein Ausreißer nach unten sein, aber ich habe ihr angehört, dass sie sich Sorgen machen.«

»Ja, genau das Gleiche sagt Dr. Chen auch. Kleine, ich weiß, dass du viel um die Ohren hast mit allem, was bei euch abgeht …«

»Elli, ich suche sie wirklich jedes Mal, wenn ich in der Traumzeit bin, bislang ohne Erfolg. Weil ich nicht genau weiß, wo und wonach ich suchen soll! Aber morgen früh gibt’s ein Treffen mit Corlaeus. Und ich werde sein Haus nicht eher verlassen, bevor er mir nicht verspricht, dass es jetzt endlich richtig losgeht.«

»Das ist gut. Danke, Kleine.«

»Wir bekommen Papa und Mama zurück, Elli, daran musst du ganz fest glauben. Sie leben noch, und ich kann mir nicht vorstellen, dass das Schicksal so gemein ist, sie uns ein zweites Mal zu nehmen.« Allegra hörte selbst, dass sie diesmal wie die ältere Schwester klang. Viel hatte sich in den letzten Wochen geändert, und auch wenn sie von Zweifeln geplagt wurde und die Angst allgegenwärtig war, so hatte Allegra eines doch begriffen: Hilflosigkeit war gleich Stillstand. Und Stillstand bedeutete, dass jemand anderer die Fäden zog. Und das, das ging gar nicht. Egal, ob es sich um ihre Eltern, die Zukunft der Akademie oder das Schicksal aller Träumenden handelte.

»Was macht Arthur?«

Allegra verdrehte die Augen und erzählte, was Arthur ihr berichtet hatte. »Wir sehen uns gerade nicht so oft, aber ach, wir werden diese Zeit schon überstehen«, sagte sie dann und wechselte das Thema, indem sie ihrerseits nach Quirin fragte. »Wie geht’s dir mit der Geheimnistuerei?«

»Es geht schon. Weißt du was?« Elena lachte leise. »Ich habe ihm letztens erzählt, dass ich stundenweise in einem Frauenhaus aushelfe und die Adresse und alle Details dazu geheim seien. Und das ist noch nicht mal gelogen. Ist bei Frauenhäusern tatsächlich so.«

»Wow. Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen.«

»Siehst du?« Elena klang stolz. »Ich kriege das hin mit Quirin. Und wenn Mama und Papa wieder da sind, wird uns schon noch eine Geschichte dazu einfallen. Eine Weltreise ohne Handy, zum Beispiel. Apropos Handy, funktioniert deines noch?«

Allegra nickte. »Ja, komisch. Das letzte, das ich geschrottet habe, war Arthurs. Da waren wir noch in München. Seitdem ist nichts passiert. Vielleicht war ich zu müde. Oder zu beschäftigt.«

Allegra hatte schon von klein auf die unangenehme Eigenschaft, die Lebensdauer aller elektronischen Geräte in ihrer Umgebung zu verringern. Handys, Toaster, elektrische Rasierer, alles gab in ihrer Nähe irgendwann den Geist auf. Niemand wusste, warum. Arthur hatte gemutmaßt, sie habe zu viel Energie.

»Oder du wirst erwachsen«, sagte Elena jetzt.

»Du glaubst, die Lösung ist so einfach?«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Aber schön wäre es. Ich habe mir vorgestern so ein Hightech-Ultraschall-Gerät für die Haut gekauft, damit man keine Falten kriegt, und das war ziemlich teuer.«

»Du brauchst doch so was gar nicht! Du bist gerade vierundzwanzig!«

»Noch nicht«, erwiderte Elena mit Grabesstimme. »Ich habe neulich ein graues Haar entdeckt.«

Allegra rollte mit den Augen, auch wenn Elena das nicht sehen konnte. »Okay, ich tu mein Möglichstes, wenn ich das nächste Mal heimkomme«, seufzte sie. »Und morgen weiß ich schon mehr. Ich melde mich nach dem Treffen mit Corlaeus.«

»Ja, mach das. Ach übrigens werden vor unserem Haus nächste Woche die Straße und der Gehweg aufgerissen, sie müssen neue Leitungen verlegen oder so was. Ich hoffe, unser Haus hält das aus. Beim letzten Mal, als unsere Nachbarn sich noch mal einen Kabelanschluss gelegt haben, fiel wirklich der Putz von der Wand, weil die Erde dermaßen gezittert hat.«

»Solange keines deiner Bilder von der Wand fällt«, gab Allegra zurück.

Das Gespräch mit ihrer Schwester tat ihr gut. In den folgenden Minuten wechselten sie von ernsten Themen zu den leichteren und wieder zurück, lachten gemeinsam und waren im nächsten Moment den Tränen nahe. So war es seit dem Verlust ihrer Eltern immer gewesen, und dieser Rhythmus hatte etwas Vertrautes, das einfach guttat. Allegra jedenfalls fühlte sich, als sie das Gespräch beendete, wieder imstande, die nächsten Tage anzugehen, und schob jegliches Gefühl von Panik weit von sich. Entschlossen, aus dem Tag noch etwas zu machen, zog sie sich einen Bikini unter ihr Outfit, sprühte sich großzügig mit Sonnenspray ein und machte sich auf den Weg zum See, vorbei an den Bungalows, durch den Park, der am Ufer eines Rhone-Nebenarmes endete.

»Wo ist Arthur?«, rief ihr Florentine entgegen, die allein auf dem Steg saß und mit den Füßen im Wasser baumelte.

»Der schläft, nachdem er mit der Lamartin die Nächte durchgemacht hat.«

Florentine riss die Augen auf. »Wie bitte?«

»Nein, nicht was du denkst. Sonst wäre ich nicht hier, oder?« Allegra sah sich um. »Wo sind denn alle?«

Florentine zuckte mit den Schultern. »Ach, keine Ahnung. Die sind alle fertig vom Training. Nicht mal Jean hatte Lust. Was soll’s. Komm, setz dich, dann genießen wir den See eben zu zweit. Ich bin froh, dass die Zwerge diese Stelle noch nicht entdeckt haben.«

Libellen und winzige Wasserläufer flirrten im Sonnenlicht dicht über das grünlich schimmernde Wasser.

Allegra stieg aus ihren Shorts, zog sich das Top über den Kopf und ließ sich neben Florentine auf den Steg sinken. Sie bewegte die Füße im Kreis, sodass kleine Strudel entstanden. Die leichte Strömung kräuselte die Wasseroberfläche. »Meiner Mutter geht’s schlechter«, sagte Allegra leise.

»Oh nein!« Florentine legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an sich. »Seit wann denn das? Hast du damit gerechnet?«

Allegra schüttelte den Kopf. »Diese Woche«, sagte sie dumpf.

»Also hast du weniger Zeit, als du dachtest«, folgerte Florentine richtig. »Deswegen morgen das Treffen. Wird aber auch Zeit. Momentan passiert ja nichts.«

»Du vergisst die Typen in der Traumzeit«, widersprach Allegra.

»Nein, die habe ich natürlich nicht vergessen. Aber wie gesagt: Es passiert nichts. Und Mortensen wird weder dich noch uns umbringen wollen. Wenn er die Macht über die DI übernimmt, braucht er uns. Er versucht dich ja sogar zu ihm zu locken. Wir haben es alle gehört.« Sie sah Allegra von der Seite an. »Versprich mir, dass er dich nicht ködern kann.«

»Spinnst du?«

»Er könnte dir versprechen, deine Eltern zu finden. Oder deine Mutter zu retten.«

Allegra starrte sie an. Das kam ihren Gedanken näher, als sie zugeben wollte.

»Aha, du hast dran gedacht! Allegra, der Mann lügt. Du darfst ihm nicht glauben!«

»Tu ich nicht, keine Sorge. Aber meinst du wirklich, dass er uns braucht? Er könnte auch eine komplett neue Generation Agenten aufbauen. Ohne uns. Vielleicht –«

»Ja, aber das Schlüsselwort hier heißt: Generation. Glaub mir, der Mann will Macht – aber auch Anhänger, die ihm zujubeln. Er wird versuchen, uns vor vollendete Tatsachen zu stellen.«

»Das klingt, als wüsstest du, wie er tickt«, sagte Allegra und wusste in dem Moment nicht, ob sie Florentine bewundern oder bemitleiden sollte.

Ihre Freundin verzog das Gesicht. »Eigentlich hoffe ich das nicht. Mich hat nur schon immer interessiert, was Menschen antreibt. Und das, was ich von Mortensen weiß, passt so gut zusammen, finde ich. Aber genug von dem Idioten! Wir sind zum Spaßhaben hier.« Mit diesen Worten ließ sie sich ins Wasser fallen und schlug mit der Handfläche ins Wasser, sodass Allegra einen Schwall abbekam.

»He, geht’s noch?« Allegra schüttelte sich.

»Zu zweit können wir die Wakeboard-Anlage nicht nutzen. Aber schwimmen geht. Komm rein, los. Nur für eine Runde, die wird uns guttun.«

Allegra glitt ins Wasser. Sie legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Sie breitete die Arme aus und sah hinauf in den wolkenlosen Himmel. Stahlblau und so unendlich weit wölbte er sich über ihr. Was ihre Eltern wohl gerade sahen? Ob sie noch wussten, wie sich der Sommer anfühlte? Wie sich der Duft nach Hitze, der aus den Wiesen aufstieg, auf die Haut legte? Wie einen ein wohliger Schauer überlief, wenn man nach Stunden in der Sonne ins kühle Wasser sprang? Wenn die Sonne so gleißend war, dass man sie selbst mit geschlossenen Augen nicht ausblenden konnte? Ihre Mutter bestimmt. Sie hatte den Sommer geliebt, jede einzelne Minute genossen, die sie draußen verbringen konnte.

Allerdings war sie nie ein Fan der Berge gewesen. Auch wenn sie in München lebten. »Man muss sich stundenlang anstrengen, um dann endlich in die Weite schauen zu können«, hatte sie immer gesagt und war auf Wanderungen oft nur mitgegangen, um ihrem Mann und den beiden Mädchen, die mit Begeisterung jeden Trampelpfad hochkeuchten, den Spaß nicht zu verderben. Ihre Mutter war im Wasser zu Hause. Ob Meer, Baggersee oder Fluss, sie nutzte jede Gelegenheit zum Schwimmen. Und in Situationen wie jetzt fühlte sich Allegra ihr nahe. Seit sie wusste, dass ihre Mutter am Leben war, noch viel mehr.

Etwas kitzelte sie an der Hand: Eine Schlingpflanze trieb neben ihr, und Allegra schwamm mit ein paar kräftigen Zügen außer Reichweite. Sie tauchte unter, die Augen geöffnet, konnte aber gerade mal zwei, drei Meter weit sehen. Die leichte Strömung nahm Sand, Kiesel und Pflanzen mit, sie schaute wie durch ein Flaschenglas in eine grünlich schimmernde Welt, in der es nur das Pochen ihres eigenen Herzens gab. Und wie aus weiter Ferne hörte sie eine Stimme, die ihr versprach, ihre Mutter wieder zu ihr zu bringen.

 

Am Abend holten sie sich bei Madame Marius zwei große Pizzen. »Wollen wir einen Filmabend machen? Heute läuft Lord of Shadows, wir könnten ihn über mein Notebook streamen. Was meinst du?«, hatte Florentine gefragt, als sie mit nassen Haaren und herrlich abgekühlt vom See zurückgegangen waren.

Allegra hatte erleichtert zugestimmt. »Gute Idee. Ich brauch Ablenkung. Sonst drehen sich meine Gedanken nur noch im Kreis.«

»Willst du Arthur fragen, ob er dazukommt?«

Allegra zögerte kurz, dann sagte sie entschlossen: »Nein. Das wird ein Mädelsabend. Ohne Romantik.«

Romantisch wurde es dennoch. »Na ja, eher kitschig«, kommentierte Florentine, als die Credits über den Bildschirm liefen. »Trotzdem irgendwie schön. Sie werden es niemals ein Leben lang miteinander aushalten, aber was soll’s.«

Zwei leere Pizzakartons und eine Chipstüte stapelten sich auf dem Couchtisch, Florentine hatte eine Miniflasche Rosé geleert, Allegra trank wie immer Orangina.

»Ich schau noch kurz, was zu Hause los ist.« Florentine klickte auf eine deutsche Nachrichten-App. Ein Video wurde eingeblendet, und Allegra richtete sich abrupt auf. »Mach mal lauter!«

Auf dem Bildschirm war ein etwa vierzigjähriger Mann zu sehen, der eine Rede hielt, dann schwenkte die Kamera in den Saal, um die Reaktion der Zuschauer einzufangen. Einige hatten ungläubig die Hand vor den Mund geschlagen, andere riefen wütend dazwischen. »… gab es einen Eklat«, erklärte der Moderator aus dem Off. »Alexander Schönburg hat bei der Süddeutschen Klimakonferenz, die heute in Nürnberg stattgefunden hat, eine höchst kontroverse Rede gehalten. Zu Beginn sprach er über eine neue, noch geheime Kommunikationstechnologie, die in den nächsten Wochen publik gemacht werden soll. Doch dann wechselte er abrupt das Thema und warnte die Menschheit vor einer Bedrohung, die die gesamte Menschheit beträfe.« Schönburg wurde eingeblendet, der schrie: »Der dunkle Nebel! Der dunkle Nebel! Er wird euch alle holen!« Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn, sein Gesicht war verzerrt, und er schlug immer wieder mit den Händen auf das Rednerpult. »Sein Auftritt wurde abgebrochen«, fuhr der Moderator fort. »Bisher hat es keine Stellungnahme gegeben, woher diese vermeintliche Erkenntnis käme. Seine Parteikollegen sind jedenfalls irritiert, und wir können jetzt schon davon ausgehen, dass es in der Öffentlichkeit ebenfalls einen Aufschrei geben wird. Die Neuen Grünen sind normalerweise für ihre Realpolitik bekannt.«

Allegra stützte das Kinn in die Hände. »Den kenne ich«, erklärte sie verdutzt. »Der war letztes Jahr bei uns an der Schule. Total guter Typ, kann einen wirklich für Politik begeistern. Vom Ende der Welt hat er bei uns jedenfalls nichts erzählt. Irgendwie wirkt er plötzlich ganz anders.«

Und als die Kamera näher heranzoomte, wusste sie, was sie irritierte.

Sie konnte sich vor allem an seinen fröhlichen Gesichtsausdruck erinnern. Jetzt war davon nichts mehr übrig. Nackte Angst schimmerte in seinen Augen.

 

Kurz darauf räumten sie die Reste weg und putzten sich, einträchtig nebeneinander im Bad stehend, die Zähne. Florentine hielt ihr ein Döschen hin. »Hier, bevor du Sonnenbrand bekommst. Du bist ganz rot.«

»Echt?« Allegra lehnte sich näher zum Spiegel. Tatsächlich, ihre Wangen zeigten einen rötlichen Schimmer. »Danke.« Sie tupfte vorsichtig Creme darauf und spürte überrascht, wie sich ihre Haut entspannte.

In ihrem Zimmer war es nach der Hitze des Tages merklich abgekühlt, sie schlüpfte im Shorty unter die dünne Decke und schickte Arthur noch eine Nachricht.

Bis morgen früh, ich freu mich auf dich. xxx

Arthur war offensichtlich nicht nur wach, sondern auch online, denn er antwortete prompt. Warum bist du vorhin nicht bei mir geblieben?

Du hast geschlafen.

Aber nur kurz. War mit meiner Mutter und Gaby unterwegs. Soll ich noch zu dir kommen?

Allegra lächelte, ihr Herz schlug wie auf Kommando schneller.

Pretty please?

Allegra trug ihre Bettdecke nach draußen und setzte sich auf die Stufen vor dem Haus, die Arme um die Knie geschlungen. Der Wind strich angenehm kühl über ihre Haut, roch nach Salbei, Thymian und den kleinen Blüten, die hier überall wuchsen und sich nur nachts öffneten, dann aber einen betörenden Duft verströmten.

Der Akademiepark war dunkel, die meisten Bewohner schliefen bereits. In regelmäßigen Abständen erhellten Laternen entlang der Wege die Nacht wie kleine Lichtinseln. Dunkle Wolkenschleier zogen, vom Meer kommend, über den Himmel, der Mond hing als dünne Sichel knapp über dem Horizont. Ein Schatten bewegte sich zielstrebig in ihre Richtung, dann schlangen sich Arthurs Arme um sie, und für einen Moment genoss sie einfach seine Hände, die über ihren Rücken strichen, und atmete seinen Duft ein.

»Machst du dir Sorgen um deine Mutter?«, fragte er leise.

Ah, Dr. Lamartin hat geplaudert. »Ein bisschen. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. So lange war ich davon ausgegangen, sie sei tot. Und jetzt weiß ich, dass sie am Leben ist, was ja eigentlich die beste Nachricht überhaupt ist, habe aber gleichzeitig furchtbar Angst um sie.« Allegra schluckte. Sie strich mit dem Daumen über Arthurs Handrücken, während sie sprach. »Irgendwie geht’s mir schlechter als zu der Zeit, in der ich dachte, dass ich sie gar nicht mehr habe. Eins weiß ich sicher: Wenn ich sie nicht finde … das überlebt Elena nicht. Das kann ich ihr nicht antun.«

Seine Stimme klang rau. »Du wirst sie finden, bestimmt. Nachts kommt einem nur jede Aufgabe schwerer vor.« Er wies hinauf zum Himmel, wo die Sterne in den Wolkenlücken leuchteten. »Unsere Seelen sind wie ewige Sterne. Wir sind Traumwanderer. Wir verlöschen nicht einfach so. Hab Vertrauen.«

Allegra fühlte sich direkt ein bisschen besser. Sie saßen Schulter an Schulter, seine Wärme drang durch ihr T-Shirt. Der Traumstab an der Ecke des Hauses wiegte sich ganz leicht, wachte über Florentines Schlaf.

Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange, und sie wischte sich unwillig übers Gesicht. Arthur legte einen Arm um sie und drückte sie an sich. Allegra schmiegte sich an ihn.

»Ach, das wollte ich dir doch zeigen«, sagte Arthur plötzlich und zog ein mehrfach zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Hosentasche. Er strich es über seinem Knie glatt. Es war eine herausgerissene Seite aus einem Buch. »Dr. Lamartin hat neulich mal was gesagt, das hat mich stutzig werden lassen. Ihre Familie und die Adairs sind seit gefühlt hundert Jahren befreundet. Das hier ist aus der Abschlussarbeit von einem Mentor an der Akademie in Sydney. Recht aktuell, das Ganze. Er hat die Fähigkeiten von Scouts analysiert, deinen Vater hat er als eines seiner Beispiele genannt. Dabei schreibt er, dass vor vier Jahren eine Wahl zum Direktor der Akademie Adair anstand. Dass aber mögliche Nachfolger bereits früher nominiert werden.«

»Ich dachte, das ist dann automatisch ein Adair. Oder eine. Ich weiß nicht, ob es da Frauen gibt.«

»Gibt es. Du vergisst übrigens Direktor LeMayne – weißt du noch, Adairs Vorgänger, der im Kampf gegen Mortensen gefallen ist? Aber darum geht es mir nicht. Schau mal, was für Namen laut dieser Analyse auf der Nachfolgerliste standen.«

Allegra beugte sich interessiert über das Blatt, zog ihr Handy unter der Decke hervor und schaltete die Taschenlampe ein. »Adair, Jones, Heller, Gonzales«, las sie vor. »Heller? Wie? Etwa mein Vater? Davon wusste ich gar nichts.«

»Nein. Gemeint ist deine Mutter«, erklärte Arthur.

Allegra konnte es kaum glauben. »Wie bitte?«

»Spannend, was? Aber sie verschwand, und Adair wurde Direktor. Adair hieß die Akademie schon von Anfang an, weil Adrian Adair sie 1833 gegründet hat. Aber zwischendurch, wie gesagt gab es Direktoren aus anderen Familien. Deswegen wurde die Akademie aber nicht umbenannt.«

Allegra schwirrte der Kopf. »Warte mal. Verstehe ich das richtig? Meine Mutter sollte vielleicht Akademiedirektorin werden, und nur weil sie nicht mehr da war, wurde Adair gewählt?« Sie dachte fieberhaft nach. »Und wenn meine Eltern wieder zurückkehren, dann …« Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, der so ungeheuerlich war, dass sie die Worte nur als Flüstern herausbrachte. »Will Adair überhaupt, dass meine Eltern gefunden werden?«

»Genau das habe ich mich auch gefragt«, sagte Arthur zögernd. »Vielleicht solltest du ihn mal darauf ansprechen.«

Allegra nahm das Blatt und starrte darauf. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Vielleicht bin ich auf der falschen Spur. Vielleicht ist das gar nichts. Aber ich fand, du solltest das wissen. Vor allem, wenn es ab morgen darum geht, deine Eltern zu suchen. Und wir möglicherweise nicht mehr viel Zeit haben.«

Allegra schluckte leer. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, doch in ihrem Kopf wirbelte es. »Morgen«, sagte sie dann.

Sie würde nicht einen Tag länger warten können, um Adair mit ihrem neuen Wissen zu konfrontieren. War es tatsächlich möglich, dass sie immer noch nicht die ganze Wahrheit kannte?