5.

Am nächsten Morgen machten Florentine, Arthur und Allegra sich direkt auf zu Corlaeus. Sein kleines Häuschen am Eingang zum Akademiegelände war für Außenstehende einfach das Wärterhäuschen. Stimmte ja auch. Aber es war eben auch das Haus des Wächters der Akademie. Diese Funktion war nicht allgemein bekannt, sodass es doch einige unter den Studenten gab, die nicht ahnten, welch große Bedeutung der rauschebärtige Pförtner für die Akademie hatte.

Auf der Anrichte der kleinen Küchenzeile hatte Corlaeus ein Körbchen mit Brioches und Croissants platziert, daneben blubberte eine Kaffeemaschine, und auch eine Teekanne mit der Akademie-Kräutermischung hatte er vorbereit.

Als Allegra zusammen mit Florentine das Haus betrat, nickte er ihnen zu. »Hast du ebenfalls eine SMS von Elena erhalten?«, fragte er und hielt ihr eine Tasse Milchkaffee hin.

Allegra schüttelte überrascht den Kopf. Sie zog sofort ihr Handy hervor, und Florentine ergriff die Chance und schnappte sich die Tasse.

»Wieso? Worum geht’s?« Jetzt sah sie es auch. Sie überflog den Text ihrer Schwester. Bauarbeiten. Müssen Garten öffnen für Fahrzeuge. Q hat gemäht und den Traumstab zerbrochen. Habt ihr noch mal einen für mich??? E.

Allegra verschwammen die Buchstaben vor den Augen. »Ich kann es einfach nicht glauben. Das kommt davon, wenn man jemanden datet, der deine größten Geheimnisse nicht wissen darf!«

»Ich werde mal sehen, was ich tun kann«, sagte Corlaeus. »Es gibt in München einen Sanduhrenhersteller, der hat auch ein paar Traumstäbe in seinem Lager, soweit ich weiß. Ich möchte nicht, dass Elena auch nur eine Nacht ohne Schutz verbringt. Wir müssen davon ausgehen, dass Mortensen sie im Visier hat und jede Chance ergreifen wird, ein Druckmittel gegen uns in die Hand zu bekommen. Behaltet das bitte dennoch für euch. José greift sonst ein, und dafür ist es noch zu früh. Das würde nur Aufmerksamkeit auf Elena lenken«, fügte er hinzu.

»Danke«, murmelte Allegra und nahm Florentine ihre Tasse wieder aus der Hand.

»He!«

»Du magst doch gar keine Milch in deinem Kaffee.«

Die Tür schwang auf. »Guten Morgen zusammen«, sagte Adair, der heute in einen hellgrauen Sommeranzug gekleidet war. Er betrat die Küche, griff nach einem Croissant und lehnte sich an die Küchenzeile.

Laurie und Lorenzo trafen als Letzte ein.

Sie setzten sich alle um Corlaeus’ Küchentisch. Im Gegensatz zu den anderen Bungalows hatte dieser im Küchen- und Wohnbereich seit Neuestem riesige Glasfronten; so hatte Corlaeus noch bessere Sicht darauf, wer das Akademiegelände betrat. Die Scheiben waren mit einer Spezialbeschichtung ausgestattet, sodass man zwar hinaus, aber nicht hineinsehen konnte. Außerdem hielten sie die Wärme ab.

Adair räusperte sich. »Ich möchte euch kurz darstellen, wie der Stand der Dinge ist. Und euch meine – unsere – Theorie darüber erläutern, wo Stefan und Maria derzeit sind. Allegra weiß es teilweise schon, aber ich rekapituliere das noch einmal kurz für alle.«

Allegra spürte, wie die Spannung, von der sie nicht einmal gespürt hatte, dass sie sie besaß, ihre Schultern förmlich hinunterrollte und sie freigab. Jetzt ging es los. Endlich.

Adair blieb stehen. »Nun, wir wissen, dass ihre Seelen überlebt haben«, begann er mit ruhiger Stimme. »Obwohl wir damals miterleben mussten, wie Mortensen ihre Aura zerrissen hat. Zumindest haben wir das in diesem Moment geglaubt.«

»Wie konnten sie ohne Aura überleben?«, fragte Laurie.

Allegra sah vor ihrem inneren Auge, wie das blaue Leuchten um ihre Eltern herum erlosch, wie der Nebel nach ihnen griff und sie nach und nach verschluckte, sie ins Nichts zog.

»Die Aura eines Scouts ist stärker als die der anderen«, warf Corlaeus ein. »Das hat Allegra selbst schon erlebt.«

Arthur saß neben ihr, eine Kaffeetasse in seiner Hand. Er lächelte Allegra aufmunternd zu.

»Stefan hat also mehr Reserven, möglicherweise ist seine Aura noch intakt. Oder zumindest nicht irreparabel beschädigt. Er könnte, um das bildlich darzustellen, Maria mit unter seinen Schirm nehmen«, fuhr Adair fort. »Dennoch ist der längere Aufenthalt in der ersten Ebene, der Nebelwelt, nicht ratsam.«

»Nicht ratsam?«, wiederholte Laurie. »Wohl eher tödlich.« Sie blickte besorgt auf Allegra, diese lächelte verkrampft.

»Nun, normalerweise schon. Aber wie wir jetzt wissen, haben Allegras Eltern es irgendwie geschafft. Denn wäre das Band zu ihrem Körper endgültig zerrissen, hätten wir das gesehen: Sie wären gestorben. Doch die Körpertemperatur deiner Eltern bleibt seit vier Jahren konstant.«

»Bis letzte Woche«, sagte Allegra leise.

Adair setzte sich auf den letzten freien Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Tisch und sein Kinn auf die gefalteten Hände. »Noch wissen wir nicht, was das bedeutet. Ob es überhaupt etwas bedeutet. Wir … ich gebe die Hoffnung nicht auf. Und jetzt kommst du ins Spiel, Allegra.«

Allegra sah durchs Fenster auf die Straße, wo gerade ein Mann auf einem Motorroller vorbeifuhr, drei Baguettes unter den Arm geklemmt. Er wusste nicht, dass die Welt, die er nachts besuchte, in der physikalische Gesetze außer Kraft traten, so real war.

»Jedes Mal, wenn ich in die Traumzeit gehe, suche ich nach ihnen.« Allegra sah in die Runde. »Auch nach Jenny und Sofia«, ergänzte sie mit Blick auf Lorenzo und Laurie. »Nichts. Keine Spur. Ich weiß ja auch gar nicht, wo ich gucken soll.«

»Sie können sich aber nicht seit vier Jahren in der Nebelwelt aufhalten«, sagte Corlaeus. »Deswegen«, er machte eine Pause und sah alle der Reihe nach an, »glauben wir, dass sie sich von Traum zu Traum flüchten.« Bei Allegra blieb sein Blick kurz hängen, und sie wusste in dem Moment, dass er dasselbe vor seinem inneren Auge sah wie sie: abgemagerte Gestalten, die durch einen undurchdringlichen Nebel irrten.

»Deine Eltern sind in einem Traum? Seit vier Jahren?« Lauries Kopf ruckte hoch.

Allegra nickte.

»In was für Träume könnten sie denn rein? Abgesehen davon, dass es verboten ist!«

Allegra dachte an das unendliche Meer der leuchtenden Kugeln und sprach das aus, was ihr seit Wochen im Kopf herumging. »Das … das sind doch Millionen Träume. Immer wieder schaffen sich die Träumer neue. Wie um Himmels willen soll ich sie denn da finden? Ich bin Scout, keine Hellseherin.«

»Wenn Allegras Vater vorher sehen kann, was sich in dem Traum befindet, sucht er sich möglicherweise einen raus, in dem sie sich gut verstecken können. Und dann flüchten sie in den nächsten, wenn der Träumer aufwacht. Das ist es doch, was Sie meinen, oder?« Arthur verschränkte die Arme vor der Brust und sah Adair und Corlaeus auffordernd an.

»Ganz genau.« Adair seufzte. »Aber Allegra hat ebenfalls recht. Sie kann nicht Millionen von Träumen durchsuchen. Wir müssen daher versuchen, Maria und Stefan zu uns zu locken. Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt …«

»… muss der Prophet eben zum Berg gehen, schon klar«, sagte Arthur. »Nur: Wie soll das gehen?«

Adair lehnte sich zurück. »Es gibt mehrere Möglichkeiten. Die erste: Wir gehen in die Traumkammer.«

Diese Kammer kannte Allegra bereits. Es war ein geheimer Übungsraum an der Akademie, in dem leere Träume aufbewahrt wurden. Mit einem speziellen Verfahren haltbar gemacht, konnte man an deren Membranen üben und sich in den Träumen umsehen, ohne einem Träumer zu schaden. Allegra hatte bisher nicht verstanden, wie das funktionierte, aber sie hatte darin bereits mehrere Stunden verbracht und gelernt, wie sie die Stimmung von Träumen verändern konnte.

»Sorry, ich versteh’s nicht«, sagte sie. »Was sollen wir in der Kammer?«

»Wir konservieren dort bereits seit vielen Jahren Träume. Ich möchte, dass du nachsiehst, ob du einen Traum von jemandem aus deiner Familie findest. Etwas, das dir bekannt vorkommt – und damit auch deinen Eltern.«

»Können wir nicht einfach einen Traum von mir nehmen?«

»Träume zu konservieren ist ein sehr aufwendiger Prozess«, sagte Corlaeus bedauernd. »Das dauert Wochen. Ich schlage vor, du überprüfst erst einmal, ob du einen passenden Traum findest.«

»Wisst ihr denn nicht, wessen Träume in die Traumkammer gebracht wurden?«

»Nein. Wir schützen auch hier die Privatsphäre der Träumer. Aber in unserer heutigen Situation kann ich eine Ausnahme genehmigen.«

Auch wenn nicht sicher war, ob sie diese Aufgabe lösen konnte, war Allegra so froh, dass sie endlich – endlich! – eine konkrete Aufgabe hatte, und wäre am liebsten sofort aufgesprungen.

»Lorenzo wird dir helfen, ihr könnt nachher gleich anfangen. Warte bitte noch einen Moment, wir sind noch nicht fertig«, bremste Adair Allegra, die bereits ihren Stuhl zurückschob.

Lorenzo nickte ihr zu.

Arthur kniff die Augen zusammen. Er schloss seine Hände um die Tasse, die Knöchel seiner Hände zeichneten sich weiß vor seiner Kaffeetasse ab. Was war plötzlich los mit ihm?

»Was passiert, wenn Allegra keinen Traum findet?«

Allegra war dankbar, dass Laurie diese Frage stellte. Sie hatte gerade überlegt, wie sie das formulieren könnte, ohne zu zweifelnd zu klingen.

»Dann greift Plan B. Aber dazu kommen wir, wenn es so weit ist. Wir gehen Schritt für Schritt vor«, gab Adair ausweichend zur Auskunft.

Die Engländerin warf ungeduldig ihre langen Haare zurück. Ihre pastellfarbenen Armreifen klimperten. »Sehen Sie, genau das ist Ihr Problem. Können Sie nicht einfach erklären, was Plan B ist, anstatt so geheimnisvoll zu tun? Wenn ich nach Jenny frage, ist es das Gleiche. Direktor, bitte!« Laurie schlug mit der Handfläche auf die Tischplatte. »Dieses ewige Need to know macht mich wahnsinnig.«

»Need to was?«, fragte Florentine.

»Need to know, also nur das zu wissen, was man wissen muss, ist Grundlage jeder Agententätigkeit«, antwortete Adair scharf. »Ihr seid zudem Studenten, keine ausgebildeten Agenten.«

»Warum sind wir dann überhaupt hier?«, schoss Laurie hitzig zurück.

»Weil ich keine Wahl habe!« Jetzt wurde auch Adair laut.

Allegra sah zwischen beiden hin und her wie bei einem Tennismatch.

»Ein Großteil meiner Agenten ist damit beschäftigt, Viktor Mortensen zu finden und ihn unschädlich zu machen. Gleichzeitig habe ich Allegra versprochen, nach ihren Eltern zu suchen, und dieses Versprechen gedenke ich einzuhalten.«

»Was ist Plan B?«, fragte Allegra, und beide, Laurie und Adair, schauten sie verblüfft an, als hätten sie nicht damit gerechnet, dass jemand bei ihrem Streit dazwischenging.

Adair blickte für einen Moment an die Zimmerdecke. Allegra konnte sehen, dass er um Fassung rang. »Das Problem ist, Allegra, dass Plan B eigentlich keiner ist. Deswegen möchte ich das hier und jetzt nicht erörtern. Nur so viel: Grundsätzlich bedeutet er: ein Quadrant nach dem anderen, ein Traum nach dem anderen. Aber das würde ich dir gerne ersparen. Also bitte erst die Traumkammer.«

»Selbstverständlich, Direktor«, sagte Lorenzo.

Laurie zwinkerte Allegra mit einem versteckten, aber unverkennbar triumphierenden Lächeln zu, als wolle sie sagen: Du musst Adair einfach festnageln.

»Wie weit seid ihr, du und Dr. Lamartin? Kommt ihr voran?«, wandte sich Adair jetzt an Arthur.

»Ja, aber langsam. Jenny ist keine Anfängerin. Wenn ich zu forsch vorgehe, ertappt sie mich und sperrt ihr Handy.«

»Wissen wir schon, wo sich Jenny und Sofia aufhalten? Das würde uns einen Hinweis auf Mortensens Aufenthaltsort geben.«

»Bisher nicht. Wir versuchen auch, Professor Hammond zu lokalisieren. Sobald wir etwas haben, sagen wir Bescheid.« Arthur klang frustriert.

»Du hast eine sehr schwierige Aufgabe übernommen, Arthur«, sagte Corlaeus, »du musst Geduld haben.«

»Geduld habe ich. Aber Zeit haben wir keine«, sagte Arthur dumpf.

»Das ist schon richtig. Aber denkt daran: Wir haben nur eine einzige richtige Chance. Wenn wir die vermasseln, ist Mortensen vielleicht nicht mehr zu stoppen.« Corlaeus klang ernst. Er sah allen nacheinander in die Augen, während er weitersprach. »Wir können diese Schlacht gewinnen, jedoch nur, wenn wir zu unseren Bedingungen kämpfen können. Sorgfalt ist das oberste Gebot. Ebenso wie Teamwork.«

»Und was mache ich?« Florentine trank den letzten Schluck aus ihrer Tasse und schob sie von sich.

»Du gehst mit Allegra und Lorenzo. Es wäre gut, wenn jemand als Beobachter in der Traumkammer dabei ist.«

Florentine gähnte. »Okay.« Sie merkte, dass alle sie anstarrten. »Was? Ich hatte zu wenig Schlaf und zu wenig Koffein.«

»Unser Treffen ist hiermit beendet«, verkündete Adair.

Florentine stand auf und ging zur Tür. »Kommt ihr?«

Allegra nahm einen Schluck Kaffee und legte sich noch einmal die Worte zurecht, die sie sich in der vergangenen Nacht überlegt hatte, als sie sich im Bett hin und her wälzte. »Direktor, Monsieur Corlaeus«, begann sie zögernd, »können wir einen Moment unter acht Augen sprechen? Wartet ihr draußen auf mich?«, fragte sie Florentine.

»Selbstverständlich.« Adair zog überrascht die Augenbrauen hoch. Mit einer Handbewegung entließ er die anderen.

Allegra wartete, bis nur noch Corlaeus und Arthur mit ihr im Raum waren. »Das klingt vielleicht etwas seltsam, nach dem, was wir besprochen haben. Aber … Also … ich habe erfahren, dass meine Mutter vor vier Jahren auf der Liste für den Direktorenposten für die Akademie Adair stand«, sprang Allegra jetzt einfach ins kalte Wasser. »Und wenn die Berichte von damals stimmen, wäre sie es wohl auch geworden.«

»Was willst du damit sagen?« Adairs Gesicht hatte sich verfinstert, und auch Corlaeus kniff die Augen zusammen.

»Soll ich ehrlich sein? Ich bin nicht sicher. Aber … aber … es kam Ihnen gelegen, dass meine Eltern verschwanden. Das stimmt doch?« Innerlich zitterte sie. War sie zu weit gegangen?

Die Haut um Adairs Mund war plötzlich kalkweiß. Er zerdrückte das Croissant, ohne es zu bemerken. »Ich habe Maria und Stefan suchen lassen. Und selbst tagelang gesucht«, sagte er gepresst. »Woher kommt auf einmal dieses Misstrauen, Allegra? Wofür hältst du mich? Für jemanden, der seinen eigenen Leuten den Tod wünscht? Der über Leichen geht, um eine Beförderung zu erhalten?« Seine Stimme war immer leiser geworden.

Corlaeus legte Adair die Hand auf den Arm. »Wir sind alle nicht mehr die gleichen Menschen wie vor vier Jahren. Viel hat sich geändert. José ist ein fähiger und gerechter Direktor dieser Akademie.« Jetzt wurde seine Stimme scharf. »Und am Schicksal deiner Eltern trägt allein Viktor Mortensen die Schuld. Vergiss das nicht.«

Mit einem Ruck befreite Adair seinen Arm. Er atmete heftig, und Allegra konnte seine Halsschlagader pulsieren sehen. »Ich kläre das selbst, Ruben.« Er wandte sich an Allegra. »Wenn deine Mutter am Leben – hier – gewesen wäre, ja, womöglich hätte sie den Posten bekommen, sie wurde hochgeschätzt. Wir waren Konkurrenten. Aber«, und jetzt brach seine Stimme, »ich war ihr Anker, Allegra. Und ich bin nicht ehrlos.«

»Sie haben dennoch nicht mit allem gesucht, was Sie zur Verfügung hatten.« Arthurs Stimme klang ruhig. Er wedelte mit dem Blatt Papier, das er vergangene Nacht Allegra gezeigt hatte. »Tatsache ist, dass das Verschwinden der Hellers Ihnen zugutekam, Direktor. Und dass Allegra heute und hier ein Recht hat, Ihre Motive infrage zu stellen.«

Adair überflog den Text. Sein Gesicht, zuerst blass, wurde dunkelrot.

»Das reicht!« Corlaeus sagte es leise, doch die Worte vibrierten durch das ganze Haus. »Allegra, dein Misstrauen ist unangebracht. José hat immerhin eine Taskforce gebildet. Extra für deine Eltern.«

Ja, nach vier Jahren.

»Wir waren alle ehrgeizig, Allegra«, krächzte Adair und räusperte sich. Das Blatt in seiner Hand zitterte. »Ich wollte diesen Posten. Und vielleicht … vielleicht habe ich tatsächlich nicht all meine Mittel eingesetzt. Vielleicht habe ich zu schnell aufgegeben.« Er trat vor und nahm ihre Hände in seine.

Allegra konnte nichts sagen. Seine Hände fühlten sich kalt an, doch seine Augen glühten wie Bernstein, warm und aufrichtig. Sie meinte, Tränen darin zu sehen. »Aber jetzt erhalte ich eine zweite Chance. Du musst Folgendes bedenken: Erst seit wir von dir und deinen Fähigkeiten wissen, gibt es eine reelle Möglichkeit, deine Eltern zu finden. Lass mich wiedergutmachen, was ich versäumt habe.«

Allegra blickte Arthur an, dann Corlaeus, in ihr spielte alles verrückt. Wer weiß, vielleicht könnten ihre Eltern längst zwischen ihnen sitzen, hätte Adair mehr Energie darauf verwendet, sie zu finden. Doch dass er sein Versäumnis so offen zugegeben hatte, hatte ihre Wut einfach verrauchen lassen. Auch er hatte jemanden verloren und schien ehrlich zu leiden. Zurück blieb seine Traurigkeit. Und der unbedingte Wille, alles Versäumte mit doppelter Kraft nachzuholen.

»Ich glaube Ihnen«, sagte sie langsam und zog ihre Hände aus den seinen. »Ich musste Sie dennoch fragen, verstehen Sie?«

Adair nickte. »Ich verstehe dich tatsächlich.«

Corlaeus sah Allegra mit gerunzelter Stirn an und nickte mit dem Kopf zur Tür. Allegra und Arthur gingen auf den Gang hinaus, wo Lorenzo und Florentine auf sie warteten und sie neugierig ansahen. Doch was dort drinnen vorgefallen war, ging nur Adair und sie etwas an.

»Ist euch aufgefallen, dass er Laurie keine Aufgabe zugewiesen hat?«, fragte Allegra deshalb stattdessen und blieb in der Haupthalle stehen. Heute rannte niemand die Treppen herauf oder herunter.

»Ja. Weil er davon ausgeht, dass Jenny sich irgendwann bei Laurie melden wird. Wir haben ihr Handy verwanzt«, erklärte Arthur.

Lorenzo hob ruckartig den Kopf. »Meins auch?«, fragte er.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Wegen Sofia natürlich.« In seiner Stimme klang ein Hauch von Sehnsucht durch, obwohl er sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte. Dass Sofia ihn verraten hatte, würde ihn wohl noch lange beschäftigen.

»Soweit ich weiß, nicht«, gab Arthur zurück und drückte Allegra einen Kuss aufs Haar. »Dann will ich euch mal arbeiten lassen. Bis nachher, Süße. Ich hoffe, du findest, was du suchst.«

Allegra und Florentine folgten Lorenzo in den zweiten Stock. Am Ende eines Flurs blieben sie vor einer unauffälligen Tür mit einem Scanner an der Seite stehen. Der Spanier hielt seine Hand davor, die Tür schwang lautlos auf, und gab den Blick auf einen großen, rechteckigen Raum ohne Fenster frei. An der Decke waren Lichtleisten angebracht, die indirektes Licht spendeten.

Wie schon beim ersten Mal hatte Allegra das Gefühl, einen Widerstand überwinden zu müssen, um den Raum zu betreten. Eine Klimaanlage sorgte für eine konstante Temperatur, es war deutlich kühler als draußen, aber durchaus angenehm.

Florentine, die nach ihr eintrat, sah sich staunend um. Um sie herum schwebten unzählige Träume, als hätte jemand einen ganzen Eimer Seifenwasser in große und kleine Seifenblasen verwandelt und sie in diesen Raum gepustet. »Hier war ich noch nie drin«, sagte sie und pfiff leise durch die Zähne. »Cool!« Vorsichtig ging sie an der Wand entlang bis ans Ende des Raums. Dort standen in einer Reihe mehrere dreibeinige Holzhocker, wie sie auch von Musikern verwendet werden. Sie setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Und jetzt?«

»Ihr wisst, dass jede Membran in ihrer ganz eigenen Frequenz schwingt. Jeder von uns erkennt instinktiv die Frequenz, die seinem eigenen Traum am nächsten kommt.«

»Wie Arthur, der Gabriellas Traum neulich erkennen konnte«, sagte Allegra.

»Genau! Versuch einfach, nach etwas zu suchen, das dir bekannt vorkommt. Ich setz mich zu Florentine, um dich nicht zu stören.«

Lorenzo ließ sich neben Florentine auf einen Hocker sinken und streckte die langen Beine aus.

Allegra blieb in der Mitte des Raumes stehen. Um sie herum schwebten die Träume wie Seifenblasen. Sie waren kleiner als in der Traumwelt, als würde ihnen, sobald sie die Nebelwelt verließen, nach und nach die Luft entweichen. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, den Rücken gerade, die Hände auf den Knien, und begann, ihren Atem zu verlangsamen. Es kam darauf an, so ruhig zu werden, dass sie das Schwingen der einzelnen Träume wahrnehmen konnte. Jede Membran hatte ihren eigenen Rhythmus, wie sie vor einigen Wochen gelernt hatte.

Diesmal ging es nicht darum, in die Träume hineinzusehen. Also schloss sie die Augen, blendete alles aus, bis sie nur noch ihren eigenen Herzschlag vernahm. Es fühlte sich an, als wäre sie unter Wasser. Sie streckte die Arme seitlich aus, die Handflächen nach oben, und ließ das Pulsieren auf sich wirken. Die Träume berührten sie nicht, es war, als würde Allegra ein unsichtbares Feld umgeben, das sie immer wieder abstieß. Manche vibrierten schnell, eher hektisch, manche ganz tief und langsam, manche gaben lang gezogene Töne von sich wie bei einem Fagott, und andere klangen hell und leicht wie eine Triangel. Wonach suchte sie? Corlaeus hatte gesagt, sie würde den Traum instinktiv erkennen. In welche Kategorie fielen die Träume ihrer Familie?

Mit einem tiefen Atemzug tauchte sie in ihre Erinnerungen ein, in das, was Familie für sie darstellte. Sie sah Elenas Bilder in ihrem Atelier vor sich, die Stimmungen, die sie damit ausdrücken konnte. Sie erinnerte sich an einen Familienausflug aufs Oktoberfest, an das grandiose Gefühl der Freiheit hoch oben auf dem großen Kettenkarussell. Daran, wie es sich anfühlte, gemeinsam einen Berg zu besteigen, einen müden Fuß vor den anderen zu setzen, bis es nicht mehr höher ging, man den Kopf hob und von der Aussicht überwältigt wurde. Erinnerte sich an das Familienpicknick unter dem Gipfelkreuz, das stets gefolgt war. All das zusammen ergab einen Rhythmus, und plötzlich wusste sie, wie er sich anhören musste. Zwei lange, zwei kurze Schläge, ein Schlag Pause, zwei lang, zwei kurz, Pause, zwei lang, zwei kurz, Pause.

Sie hielt die Augen geschlossen, spürte mit allen anderen Sinnen in die Traumkammer hinein. Passte einer der Träume dazu? Hatte sie Glück? Da! War es das? Hinten in der Ecke, knapp unter der Zimmerdecke, hing ein kleiner, unscheinbarer Traum. Ganz schwach pulsierte er, und Allegra streckte ihm die Hand entgegen. Als hätte der Traum erkannt, was sie wollte, schwebte er langsam auf sie zu.

Allegra hörte, wie Florentine nach Luft schnappte und Lorenzo etwas zuflüsterte. Das hätte fast gereicht, um sie aus der Konzentration zu reißen, irritiert öffnete sie die Augen. Doch sie hatte Glück. Der Traum befand sich direkt vor ihr, schwach flackernd, als hätte eine Glühbirne in seinem Inneren einen Wackelkontakt. Baaam, baaam, bam, bam, baaam, baaam, bam, bam.

Sie beugte sich vor, bis sie mit der Nasenspitze fast die Membran berührte. Was befand sich darin? Die milchige Struktur der Traumhülle klärte sich, und gespannt sah sie hinein. Sie konnte nichts Konkretes erkennen, nur wirbelnde Farben und Formen, eingerahmt von dem flackernden Licht. Sie hob die Hände und hielt sie vor die Membran, sodass der Takt durch sie hindurchpulsierte. Passte eigentlich, dachte sie und wartete gespannt, ob sich etwas Bekanntes zeigen würde.

Hinter dem Traum sah sie verschwommen, wie Florentine nach Lorenzos Arm griff und ihn so fest drückte, dass er schmerzlich das Gesicht verzog. Doch beide wagten keinen Ton, hielten förmlich die Luft an, um Allegra nicht zu stören.

Es war der einzige Traum, der ihrem Rhythmus nahekam, so viel war klar. Der Farbenwirbel wurde blasser, langsamer, eine riesige blaue Fläche zeigte sich, dann erkannte sie Dünen. Das Meer. Ein weißes Segelboot tanzte auf den Wellen. Ihre Mutter hatte oft von einem Segeltörn erzählt, den sie in ihrer Jugend unternommen hatte.

Jetzt hielt sie nichts mehr. Allegra stand auf, berührte vorsichtig die Membran und fühlte, wie sie unter ihren Fingerspitzen nachgab. Sie trat in den Traum und befand sich von einem Atemzug zum anderen auf dem Boot. Kurz drehte sie sich nach Florentine und Lorenzo um, doch sie konnte nicht mehr aus dem Traum hinaussehen.

Mit der Zunge fuhr sie sich über die Lippen, schmeckte Salz. Könnte das hier ein Traum ihrer Mutter sein? Sie spähte in die Kajüte hinunter: Niemand zu sehen. Plötzlich neigte sich das Boot mit einem hässlichen Knirschen zur Seite. Sie sprang nach rechts, versuchte das Gleichgewicht zu bewahren, doch der Traum hatte anderes vor. Das Boot kippte, Allegra hielt sich reflexartig an der Reling fest und sah zu, wie der Mast abbrach und in den Fluten versank. Oh nein! Sie musste raus hier! Was war das nur für ein Albtraum? Etwas stach ihr in die Hand. Als sie genauer hinsah, schrie sie vor Entsetzen laut auf. Die Reling bestand auf einmal aus Knochen! Das war garantiert nicht der richtige Traum. Wo kam sie bloß wieder raus? Es half nichts, sie musste springen! Das Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Sie tauchte unter und schwamm. Weg, nur weg von dem Boot, ein Zug nach dem nächsten, bis sie die schimmernde Membran vor sich sah, mit hektischen Schwimmstößen hindurchbrach und auf dem Boden der Traumkammer noch einen halben Meter rutschte.

Zwei Augenpaare sahen sie vollkommen verdutzt an. Florentine umklammerte Lorenzos Arm.

Allegra sah zurück zu dem Traum, dann wieder zu ihren Freunden und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das ist der falsche«, sagte sie trocken. »Meine Mutter hat das Wasser geliebt, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so was je geträumt hat. Und mein Vater … nein, ich glaube nicht.«

»Ach …« Florentine wollte etwas sagen, brach aber wieder ab.

»Du kannst meinen Arm jetzt wieder loslassen.« Lorenzo wackelte mit den Fingern.

»Oh, entschuldige.« Florentine zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ihr Gesicht färbte sich flammend rot.

Lorenzo rieb sich geistesabwesend den Oberarm. »Willst du es noch einmal probieren? Gibt es noch einen Traum, der sich vertraut anfühlt?«

Allegra ließ den Kopf sinken. Ihre Haare kitzelten sie an der Wange und am Hals. Mit dem Finger fuhr sie die Maserung des Parketts nach. Eine Weile blieb es still, nur das leise Summen der Klimaanlage war zu hören. Schließlich drückte sie sich mit den Händen vom Boden hoch, ihre Knie knackten, als sie aufstand.

Lorenzo und Florentine sahen sie erwartungsvoll an.

Sie drehte sich langsam einmal um sich selbst. »Hier sind so viele Träume, aber überlegt mal: Wie hoch ist die Chance bei Millionen von Menschen, dass ein Traum von mir, von uns, dabei ist?« Bei dem Gedanken, noch einen Traum wie eben zu besuchen, wurde ihr schlecht. Einmal fast zu ertrinken reichte ihr.

»Es war einen Versuch wert«, widersprach Lorenzo. »Wenn hier etwas gewesen wäre, wären wir einen Riesenschritt weiter.«

»Ja, hätte, wenn, vielleicht … aber jetzt stehen wir wieder da, wo wir heute Morgen waren. Sorry, ich …«

»Du hast dir gewünscht, dass es klappt«, sagte Florentine sanft. »Das verstehen wir. Lass dich nicht entmutigen. Adair hat gesagt, dass er dir helfen wird, deine Eltern wiederzubekommen. Er hat nicht gesagt, dass es einfach wird.«

Allegra nickte. Florentine hatte ja recht. »Was machen wir jetzt?«

»Adair und Corlaeus Bescheid geben. Und dann wirst du in die Traumzeit gehen müssen, schätze ich.«

»Wenn man auf Ebene eins was zu essen bekäme, könnte ich dort übernachten und rund um die Uhr suchen«, sagte Allegra nachdenklich.

Lorenzo erhob sich von seinem Hocker. »Du vergisst, dass nichts dadrinnen körperlich ist. Und die Sanduhren lassen dir nur ein bestimmtes Zeitfenster«, bemerkte er, während er diesmal mitten durch den Raum zur Tür ging, ganz langsam und vorsichtig, um keine Träume zu berühren.

Allegra sah ihm mit hochgezogenen Brauen hinterher. »Du weißt schon, dass das gerade nicht ernst gemeint war, oder?« Sie band sich die Haare mit einem Zopfgummi zusammen.

Florentine, die als Letzte den Raum verließ, schnaubte.

Alle drei brachen in Gelächter aus, und als sie die Tür der Traumkammer hinter sich zuzogen, war Allegra schon wieder etwas unternehmenslustiger zumute.

Corlaeus wartete in der Eingangshalle auf sie. »Hat es geklappt?«, fragte er mit einem Blick in ihre Gesichter.

Allegra wurde schlagartig ernst und schüttelte den Kopf.

»Es war auch nur eine minimale Chance. Nun, wie dem auch sei. Dann müssen wir es eben mit Plan B versuchen. Allegra, kommst du bitte mit in den Traumsaal? Während ihr hier euer Glück versucht habt, haben wir, José und ich, ein paar Traumquadranten definiert, die du durchsuchen kannst. Damit fangen wir an. Und von dort aus arbeiten wir uns weiter vor.«

Puh, das war ja ein straffes Programm! Allegra hätte nichts gegen eine kleine Pause gehabt, der Albtraum steckte ihr noch in den Knochen.

»Können wir helfen?«, fragte Florentine.

Corlaeus schüttelte den Kopf. »Nicht in dieser Phase. Aber keine Sorge, das kommt noch.«

Allegra zuckte entschuldigend mit den Schultern und rannte Corlaeus hinterher, der, ohne auf sie zu warten, losmarschierte. »Wir zwei allein?«, keuchte sie.

»Vorerst schon.« Corlaeus entriegelte die Tür, und sie traten in den Kuppelsaal. »Dass Maria und Stefan noch leben, ist mittlerweile bekannt, und da Sofia es wusste, weiß Mortensen es auch. Ich möchte nicht, dass wir durch eine große Suchmannschaft in der Traumzeit Aufsehen erregen. Wer weiß, was Mortensen tun würde, wenn er deinen Eltern begegnet. Also bewegen wir uns unauffällig.«

»Er sagt, er könnte sie mir wiederbringen.« Allegra hatte es gar nicht sagen wollen, die Worte waren ganz von allein über ihre Lippen gekommen.

»Das hat er nicht gesagt«, widersprach Corlaeus sanft. »Er hat gesagt, dass er dir einen Wunsch erfüllt. Das ist nicht dasselbe. Er manipuliert dich, Allegra. Sei dir dessen bewusst.«

»Weiß ich doch«, murmelte sie und fühlte, wie ihre Wangen vor Verlegenheit brannten.

Corlaeus legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. »Können wir?«

»Mhm.«

Er nahm eine Sanduhr von einem Bord und stellte sie auf einen kleinen Tisch zwischen zwei Liegen. »Du kannst dir das ähnlich vorstellen, wie wenn du einen Stein ins Wasser wirfst. Es entsteht eine Wellenbewegung nach außen. Genauso ist es, wenn man die Traumzeit betritt. Es ist natürlich nicht ganz so offensichtlich, aber jemand, der weiß, wonach er suchen muss, kann diese Spuren erkennen. Und je mehr Leute gleichzeitig die Dimension wechseln, desto größer ist der Aufruhr im Wasser, sozusagen.«

»Aber im Training sind wir doch auch mehrere, und wir gehen gleichzeitig in die Traumzeit.«

»Und wir haben gesehen, wohin das führt, nicht wahr?«, gab Corlaeus mit einem leichten Stirnrunzeln zurück und wies sie mit einer Handbewegung an, sich auf der Liege auszustrecken. Er breitete eine Fleecedecke über ihr aus und legte sich auf die Ottomane daneben. »So, lass uns loslegen. Denk an etwas, das dich mit deinen Eltern verbindet. Etwas, woran du dich gerne erinnerst. Und dann fang an zu summen. Ich komme dir gleich auf die erste Ebene nach.«

Die Sanduhr begann zu rieseln. Allegra schloss die Augen, und es dauerte nur wenige Momente, bis sie neben Corlaeus in der Traumwelt stand. Es war kühl, der Nebel waberte fast hüfthoch und war so dicht, dass Allegra ihre Füße nicht sehen konnte. »Was ich mich schon immer gefragt habe«, ihre Stimme hallte wie in einem Kirchenschiff, »auf was stehen wir hier eigentlich?«

Corlaeus verzog den Mund zu einem Lächeln. »Interessanterweise nimmt jeder von uns den Boden gleich wahr. Wenn du dich bei Gelegenheit mal hinkniest und mit den Händen fühlst, wirst du merken, dass es ein Steinboden ist. Aber jetzt haben wir anderes zu tun: Beginnen wir mit der Suche!«

Er ging zwischen den Traumreihen hindurch und wies auf die Blasen. »Tu das Gleiche wie in der Traumkammer. Schau nicht hinein, sondern such nach dem Takt.«

»O…kay«, sagte Allegra gedehnt. »Und wo sind wir hier genau? Wie haben Sie unseren Ausgangspunkt festgelegt?«

»Die Traumzeit kann man in Quadranten einteilen, das weißt du. Und Träume tendieren dazu, sich in der Nähe von den Träumen aufzuhalten, deren Träumer in der Realität eine Verbindung, gleich welcher Art, zueinander haben. Das heißt nicht, dass alle Träume, die eine Familie nachts träumt, nebeneinander sind, aber sie sind auch nicht Lichtjahre voneinander entfernt.«

»Es gibt doch ohnehin keine Entfernungen, dachte ich.«

»Du könntest dir, wenn dir das leichterfällt, auch alle Träume übereinandergeschichtet als Turm vorstellen. Oder alle an der gleichen Stelle. Sie sind gleichzeitig überall und nirgends, ganz nah und weit weg.«

»Hä? Das ist mir zu hoch.« Allegra schwirrte der Kopf. Sie fand schon die Vorstellung, dass es eigentlich keine Entfernung gab, gewöhnungsbedürftig.

»Wir Menschen sind es gewohnt, räumlich, also in drei Dimensionen zu denken«, dozierte Corlaeus ungerührt weiter. »In der Traumzeit muss man diese Vorstellungen über Bord werfen. Nun, wir gehen davon aus, dass deine Eltern nicht wahllos umherirren. Sie werden etwas Vertrautes suchen.«

»In meine oder Elenas Träume kommen sie nicht rein. Wegen der Traumstäbe. Oder es ist ganz anders: Sie haben mitbekommen, dass Mortensen von ihrem Überleben weiß, und tun genau das Gegenteil«, mutmaßte Allegra trocken, während sie neben Corlaeus herlief, froh, wenigstens seine letzten Sätze verstanden zu haben.

»Das mag am Anfang sicherlich der Fall gewesen sein, jetzt allerdings nicht mehr. Ich vermute, dass ihre Kraft, ihre Aura, fast aufgebraucht ist. Das würde auch den Zustand deiner Mutter erklären.«

Allegra saugte jedes Wort in sich auf. Seltsamerweise half ihr sein Vortrag dabei, sich auf die Membranen zu konzentrieren. Ihr Blick glitt über die Träume, die sie mehr hörte und spürte, als dass sie sie sah. »Wie lange haben wir Zeit?«

»Die Sanduhr läuft eine Dreiviertelstunde«, erklärte Corlaeus. »Und keine Sorge, ich fungiere als Anker.«

Allegra erinnerte sich an den Winter vor zwei Jahren. Sie hatte abends bei Johanna einen Film gesehen und war gegen zehn zu Fuß nach Hause gegangen. Frischer Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel, Dächer, Gärten und Straßen waren weiß, und es war so still. Kein Auto fuhr, niemand begegnete ihr, alle Geräusche waren gedämpft durch den Schnee, und sie war die Erste, die eine Spur hinterließ. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, im Schein der Straßenlampe die Schneeflocken tanzen gesehen und versucht, immer wieder den Weg einer einzelnen zu verfolgen. So ähnlich fühlte sie sich jetzt.

»Haben Sie eigentlich versucht, Sofia oder Jenny in ihren Träumen zu finden?«, fragte sie, während sie mit halb geschlossenen Augen und nach vorne ausgestreckten Armen Schritt für Schritt an den Träumen vorbeiging.

»Ja, natürlich. Aber Mortensen hat seine eigenen Traumzäune, vermute ich. Jedenfalls haben weder José noch ich etwas Brauchbares entdeckt. Deswegen haben wir Dr. Lamartin und Arthur darauf angesetzt, ihre Handys zu knacken.«

Allegra nickte. »Apropos, was ist eigentlich mit Elenas Traumstab?«

»Ich habe ihr jemanden vorbeigeschickt, der sich darum kümmert.«

»Danke.«

»Nichts zu danken – Moment!«, seine Augen verengten sich. »Was ist das da vorn?«

Vor ihnen flackerte etwas und war im selben Moment auch schon wieder verschwunden.

»Aura?«, sagte Allegra, plötzlich atemlos, und trat näher. Konnte es vielleicht sein, dass … »Nein.« Corlaeus ließ das Fünkchen Hoffnung sofort wieder verpuffen. »Aura ist blau. Das war eher gelb. Weißt du, was das bedeutet?«

Allegra wollte schon den Kopf schütteln, da fiel ihr etwas ein. Madam Pinot hatte im Unterricht die verschiedenen Farben erwähnt. Dieses Schwefelgelb war wie eine chemische Reaktion. Aber wofür?

»Langsam.« Corlaeus nahm sie am Arm.

Erneut flackerte es auf.

Allegras Herz hämmerte gegen ihre Rippen. »Hallo?«, rief sie leise. »Ist da jemand?«

Da tauchte jemand vor ihnen auf. Allegra zuckte zusammen. Ein Junge. Seine dünnen Beine steckten in zerrissenen Jeans, er trug ein ausgewaschenes graues T-Shirt, das einmal schwarz gewesen sein mochte. Der erste Bartflaum zeigte sich auf seinen Wangen, ein paar wenige Pickel zierten seine Stirn. Verwirrt blickte er sich um, atmete hektisch, als würde er zu wenig Luft bekommen. Der gelbliche Schimmer, den sie schon bemerkt hatten, umhüllte ihn.

»Ein Träumer«, hauchte Corlaeus ihr ins Ohr.