6.

Jetzt wusste sie es wieder. Der Nebel zerfraß die Seele eines ungeschützten Träumers, und dabei entstand dieses unheilvolle Schwefelgelb. Wo war sein Traum? Was machte er hier draußen? Allegra sah sich um. Ein paar Schritte entfernt entdeckte sie einen Traum mit einer Membran, die einen deutlichen Riss aufwies. Langsam, um den Jungen nicht zu erschrecken, trat sie vor. »Hey«, sagte sie sanft. »Was machst du denn hier? Komm, ich bring dich zurück.«

»Wer bist du?« Der Junge sprach mit krächzender Stimme, wie früher die Jungs aus Allegras Klasse, als sie in den Stimmbruch gekommen waren.

»Ich helfe dir.« Sie nahm seine Hand und zog ihn in Richtung seines Traums. Der Riss war nicht groß, sie musste ihm jetzt nur noch den Weg zurück zeigen und die Membran wieder von außen verschließen. Kinderspiel.

Doch sie hatte nicht mit seiner Reaktion gerechnet.

»Auf keinen Fall!«, sagte er entschlossen und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht nach hinten. »In dieses Zimmer gehe ich nicht mehr! Mein Leben ist eh schon scheiße genug. Dadrin … das ist ein verdammter Albtraum!«

Allegra sah ihn schockiert an – wusste er, dass er träumte? –, bis sie verstand, dass es nicht wörtlich gemeint war. »Ich bringe dich, okay?«, bot sie an.

»Vergiss es.«

»Hier draußen ist es gefährlich für dich.« Sie wies auf seinen Arm. »Siehst du das komische Flackern? Das ist wie ein elektrisches Feld – total schädlich. Nur dadrinnen, in dem Raum, bist du sicher.«

Der Junge zögerte. Sein Blick verharrte auf ihr, dann betrachtete er seine bloßen Arme. Das schwefelgelbe Licht schien in seiner Haut zu versickern, plötzlich schnappte er nach Luft. »Es tut weh!«, protestierte er.

»Dann komm.« Allegra warf einen Blick zurück zu Corlaeus, der sich etwas in den Schatten zurückgezogen hatte. War es in Ordnung, was sie hier tat? Als er ihr aufmunternd zunickte, schob sie den Träumer, eine Hand zwischen seinen Schulterblättern, sanft, aber entschlossen durch den Riss.

Kaum stand sie neben ihm in seinem Traum, wurde ihr klar, warum er nicht mehr hatte zurückkehren wollen. Ein durchdringender Gestank nach abgestandenem Rauch, billigem Fusel und Erbrochenem nahm ihr den Atem. Sie standen in einem Wohnzimmer, das allerdings kaum mehr als solches zu erkennen war. Müll stapelte sich bis unter die Decke, auch er verströmte einen fauligen Gestank. Auf einem alten Sofa lag jemand und schnarchte, eine Wolldecke über den Kopf gezogen. Daneben, auf dem Beistelltisch, standen etliche Bierdosen und eine halb volle Flasche Wodka.

Der Junge blieb stehen, verschränkte die Arme. »Schön. Jetzt bin ich wieder hier. Na, danke auch.« Er hatte sich um einen sarkastischen Ton bemüht, aber sein Blick huschte immer wieder zu der gewaltigen Form unter der Wolldecke. »Ich weiß schon, warum ich mir mindestens eine Pille am Tag einwerfe. Realität ist ja so was von überbewertet!«

Allegra zögerte. Etwas in seiner Stimme hinderte sie daran, sich umzudrehen und den Jungen hier drin sich selbst zu überlassen. Konnte sie, nein … durfte sie ihm helfen? Sie rang mit sich. Der Junge machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein und sah sich noch einmal zu ihr um. In seinen Augen stand Hoffnungslosigkeit. »Ich komm hier nie wieder raus«, sagte er dumpf, und in diesem Moment traf Allegra ihre Entscheidung.

»Warte«, sagte sie und trat hinter ihn, legte ihm beide Hände über die Augen.

Augenblicklich spannte sich sein ganzer Körper an, doch dann ließ er es geschehen. Sein Haar roch nach frischem Shampoo, er hatte den Geruch, der ihn umgab, nicht angenommen, als wäre er ein Fremdkörper in seinem eigenen Traum. Allegra nahm die Einzelheiten des Traums in sich auf. Die Vorhänge, grau vom Zigarettenrauch. Leere Pizzaschachteln auf dem Boden. Dunkle Möbel und abgewetzte Polster mit Flecken, die bestimmt schon vor Jahren verursacht worden waren. Alte Tapeten mit einem braungrünen Muster.

Sie konzentrierte sich. Was sollte sie als Erstes ändern? Licht! Sie brauchte dringend Licht! Ihr helles, freundliches Zimmer in der Akademie kam ihr in den Sinn, und sie ließ sich von dieser Vorstellung leiten, bis sich erste Sonnenstrahlen durch das schmierige Fenster tasteten, eine Lichtpfütze auf den Teppich malten. Sie entfernte die Vorhänge, ließ Flaschen und Müll verschwinden, verpasste den Wänden einen freundlichen Anstrich, säuberte die Fensterscheiben und öffnete danach die Fenster, sodass frische Luft hereinströmte. Aus der alten Wolldecke wurde eine helle Fleecedecke, die nach Waschmittel duftete. Die Möbel erhielten einen warmen Glanz. Zuletzt wagte sie sich an die Gestalt unter der Decke. Am liebsten würde sie den Typen verschwinden lassen, doch das funktionierte nicht. Vielleicht, weil er ein wichtiger Teil des Traums war. Aber er hörte auf zu schnarchen, rieb sich die Augen und setzte sich auf. Ob es der Vater des Jungen war, konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Sein Gesicht, durchzogen mit roten Äderchen, zeigte einen verwunderten Ausdruck. Dann verzog sich sein Mund zu einem Lächeln.

Allegra sah sich zufrieden um. Fertig. Hier konnte man es aushalten. Langsam nahm sie die Hände von den Augen des Jungen. Sofort schnappte er ungläubig nach Luft. »Wie hast du das gemacht? Wer bist du?«

Als er sich zu ihr umdrehen wollte, trat Allegra zurück, glitt durch die Membran und verschloss den Riss, wie sie es Dutzende Male mit Corlaeus geübt hatte. Sie hatte genug getan, der Junge sollte sich aber möglichst nicht an sie erinnern. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, vor ihren Augen tanzten Punkte. Das Ändern eines Traums war anstrengender, als es aussah. Doch innerlich jubelte sie. Sie hatte ihn nicht nur zurückgebracht, sondern ihm hoffentlich auch neuen Mut geben können. Das war es! Dafür lebte sie. Mit leuchtenden Augen wandte sie sich zu ihrem Mentor um.

Corlaeus hatte sie beobachtet. »Du hast den Traum geshiftet«, sagte er.

»Woher wissen Sie das?«

Der alte Agent hob die Schultern. »Ich kann nicht hineinsehen, aber ich spüre es, wenn sich die Stimmung grundlegend ändert. Hast du dem Jungen gesagt, wer du bist? Oder ihm irgendwelche Anweisungen gegeben?« Der letzte Satz klang streng.

»Was? Nein, natürlich nicht. Ich habe nur die Umgebung verändert. Ich wäre an seiner Stelle auch lieber hier draußen geblieben. Hoffentlich hilft es ihm.«

»Das wirst du leider nie erfahren«, meinte Corlaeus. »Wie ist er überhaupt aus seinem Traum herausgekommen?«

Allegra wollte schon mit den Schultern zucken, dann fiel ihr ein, was der Junge gesagt hatte. »Er nimmt Drogen«, sagte sie.

Corlaeus nickte. »Das könnte der Grund sein. Alles, was das Bewusstsein auf Dauer verändert, kann sich auch auf die Membranen auswirken. Lass uns kurz sehen, ob wir etwas tun können, damit das nicht noch einmal vorkommt.« Langsam ging er einmal um den Traum herum, legte an mehreren Stellen sekundenlang seine Hand auf die Membran und nickte erneut. »Das müsste vorerst reichen. Aber wir sollten uns den Traum merken und ihn in den nächsten Tagen noch einmal überprüfen.« Allegra konnte sehen, wie sich sein Blick nach innen richtete, er sog scharf die Luft ein. »Wir müssen zurück. Die Sanduhr ist fast durch.«

»Aber meine Eltern!«, protestierte Allegra. »Ich habe noch nicht mal richtig angefangen.«

»Du kannst heute Nachmittag mit Lorenzo noch einmal gehen.«

»Aber …«

Corlaeus klang unnachgiebig. »Warte bitte mindestens zwei Stunden, damit sich dein Körper erholt hat. Das Shiften ist anstrengender, als man glaubt. Ich muss sofort mit José sprechen.«

Allegra folgte ihm widerwillig, musste jedoch feststellen, dass sie tatsächlich erschöpft war. Sie trennten sich vor dem Traumsaal, Corlaeus eilte in das Büro des Direktors, Allegra in die Mensa. Über ihrem Vorspeisensalat schlief sie fast ein. Der Tisch neben ihr war mit zwei Familien besetzt, deren Kinder bereits den Nachtisch futterten, um dann mit lautem Gelächter zur Treppe zu rennen, die sie augenscheinlich als Spielplatz auserkoren hatten. Die Erwachsenen unterhielten sich in leisem Ton, und trotz ihrer Müdigkeit entging Allegra nicht, dass Blicke sie streiften und immer wieder ihr Name fiel. Aber das störte sie nicht weiter. Wenn jemand etwas von ihr wollte, musste er es schon laut sagen.

Unaufgefordert stellte ihr Madame Marius eine eisgekühlte Orangina und einen Café au Lait hin und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. »Geht es dir gut, Allegra? Kommst du voran?«

»Ja und nein«, gab Allegra zurück, nahm erst einen Schluck von dem Kaffee, dann von der Limo und spürte, wie die Kombination aus Saft und Koffein ihre Lebensgeister wieder ein bisschen weckte. »Es ist wie …«, sie suchte nach dem französischen Begriff, »die Nadel im Heuhaufen. Irgendwo müssen meine Eltern doch sein.«

Die Küchenchefin rief einen Befehl in Richtung Küche, eine Küchenhilfe kam und stellte einen dampfenden Teller vor Allegra ab. »Iss etwas«, sagte Madame Marius und setzte sich kurzerhand zu ihr an den Tisch. »Du wirst sie finden«, sagte sie zuversichtlich, nachdem Allegra die ersten Bissen gegessen hatte. »Oder sie finden dich.«

»Danke, Madame«, antwortete Allegra. »Das ist sehr nett von Ihnen.« Sie stocherte mit der Gabel auf ihrem Teller herum und schob die Kartoffeln von einer Seite auf die andere. »Schmeckt toll. Ich habe nur keinen großen Hunger.«

»Das Geheimnis heißt noix de muscade«, erklärte Madame Marius. »In kleinen Mengen verfeinern sie den Geschmack auf ganz wunderbare Weise, in größeren wirken sie allerdings halluzinogen. Also Vorsicht.«

Allegra blinzelte. »Man kann von Muskatnuss high werden?«, fragte sie, in der Annahme, sich verhört zu haben.

»Nun, so hätte ich es nicht ausgedrückt«, lachte die Köchin. »Und ratsam ist es schon gar nicht«, fügte sie hinzu. Nachdem sie Allegra noch einen guten Appetit gewünscht hatte, machte sie sich wieder an die Arbeit.

»… schon wieder zwei aus Deutschland. Mortensen erhöht den Druck.« Die Worte ließen sie aufhören, und sie drehte sich halb auf ihrem Stuhl zu dem Sprecher um. Er gehörte zu dem großen Familientisch, den sie schon beim Hereinkommen bemerkt hatte. Die vier Erwachsenen saßen noch zusammen und blickten sich mit ernsten Mienen an.

»Können wir dir helfen?«, fuhr eine der Mütter sie nicht gerade freundlich an.

Allegra zuckte zusammen. »Sorry. Aber können Sie noch einmal wiederholen, was Sie gerade gesagt haben?«

»Es sind weitere Familien hier eingetroffen, es wird also noch enger«, sagte der Mann, dessen Stimme sie hatte umdrehen lassen. »Ein anderer Vater hat mir erzählt, dass Mortensen seine Kinder bedroht hat. Er wüsste, wo sie zur Schule gehen, so in die Richtung.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Langsam reicht’s! Was glaubst du, weshalb wir hier sind? Weil es uns Spaß macht?«

Allegra verzog das Gesicht. Der Ton gefiel ihr immer weniger. »Das tut mir leid, aber was kann ich …«

»Mortensen versucht, DI-Familien zu erpressen, um sie auf seine Seite zu ziehen. Wir hören immer mehr solcher Geschichten. Vielleicht solltest du dich also erst einmal um diese Baustelle kümmern, Allegra Heller. Deine Eltern haben nicht für alle hier oberste Priorität, hat dir das schon mal jemand gesagt? Tu endlich das, wofür man dich geholt hat. Sonst frage ich mich, wozu du überhaupt nütze bist.« Herausfordernd sah er sie an.

Allegra spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. »Sie wissen überhaupt nichts von mir«, fauchte sie, schob heftig den Stuhl zurück und stürmte aus der Mensa. Tränen schossen ihr in die Augen, mühsam kämpfte sie dagegen an. Auf keinen Fall wollte sie jetzt auch noch bemitleidenswert auf die Gruppe wirken. Sie rannte die Treppe hinunter – wo waren eigentlich alle? – und hielt erst an, als sie auf dem Vorplatz vor dem Hauptgebäude stand. Sie holte tief Luft und legte den Kopf in den Nacken. Mit so viel Feindseligkeit hatte sie nicht gerechnet. Sie konnte verstehen, dass die Nerven blank lagen, aber sie selbst war doch die Erste, die die Prozesse gerne beschleunigt hätte. Auf einmal fühlte sie sich mutterseelenallein. Und sie tat das, was sie immer tat, wenn sie nicht weiterwusste: Sie rief ihre Schwester an.

Um diese Zeit war Elena normalerweise im Studio und malte. Es klingelte acht oder zehn Mal, Allegra war mittlerweile an ihrem Haus angekommen und trat durch die Eingangstür, dann hörte sie endlich die Stimme ihrer Schwester.

»Alli, Kleine, da bist du ja. Ich hätte dich nachher auch angerufen.«

»Passt es dir gerade, oder ist Quirin da?«

»Nein, den habe ich gestern in die Wüste geschickt.«

Allegra, die sich gerade auf ihr Bett fallen lassen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne, plumpste mit Verspätung aber auf ihr Kissen. »Du hast was? Ihr habt euch getrennt?«

»Was? Nein! Aber ich habe mich gestern so wegen dem Traumstab geärgert. So was ist bestimmt noch nie vorgekommen! Quirin hat den Rasen gemäht und an den zwei Bäumen im Vorgarten mit dem Rasentrimmer die Äste weggemacht, und weil er nicht aufgepasst hat, hat er mit dem Ding den Stab durchgesägt. Wie das geht, ist mir schleierhaft, es ist doch so ein Supermetall, oder nicht? Na ja, jedenfalls meinte er, wir hätten ihn wegen der Kanalarbeiten eh rausnehmen müssen und es sei doch nur Kunst. Und nicht mal besonders gute. Immerhin hat er nicht angenommen, es sei von mir.« Elena klang empört. »Er hat meine Aufregung nicht verstanden. Ich kann ihm ja nicht einmal sagen, warum ich das Ding da stehen haben will.«

»Corlaeus wollte dir deswegen jemanden vorbeischicken.«

»Ich weiß, das hat er mir gesagt. Aber natürlich habe ich jetzt Panik davor, heute Abend einzuschlafen. Oje, hoffentlich kommt der Typ bald.«

Wusste Quirin vielleicht doch ganz genau, was er da tat? Die Frage schoss Allegra völlig unvermittelt durch den Kopf. Aber sie schalt sich gleich wieder für diesen Gedanken – das war ja paranoid! –, und sie sprach ihn nicht aus. Stattdessen sagte sie: »Du kannst jederzeit hierher in die Akademie kommen, wenn du dich in München nicht mehr wohlfühlst.«

»Solange du in Avignon bist und Mama und Papa hier, möchte ich in ihrer Nähe sein. Ich mache mich auch direkt nach unserem Telefonat auf den Weg in die Klinik. Aber nun zu dir, Kleine. Was macht die Suche?«

Allegra erzählte von der Taskforce und ihrem Ausflug vorhin und berichtete dann mit stockender Stimme von dem Vorfall in der Mensa.

Elena seufzte. »Lass sie reden, Alli. Du tust, was du kannst, das weiß ich. Aber ich kann die Leute schon auch verstehen. Was Mortensen da macht, ist psychologisch ziemlich geschickt. Ihr müsst zusammenhalten und euch dagegen wehren. Erklärt den anderen, was ihr macht und warum. Je mehr ihr geheim haltet, desto einfacher hat es Mortensen, Zweifel an der Dream Intelligence zu säen.«

»Na toll.« Allegra fröstelte es plötzlich. Sie zog ihre dünne Bettdecke über sich und mummelte sich ein, das Handy ans Ohr gepresst. »Sollen wir eine Litfaßsäule aufstellen, an der wir alle Fortschritte anschlagen?«

»Das ist nicht komisch, Allegra!« Elena seufzte. »Verstehst du nicht, was hier vorgeht? Wenn ihr keine geschlossene Front bilden könnt, zusammen mit allen, die bei euch Schutz suchen, spielt ihr diesem Irren in die Hände.«

»Mhm.«

»Mach weiter, Kleine. Lass nicht locker. Ich melde mich, wenn sich bei Mama was verändert, versprochen.«

Die orangenen Vorhänge vor ihrem Fenster tauchten das Zimmer in einen warmen Schein. Zusammen mit Elenas Stimme bildete es einen Kokon, in dem sich Allegra am liebsten für immer verkrochen hätte. Plötzlich verspürte sie eine grenzenlose Sehnsucht. Danach, dass sich alles fügte. Nach ihren Eltern. Nach Elena. Nach Arthur.

Arthur.

Sie verabschiedete sich von ihrer Schwester. Dann schlug sie entschlossen die Bettdecke wieder zurück und stand auf, wechselte von Jeans-Shorts zu kurzen Sweatpants mit Tanktop und ging ins Bad. Ihre Haut hatte einen goldenen Schimmer angenommen, Florentines Creme hatte Wunder gewirkt. Ich sehe gar nicht so müde aus, dachte sie, zog das Zopfgummi aus den Haaren, bürstete sie durch, bis sie glänzten, tupfte sich ein paar Tropfen Aqua di Gio, das Elena ihr als Vorab-Geburtstagsgeschenk im Koffer versteckt hatte, auf die Handgelenke und machte sich auf den Weg in die Bibliothek, wo sie Arthur und Dr. Lamartin vermutete.

Anders als vorhin, als sie nichts außer ihrem Zorn wahrgenommen hatte, ließ sie die Stimmung im Park diesmal bewusst auf sich wirken. Die Menschen, die ihr begegneten, grüßten sie, aber sie konnte ihre Zurückhaltung und ihr Misstrauen spüren. Sie bemühte sich, jeden anzulächeln, warf einem Mädchen eine abtrünnige Frisbee zu und blieb stehen, als ein Großelternpaar sie fragend ansah.

»Du bist Allegra, nicht wahr?«, sagte die alte Frau auf Englisch. Sie trug einen breitkrempigen Strohhut und ein flatterndes langes Kleid, ihr Mann war in einen Sommeranzug gekleidet und hatte ebenfalls einen weißen Strohhut auf dem Kopf.

»Stimmt. Und wer sind Sie?«

»Felicia und Rupert Walker«, sagte der Mann.

Walker? Allegra erinnerte sich dunkel, den Namen schon mal gehört zu haben. Dann fiel es ihr ein. Gabriella war an den Abenden, an denen Arthur nicht mit ihr im gemeinsamen Bungalow sein konnte, bei den Walkers zu Gast.

»Schön, Sie kennenzulernen«, sagte sie und schüttelte beiden die Hand. »Seit wann sind Sie hier?«

»Seit zwei Wochen. Wir hoffen, dass der Spuk mit Mortensen bald vorbei ist«, erklärte Mrs Walker.

»Kennen Sie ihn?«, fragte Allegra neugierig.

Die alte Frau seufzte. »Ja. Wir haben seine Karriere damals verfolgt.«

»Eine Schande ist das. So viel verschwendetes Potenzial«, ergänzte ihr Mann.

»Sie sind Agenten?«

»Nun, wir sind nicht mehr im aktiven Dienst. Nach so vielen Jahren in der Traumzeit brauchen auch Agentenseelen eine Pause«, antwortete er und ging ein paar Schritte bis zu einer Sitzgarnitur, bestehend aus zwei Holzbänken und einem Tisch, über der die ausladenden Äste einer Linde Schatten spendeten.

Allegra setzte sich ihnen gegenüber. »Erzählen Sie mir von ihm«, bat sie.

»Er war ein äußerst fähiger Agent«, begann der Alte. Seine buschigen Brauen zogen sich über seinen Augen zusammen. »Wir haben gerne mit ihm zusammengearbeitet. Er hatte gute Ideen, und mit einigem, was er über die DI gesagt hat, hatte er recht. Wir sind ein Haufen armseliger Bürokraten geworden.«

Allegra starrte ihn verblüfft an. Was auch immer sie von dem Alten erwartet hatte, das war es nicht. »Sie … Sie finden richtig, was er vorhat?«, fragte sie.

»Die DI braucht dringend eine Erneuerung«, meinte Mr Walker gelassen. »Wir Traumagenten müssen uns entscheiden, wozu wir da sind. Es kann nicht sein, dass wir diese Fähigkeiten haben und irgendwelche uralten Regeln uns dazu zwingen, vom Spielfeldrand aus zuzuschauen, während andere das Weltgeschehen steuern.« Seine von Altersflecken übersäten Hände klammerten sich plötzlich wie ein Schraubstock um ihre Handgelenke. »Viktors Methoden sind ganz klar zu verurteilen. Aber seine Ziele sind nicht unbedingt falsch.«

Allegra hasste Mortensen, seit sie wusste, was er ihren Eltern angetan hatte. Sie hasste ihn noch mehr, seit sie ihm tatsächlich begegnet war. Und sie hasste, dass er Menschen als Puppen in seinem ganz persönlichen Spiel betrachtete. Und doch … Das, was Mr Walker da sagte, kam gefährlich nahe an das heran, was sie bis vor wenigen Wochen selbst gedacht hatte: dass es ihr zutiefst widerstrebte, Dinge geschehen zu lassen, wenn sie doch die Möglichkeit hatte, zu helfen.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, sagte sie dennoch. »Ich habe gehört, dass er Familien und Kinder bedroht. Kinder – wie Ihre Enkelinnen! Wie können Sie so jemandem recht geben?«

»Wir wollen nicht, dass Viktor die DI übernimmt«, mischte sich jetzt Mrs Walker ein. »Aber seine Rebellion kommt zur richtigen Zeit.«

Mit einem Ruck zog Allegra ihre Hände aus der Umklammerung. »Sie können sich nicht einfach das Gute herauspicken und das Schlechte ignorieren. Wenn Mortensen gewinnt, wird er die DI nach seinen Vorstellungen erneuern. Und sich von einem Mörder die Bedingungen diktieren zu lassen, das ist einfach … falsch

Das Ehepaar sah sie mit großen Augen an.

Damit stand sie auf. »Schönen Tag noch«, presste sie hervor und floh geradezu zum Hauptgebäude. Wieder ignorierte sie die Blicke, die ihr folgten. Wusste Arthur, wie die Walkers dachten? Was hatte Gabriella schon alles mitbekommen, während sie bei ihnen am Esstisch saß? Der Gedanke ließ sie schaudern.

Sie fand Arthur in einer abgelegenen Ecke der Bibliothek. Ganz hinten gab es mehrere Bereiche, jeweils durch Bücherregale abgetrennt, in denen je ein Tisch und bequeme Sessel standen. Es gab Stromanschlüsse für Computer, speziell gesichertes WLAN, zu dem nur einige wenige an der Akademie Zugang hatten, und an der Wand standen eine Kaffeemaschine und ein Wasserspender. Arthur saß quer auf einem Sessel, ließ die Beine über eine Lehne baumeln und hatte ein Tablet auf dem Schoß.

Dr. Lamartin stand hinter dem Sessel, die Arme auf die Rückenlehne gestützt, und beugte sich hinunter, sodass ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren und ihre Wange seine fast berührte. »Wir versuchen es mit dem anderen Algorithmus«, sagte sie in diesem Moment und tippte auf das Tablet.

Arthur sah hoch, als er Allegras Schritte hörte. »Hey«, sagte er nur und richtete seinen Blick wieder auf den Bildschirm.

»Kann ich mit dir reden?«

»Geht gerade leider nicht. Dr. Lamartin und ich sind an was dran.« Mit gerunzelter Stirn sah er auf das Display.

Allegra konnte einen grünen Fortschrittsbalken erkennen, der sich langsam füllte. »Es ist wichtig.«

»Arthur hat recht. Kannst du vielleicht später wiederkommen?«, fragte die Ärztin, ohne auch nur den Blick zu heben.

Keiner von beiden nahm weiter Notiz von ihr. Als wären ihre Blicke auf dem Display festgeklebt, starrten sie darauf, und jetzt legte Dr. Lamartin auch noch ihre Hand auf Arthurs Schulter. Die Geste wirkte vollkommen vertraut. Allegra schluckte. Eine heiße Welle aus Unglauben, Trotz und Zorn stieg in ihr hoch. Sie ballte die Fäuste. Was glaubte die Tussi eigentl–?

Ein schrilles Fiepen ertönte, und der Bildschirm des Tablets wurde schwarz. »Verdammt!«, fluchte Arthur und warf das Tablet reflexartig auf den Tisch, als habe er sich verbrannt. »Warst du das, Allegra?«, fuhr er sie an. »Das kann doch nicht wahr sein! Weißt du, wie viel Arbeit da drinsteckt? Können wir nicht einfach später sprechen?« Er fuhr sich mit den Händen über seine Stoppeln und sah sie entnervt an.

Allegra stand da wie erstarrt, die Hände zu Fäusten geballt. Die Welle in ihr ebbte langsam ab, doch der Zorn blieb. »Weißt du was, Arthur? Du musst mal an deinen Prioritäten arbeiten.« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um. Ihr Bedürfnis, ihre Sorgen mit ihm zu teilen, hatte sich gerade in Luft aufgelöst. Aber die Sorge um Gabriella nagte immer noch an ihr. Dann würde eben sie Arthurs Schwester suchen. In diesem Moment klingelte ihr Handy. Olive Lamartin räusperte sich vernehmlich. Ach ja, Handyverbot in der Bibliothek. Allegra verdrehte die Augen. Manchmal gingen ihr die Regeln auf die Nerven. Sie zog eine Grimasse und lief Richtung Ausgang, nahm aber noch in der Bibliothek das Gespräch an.

»Da bist du ja endlich!«, hörte sie Florentine. »Wir wollen Eis essen gehen. Und Lorenzo meint, du könntest bestimmt eine Pause vertragen. Kommst du mit?«

Eis klang gut in ihrer derzeitigen Verfassung. Jenny hatte ihr schon mehrfach von einer Eisdiele in Avignon vorgeschwärmt. »Klar! Treffen wir uns in einer Viertelstunde bei Corlaeus am Ausgang?« Sie trat hinaus in den Park und musste all ihre Willenskraft aufwenden, um nicht zu schauen, ob Arthur ihr nicht doch folgte, um sich mit ihr auszusprechen. Was mit ihm wohl los war? So kannte sie ihn gar nicht.

Egal! Sollte er doch machen, was er wollte. Sie hatte fest vor, den Rest des Tages noch zu genießen! Die Sonne schien warm auf ihre bloßen Schultern, die Wärme lockerte ihre verspannten Muskeln, und dankbar atmete sie den mittlerweile vertrauten Duft nach Thymian und Rosen ein. Die Luft war erfüllt von Geschrei und Gelächter, die übliche Fußballtruppe hatte sich auf einem Rasenstück zusammengefunden und versuchte, den Ball in ein aus zwei Bäumen und mehreren Kleidungsstücken improvisiertes Tor zu schießen. Dennoch: Wenn man die Erwachsenen betrachtete, die drum herum standen, konnte man erkennen, dass die Stimmung gedämpft war. Viele unterhielten sich in leisem Ton, die Mienen besorgt, und als sie Allegra erkannten, traf sie der eine oder andere feindselige Blick. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie das Richtige tat, und wenn sie dafür nicht von jedem Anerkennung bekam – nun, dann konnte sie damit leben.

 

Kurz darauf radelte ein Dutzend angehender Traumagenten hintereinander in die Innenstadt. Sie überquerten die Rhone und stellten die Räder an der Seite des großen Platzes unterhalb des Papstpalastes ab. Langsam wanderten sie an den Läden und Restaurants auf der Rue de la Republique vorbei. Die Luft stand heiß in den Gassen, Touristen in Flipflops, mit Rucksäcken und Wasserflaschen in der Hand, strömten durch die Stadt, man hörte Französisch, Englisch, Deutsch und auch Sprachfetzen, die Allegra nicht zuordnen konnte. Lorenzo lief neben ihr.

»Wie lief es mit Co?«, erkundigte er sich.

»Nicht gut, leider. Wir mussten abbrechen, bevor wir richtig mit der Suche anfangen konnten.«

»Sorento kommt nach, übrigens. Ich habe ihn vor der Bibliothek getroffen, er sagte, er braucht ein neues Tablet. Was ist denn mit dem los? Der hatte richtig miese Laune.«

»Pff«, machte Allegra.

Aber ihr Blick genügte offenbar. »Okay, ich frage nicht weiter«, sagte Lorenzo und war sichtlich erleichtert, als die Eisdiele in Sicht kam.

Eine schlichte Glastür mit blauem Rahmen, dahinter tauchten ballonförmige rote und weiße Lampen den Gastraum in warmes Licht. Die Eisdiele La Princière war weit über Avignon hinaus bekannt für ihre legendären Eiskreationen. Allegra wanderte an der Vitrine auf und ab und entschied sich für eine große Waffel gefüllt mit Schokoladen-, Mango- und Lavendeleis. Erst als sie wieder draußen in der Sonne stand und an ihrem Eis leckte, fiel ihr auf, dass Mango Arthurs Lieblingseis war. Nicht ihres. Sie setzten sich nebeneinander auf die breite Einfassung eines Brunnens, und einige Minuten lang herrschte Schweigen, nur unterbrochen von gelegentlichem genüsslichem Stöhnen.

»Das sollten wir öfter machen«, sagte Florentine, die ihr Eis als Erstes verputzt hatte, kritisch den leeren Becher beäugte und sichtlich mit sich haderte, ob sie einen zweiten bestellen sollte.

»Ein Leben ohne Eis ist möglich, aber sinnlos«, sagte Jean, legte den Kopf zurück und ließ den Rest von seinem Eis aus der umgedrehten Waffel in seinen Mund tropfen. »Vielleicht gönn ich mir zum Nachtisch noch ein paar Gaufres – das sind die frischen, heißen Waffeln, seht ihr? –, und mein Leben hat wieder einen Sinn.«

Allegra zog die Knie an und knabberte an ihrer Eiswaffel. Immer wieder ließ sie ihren Blick forschend über den Platz schweifen. Arthur war nirgends zu sehen. Ach, sollte er doch in der Bibliothek versauern!

»Du und Arthur, ihr seid jetzt richtig zusammen, oder? Wie ist Arthur denn so? Ich kenne ihn nur als … ja, als Nerd«, fragte Laurie, die neben ihr saß, unvermittelt.

Allegra war auf diese Frage nicht gefasst gewesen und verschluckte sich am Rest ihrer Waffel. Sie hustete ausgiebig, bevor sie sagte: »Er ist gar nicht nerdig, eigentlich. Und supernett. Nur sehen wir uns grade überhaupt nicht mehr, und er ist ständig mit der Lamartin zusammen.« Sie merkte selbst, wie grimmig ihre letzten Worte geklungen hatten.

»Was macht er denn mit der?« Laurie klang verdutzt.

»Ach, ein Auftrag von Adair«, fiel Florentine ein und sah Allegra prüfend ins Gesicht. »Habt ihr euch gestritten?«

Allegra wurde rot. »Nein. Ein bisschen.«

»Ah ja.« Mehr sagte Florentine nicht, aber ihr Blick sprach Bände.

Sie wollte das Thema nicht vertiefen, starrte nur weiter in die Richtung, aus der Arthur kommen müsste, falls er doch noch ein Eis wollte. Ihn sah sie nicht, dafür entdeckte sie eine Gestalt, die im Schatten eines Hauseingangs stand und immer wieder zu ihnen herübersah. Sie sah genauer hin und zuckte zusammen. Das Gesicht kam ihr bekannt vor: tief liegende Augen, wirres Haar, das bis zu den Schultern hing … Sie sprang vom Brunnenrand und rannte los, stoppte nach ein paar Schritten aber direkt wieder und rieb sich verwirrt die Augen. Es war niemand mehr zu sehen, der Hauseingang war leer. Sie legte die Hände auf die Oberschenkel und atmete tief durch.

»Was ist los?« Lorenzo war ihr nachgerannt.

»Keine Ahnung«, murmelte Allegra. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen.«

»Einen Geist, so wie du guckst.«

»Wenn’s ein Geist war, dann sah er aus wie Mortensen, als ich ihn das erste Mal gesehen habe, mit diesen dunklen Zotteln, die ihm ins Gesicht hingen.«

Lorenzo schaute alarmiert nach links und rechts, aber dann meinte er: »Das kann nicht sein. Wo auch immer dieser Irre ist, hier wird er sich nicht hertrauen – in das Herz der DI. Niemals.«

»Letztes Mal haben wir auch alle gedacht, Mortensen sei sicher verwahrt und obendrein noch gaga und alle in der Akademie seien vertrauenswürdig.« Laurie war plötzlich neben ihnen aufgetaucht.

Lorenzo zuckte zusammen, fasste sich jedoch rasch. »Wachsam bleiben ist in jedem Fall eine gute Idee«, sagte er nur.

Allegra spähte noch einmal in den Hauseingang. Er war eindeutig leer. War sie so übermüdet, dass sie schon Dinge sah, die gar nicht da waren? »Ich brauche noch eine Portion«, entschied sie. »Anscheinend ist der Zucker noch nicht in meinem Gehirn angekommen.«

Allegra teilte sich mit Florentine einen Teller Waffeln mit Erdbeeren und Sahne, andere bestellten sich ein weiteres Eis – der Tagessieger war Veilcheneis mit Kandiszucker, wie sie einhellig beschlossen –, und bis sie aufgegessen hatten, waren die Schatten deutlich länger geworden, aus den offenen Fenstern der Restaurantküchen klangen das Klappern von Geschirr und die Stimmen der Köche, die sich auf den Abend vorbereiteten.

Auf der Rückfahrt wehte ihnen der Wind ins Gesicht. Er schmeckte nach Brackwasser und trug einen Hauch Meersalz mit sich.

Allegra hatte den seltsamen Vorfall zwischenzeitlich verdrängt, aber jetzt ließ er ihr keine Ruhe. Niemand wusste, wo Mortensen sich derzeit aufhielt. Was hinderte ihn daran, nach Avignon zu kommen? Lorenzo mochte theoretisch recht haben, aber sie hatte Mortensen als jemanden in Erinnerung, der sich nicht an Regeln hielt. Vor allem nicht an solche, die von anderen aufgestellt worden waren. Was sollte sie jetzt tun? Sie fühlte sich vollkommen überdreht. Niemals würde sie jetzt schon schlafen können.

Als sie ihr Rad abstellte, erinnerte sie sich an die Karte für den Traumsaal-Scanner, die Adair ihnen gegeben hatte.

»Macht jemand für mich den Anker? Ich gehe noch mal los«, verkündete sie. Sie brauchte etwas zu tun.

»Ich komme mit«, sagten Lorenzo, Laurie und Florentine sofort.

Das Licht am Scanner leuchtete grün auf, als Allegra ihre Karte davorhielt. Die Tür öffnete sich, und Allegras Herz setzte aus. Eine dunkel gekleidete Person stand am Projektor, die Kapuze über den Kopf gezogen. Was nun?

»Was machen Sie hier?«, fragte Lorenzo scharf und trat in den Saal.

Wie immer glitzerte der Sternenhimmel über ihnen und tauchte alles in ein schemenhaftes Licht. Allegra bemühte sich darum, ruhig zu atmen. Niemandem war damit gedient, wenn sie jetzt auch noch die Elektronik im Traumsaal außer Gefecht setzte. Denn dass sie es gewesen war, die vorhin das Tablet zum Verstummen gebracht hatte, stand für sie außer Zweifel.

Jetzt schob die Gestalt ihre Kapuze zurück, und Allegra erkannte einen weißen Haarschopf.

»Oh … guten Abend, Madame Pinot.« So hatte sie die alte Lehrerin noch nie gesehen: Sneaker, eine Sweathose, die mit einer Kordel um ihre dünne Taille festgezurrt war, Hoodie – alles in Schwarz. Fehlt nur noch ein Gürtel mit Morgensternen und Wurfmessern, dachte sie. Ihre drei Begleiter atmeten hörbar erleichtert aus.

Madame Pinot begrüßte sie mit einem warmen Lächeln. »Alles in Ordnung?«

»Nein, nicht so richtig. Aber das ist derzeit normal, oder?«

Das Lächeln vertiefte die Fältchen um die Raubvogelaugen. »Da sagst du etwas! Lass uns daran arbeiten, dass sich das wieder ändert. Ich wollte gerade etwas in den Quadranten 105 und 106 überprüfen. Corlaeus hat mir von dem Träumer erzählt, den du zurückgelotst hast. Ihr seht so aus, als bräuchtet ihr Ablenkung, und ich wollte mir gerade ein Team zusammenstellen. Wollt ihr mitkommen?«

Die vier sahen sich an und nickten.

»Dann bist du unser Anker, Laurie. Lorenzo, Allegra, Florentine, wir gehen. Oder spricht etwas dagegen?«

Lorenzo nahm ein dunkles Bündel von einer Ablage und streckte es Allegra hin.

»Hm?«, machte diese und nahm es verdutzt entgegen.

»Ein Pulli für dich.« Er wies auf ihr Tanktop. »Das steht dir sehr gut, aber wenn du so bleibst, wirst du frieren.«

»Oh. Ja, das könnte sein. Danke.« Ein bisschen verlegen zog sie den Sweater über und war sich Lorenzos Blick auf ihrer Haut sehr bewusst, als sie die Arme über den Kopf hob.

»Braucht noch jemand einen?«

Florentine hatte ohnehin schon ein langes Shirt an, Laurie griff sich einen Sweater.

»Wir haben mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen«, verkündete Madame Pinot. Sie zählte beim Sprechen an den Fingern ab. »Wir suchen wie immer nach Träumen, die unserer Hilfe bedürfen. Allegra, halte du bitte zudem Ausschau nach Membranen, deren Rhythmus dich anspricht. Ich bin, wie Direktor Adair, davon überzeugt, dass deine Eltern Träume aufsuchen, die ihren eigenen ähneln. Je kraftloser man ist, desto schwieriger wird es, fremde Träume zu betreten.«

Allegra nickte zum Zeichen, dass sie ihren Auftrag verstanden hatte.

Madame Pinot fuhr fort: »Noch etwas: Achtet in Ebene eins darauf, was ihr sagt. Wir müssen damit rechnen, dass wir beobachtet werden.«

Sie wechselten nervöse Blicke, niemand sagte etwas.

»Bereit?« Als sie alle entschlossen nickten, betätigte Madame Pinot einen Schalter am Projektor und drehte dann eine der Sanduhren um. Langsam, als hielte ihn eine unsichtbare Kraft oben fest, begann der blaue Sand, Körnchen für Körnchen nach unten zu fallen.

Sekunden später stand Allegra auf der ersten Ebene.

»Du machst das mittlerweile sehr gut«, lobte Lorenzo, der direkt neben ihr auftauchte.

»Danke«, Allegra fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. Seit wann machte Lorenzo sie verlegen? Das konnte sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen! »Und, wohin jetzt?«, fragte sie betont forsch.

Madame Pinot materialisierte direkt vor ihnen. Ihre Aura glühte bläulich um ihren Körper. »Laurie, du kommst zurecht?«, fragte sie.

Laurie hatte den für einen Anker typisch entrückten Blick und nickte nur. Ihr langes, silbriges Haar hatte sie unter einer Bandana verborgen. Sie sieht gar nicht mehr hilflos und elfenhaft aus, dachte Allegra überrascht.

»Gut.« Madame Pinot schnippte mit den Fingern. »Diamantformation, bitte. Einer vorne, zwei folgen, einer macht den Schluss. Ich gehe vor. Wenn wir Mortensens Leuten begegnen, wisst ihr, was zu tun ist.«

Lorenzo, der links hinter ihr stand, nickte grimmig.

Allegra lief an seiner rechten Seite, Laurie und Florentine bildeten das Schlusslicht. Und erneut tauchten sie ein in die Nebelwelt.

Je öfter sie hier war, desto mehr Details nahm Allegra wahr. Hatte sie am Anfang nur leuchtende Kugeln im Nebel gesehen, erkannte sie jetzt immer deutlicher, dass auch der Nebel nicht immer gleich aussah, sondern sich immer wieder zu verschiedenen Formen verdichtete. Das waren alles Traumfetzen, sozusagen Reste geträumter Träume, hatte sie gelesen. Vor sich machte sie eine Hand mit langen, knochigen Fingern aus, weiter rechts, zwischen zwei Träumen, sah sie eine riesige Spinne mit großen Greifern schweben.

Bäh! Allegra presste die Lippen zusammen und atmete durch die Nase. Nicht auszudenken, wenn man solche Traumfetzen versehentlich verschluckte. Auch wenn das hier alles Energie und im traditionellen Sinne nicht echt war – auf eine solche Erfahrung wollte sie gerne verzichten.

Diesmal begegneten sie keiner verirrten Seele, alle Träume, die sie kontrollierten, machten einen stabilen Eindruck. Gleichzeitig auf den Takt zu achten, war ganz schön schwer, stellte Allegra fest. Sie wanderten durch die endlosen Reihen der Träume, Blase an Blase an Blase. Wer träumte die gerade? In Frankreich war es erst Abend, waren das also die Träume, die gerade in Asien, in Australien geträumt wurden, wo bereits die Nacht hereingebrochen war? Oder wurden sie vielleicht von all den kleinen Kindern geträumt, die gerade irgendwo Mittagsschlaf machten? Das Pochen hinter ihrer Stirn nahm wieder zu, doch sie ignorierte es. Mama, Papa, wo seid ihr?, rief sie lautlos. Ich brauche ein Zeichen, bitte! Irgendwas.

Doch die Träume blieben stumm.

Dafür tauchten wie von Zauberhand direkt vor ihnen vier Männer auf. Allegra war nicht wirklich überrascht, den großen Mann mit den eisgrauen Haaren wiederzusehen. Madame Pinot hob ruckartig den Arm, die Faust geballt, bedeutete damit ihrem Team, anzuhalten und die Formation nicht zu verlassen.

Der Eisgraue richtete seinen Blick auf Allegra und ignorierte die alte Lehrerin einfach. »Du hast heute Morgen dem Träumer geholfen«, sagte er, und Allegra zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie beobachtet worden war. »Gute Arbeit. Stell dir vor, du könntest so etwas noch viel öfter tun. Helfen, wo Hilfe benötigt wird. Dinge verändern, etwas bewirken

»Nein«, gab Allegra zurück. »Wie oft muss ich es noch sagen? Nein!«, wiederholte sie lauter.

»Schade«, sagte er, und es klang, als meinte er es ernst. »Nun, dann wollen wir unserer Bitte diesmal etwas mehr Nachdruck verleihen.« Ohne Vorwarnung griffen er und seine drei Kompagnons an.

Allegra fühlte, wie das Adrenalin durch ihre Glieder schoss. Instinktiv riss sie die Arme hoch und wehrte einen Tritt, der sonst ihr Kinn getroffen hätte, erfolgreich ab. »Ha!«, schrie sie und wirbelte herum, trat ihrerseits zu, doch ihr Gegner wich schneller zurück als gedacht, und ihr Fuß traf nur auf losen Stoff. Während sie Schläge und Tritte parierte, schoss ihr immer wieder der gleiche Gedanke durch den Kopf. Was sollte das? Was hatte Mortensen davon, sie und ihre Teamgefährten in der Traumzeit bewusstlos zu schlagen? Wollte er ihre Seelen gefangen nehmen? Dachte er, er könne Allegra so auf seine Seite ziehen?

Ihr Gegner setzte zu einem weiteren Tritt an. Keuchend schlug sie mit überkreuzten Handgelenken und geballten Fäusten auf sein Knie, registrierte befriedigt ein Knacken und sah, wie der Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht zwei Schritte zurückwankte. »Achtung!«, rief Lorenzo hinter ihr, und sie drehte sich um, die Hände erhoben, und sah, dass Lorenzo einen Tritt abwehrte, der für sie gedacht gewesen war. Jetzt kämpften sie Rücken an Rücken, das Tempo nahm zu. Allegras und Lorenzos Gedanken waren vollkommen im Einklang, sie ahnten die Bewegungen des anderen und schafften es so, ihren Gegner in Schach zu halten.

Als Lorenzo ihn mit einem gezielten Kinnhaken zu Boden schickte, sah sie sich nach den anderen um. Madame Pinot wirbelte wie ein kleiner Derwisch durch den Nebel. Sie und Florentine, die sich ebenfalls gegenseitig den Rücken freihielten, pflegten eine ebenso grazile wie ungewöhnliche Technik. Mit tänzelnden Schritten, die wie eine sorgsam einstudierte Choreografie wirkten, wichen sie ihren Gegnern immer wieder aus und trafen doch beide zielsicher Schultern, Kinn oder Ellbogen der Angreifer. So bildeten sie für Laurie, die ja die Sanduhr im Auge behalten musste, eine Schutzzone.

Allegra kam es vor wie eine Ewigkeit, doch in Wahrheit konnten es wohl nur wenige Minuten gewesen sein, bis sich herausstellte, dass diesmal keiner gewinnen würde. Keuchend standen sie sich gegenüber. Was auch immer die Männer vorgehabt hatten – es funktionierte nicht, ihre Abwehr war zu stark. Allegra jubelte innerlich.

Doch dann ging Madame Pinot in die Knie, nahm Maß und schoss mit einer Drehung auf einen der Männer zu, hinterließ für einen Moment eine Lücke in ihrer Abwehr. Lorenzo schrie eine Warnung, aber es war schon zu spät.

Der Eisgraue wich aus, glitt blitzschnell an ihr vorbei, griff im Lauf nach Lauries Kopf und verdrehte ihn mit einer abrupten Bewegung. Es knackte hörbar, Laurie sank lautlos zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Madame Pinots Tritt ging ins Leere.

»Laurie!«, schrien Allegra und Florentine gleichzeitig.

Der Eisgraue bückte sich in einer fließenden Bewegung, warf Laurie, deren Glieder wie die einer Stoffpuppe herabbaumelten, auf seine Schulter und bellte einen Befehl. Die Männer verschwanden, gemeinsam mit Laurie, zurück blieb nur blaues Leuchten, das im Nebel innerhalb von Sekunden verblasste.

Allegra fiel auf die Knie. Sie hörte einen Schrei wie von einem verwundeten Tier und verstand erst, als Madame Pinot sie an der Schulter rüttelte, dass sie selbst es war, die diesen Ton hervorbrachte.

»Sofort zurück«, befahl die alte Dame und gab ihr einen Stoß. »Schnell, schnell!«

Allegra schnellte mit einem Ruck wieder in ihren Körper, schlug die Augen auf und sprang im selben Moment hoch. Laurie! Oh Gott, was war mit ihr?

Die anderen kamen im nächsten Moment zurück, Lorenzo tastete sich mit der einen Hand den Arm ab. Er hatte ihr einmal erzählt, dass er sich als Kind den Ellbogen gebrochen hatte und seitdem den Arm nicht mehr ganz durchstrecken konnte. Fürchtete er, sich wieder etwas gebrochen zu haben?

»Seid ihr unverletzt?«, fragte Madame Pinot krächzend.

»Ja. Was ist mit Laurie?« Lorenzo hielt seinen Arm quer vor sich und dehnte vorsichtig.

Madame Pinot stand schon neben Laurie. Sie hielt zwei Finger an ihre Halsschlagader und schüttelte dann den Kopf. »Kein Puls.« Sie warf Florentine, die mit schreckgeweiteten Augen von ihrer Liege glitt, ein Handy zu. »Tippe 322. Damit lösen wir einen internen Notruf aus.«

Florentine gehorchte. »Seit wann gibt es denn so was?«, fragte sie.

»Seit Mortensen wieder auf freiem Fuß ist«, murmelte Madame Pinot grimmig. Sie drückte mit übereinandergelegten Händen rhythmisch auf Lauries Brustkorb, als könne sie so die Seele dazu bringen, in den Körper zurückzukehren.

Niemand sagte mehr etwas, alle starrten stumm auf die leblose Laurie. Das muss ein schlechter Traum sein, flehte Allegra innerlich. Einfach nur ein Traum. Kaum eine Minute später stürmten Madame Berger und Dr. Lamartin, gefolgt von zwei Männern mit Sanitäterjacken, in den Traumsaal.

»Tod in der Traumzeit«, erklärte Madame Pinot hastig, und die beiden Frauen nickten. Sie gaben knappe Anweisungen, Laurie wurde auf eine Liege geschnallt und ohne ein Wort davongetragen.

»Warten Sie!«, rief Allegra, lief hinterher und hielt Madame Berger am Arm fest. »Ist sie … ist sie …?« Wenn ein normaler Träumer in seinem Traum starb, wachte er in der Regel auf, als würde die gestörte Seele eilends zurück in ihr Zuhause schnellen. Agenten, die man in der Traumzeit umbrachte und deren Seele man nicht zurückkommen ließ, waren verloren, das wusste sie.

Madame Berger drehte sich kurz um, Tränen in den Augen. »Rechnet mit dem Schlimmsten.« Hinter ihr schloss sich die Tür, und im Traumsaal hörte man nichts mehr außer dem leisen Surren des Projektors.

»Das ist meine Schuld«, flüsterte Allegra bitter. »Die kommen immer, wenn ich dabei bin. Oh Gott, Laurie …« Ihre Stimme erstickte.

»Sie beobachten dich«, stellte Madame Pinot fest, sie war leichenblass und sichtlich erschüttert. »Du hast gehört, was ihr Anführer gesagt hat: Mortensen will dich haben. Und mit Laurie hat er den Druck auf dich – und uns – massiv erhöht.«

»Ich will aber nicht, dass jemand wegen mir stirbt! Wie kann er es wagen? Was hat Laurie denn damit zu tun? Er hat doch schon ihre Schwester!«

»Niemand macht dir einen Vorwurf!« Lorenzo legte ihr die Hand auf den Arm. »Lass dir das nur nicht einreden! Und Adair hat ja gesagt, dass du nicht zu Hause sitzen und warten kannst, bis alles vorbei ist.«

Allegra nickte zögernd und rieb ihre Hände aneinander. Ihr war eiskalt, und sie war im Nachhinein doppelt froh über den Hoodie, den Lorenzo ihr gegeben hatte.

»Behalte ihn«, winkte er ab, als sie Anstalten machte, ihm das Kleidungsstück wieder zurückzugeben. »Die liegen hier drüben im Regal.«

»Ruht euch aus«, schlug Madame Pinot vor, die sich jetzt erst langsam aus ihrer knienden Position hochstemmte.

»Geht es Ihnen gut, Madame? Kann ich helfen?«

»Nein, danke, Allegra.« Madame Pinot stöhnte leise auf, als sie die ersten Schritte machte. »Ich stelle nur immer wieder fest, dass ich körperlich nicht mehr so fit bin, wie meine Seele es mir manchmal vorgaukelt.«

»Ich habe Sie noch nie so kämpfen sehen«, sagte Allegra beeindruckt.

»Nun, normalerweise muss ich das ja auch nicht. Aber die Reflexe sind immer noch da.« Sie legte sich ein dunkelblaues, großes Tuch um die schmalen Schultern und sah alle mit einem traurigen Lächeln in den Augen an. »Du musst damit rechnen, dass es noch weitere Opfer geben wird. Agenten leben gefährlich, das war schon immer so. Aber es ist so, wie Lorenzo gesagt hat: Es ist nicht deine Schuld. Betet für Lauries Seele. Ich gehe zu Adair.« Im Hinausgehen hörte Allegra sie murmeln: »Ich frage mich, wo Viktor die nötigen Sanduhren herhat. Er schickt so viele Teams in die Traumzeit, wie macht er das?« Dann verklang ihr Murmeln.

Allegra und Flo ließen sich nebeneinander auf das Sofa in ihrem kleinen Wohnzimmer fallen. Instinktiv hielten sie sich an den Händen fest, die Nähe der anderen war tröstlich. Unter ihren Sommersprossen war Florentine bleich wie schon lange nicht mehr. Allegras Magen war ein einziger Knoten, der ihr das Atmen schwer machte und immer wieder Kälteschauer durch ihren Körper schickte. Wenn das der Preis war, den sie zahlen mussten, um Mortensen zu besiegen, dann war er verdammt hoch. Zu hoch?