Erstes Kapitel

Einige Monate früher

Gestern Nachmittag beim Einparken in der Nähe des Krankenhauses fiel es mir ins Auge, ein Graffito in roter Farbe an einer Fabrikmauer, auf der schon zig andere waren. Es zeigte das Gesicht eines Jugendlichen, und darunter stand: »Gerechtigkeit für Saïd.«

Das kam mir komisch vor, klar. Schließlich kannte ich dieses Graffito gut. Als ich klein war, prangte es an sämtlichen Mauern meines Viertels, aber mit der Zeit waren die Umrisse verblasst, und die Erinnerungen auch.

Am nächsten Morgen war die Wand weiß überstrichen. Die anderen Graffiti waren unwichtig, aber dieses hier durfte nicht wieder auftauchen, das konnte man nicht zulassen.

Fast hätte ich Zé darauf angesprochen, als wir daran vorbeigingen. Ich fing seinen finsteren Blick auf. Da schwieg ich lieber.

Wir waren auf dem Weg zu Gabrielle, nichts anderes zählte für ihn, schon gar nicht das Gesicht eines Jungen, der seit fünfzehn Jahren tot war.

Ein Krankenhausbett.

Gabrielles Gesicht ist blass, in ihrer Armbeuge steckt eine Nadel, ihre Handgelenke sind bandagiert. Sie atmet langsam und tief. Die Fensterläden sind halb geschlossen, ein düsterer Mittwoch im Oktober. Draußen ist es kalt. Das Krankenhaus ist gut geheizt.

Sie hat die Augen weit geöffnet, starrt seit Tagen an die Decke.

Zé sitzt am Bettende, hat ein Buch in der Hand, die Méditations poétiques von Lamartine. Sie sagen beide nichts. Sie sehen sich nicht an. Ihre Gesichter sind ausdruckslos, eine einzige große Leere. Daher auch die Bandagen, die Infusion und das Krankenhaus.

Eine Krankenschwester betritt das Zimmer, um die vierzig, Falten um die Augen, eine kleine Narbe am Hals. Sie beachtet Zé nicht weiter, sie ist es schon gewohnt, dass er hier über ein Buch gebeugt sitzt. Sie geht direkt auf das Bett zu, begrüßt Gabrielle mit einem »Hallo«, das etwas schroff klingt. Sie ist müde. Das merkt man. Weder der Mann noch die Frau sehen sie an. Sie entfernt die Nadel, hat eine sterile Kompresse in der Hand, die drückt sie auf die winzige Einstichstelle in der Armbeuge, befestigt sie mit einem Heftpflaster. Sie schickt sich an, das Zimmer zu verlassen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Sie macht ihre Arbeit nicht schlecht, das nicht. Das tiefe Schweigen, das im Raum herrscht, ist nun mal ansteckend.

Aber in dem Moment sieht sie mich und zuckt zusammen.

»Was ist …«

Diese Worte reißen Zé aus seiner Lektüre heraus. Er wendet sich zu ihr um, dann zu mir, als hätte er vergessen, dass ich da bin.

»Was ist das für ein Kind?«

»Unwichtig«, antwortet er (vielen Dank auch). »Das ist nur mein Mündel.«

»Ihr Mündel?«

Sie blickt von einem zum anderen und fragt sich, wie wir altersmäßig zusammenpassen.

»Auf dieser Station sind Kinder unter fünfzehn Jahren nicht zugelassen, Monsieur.«

»Okay, bezahlen Sie mir einen Babysitter? Ich kann mir das nämlich nicht leisten. Seien Sie so nett und lassen uns in Ruhe. Das ist hier eine rein familiäre Angelegenheit.«

Sie mustert ihn. Ich sehe, wie sie wütend wird. Im Laufe der Jahre haben sich viele solcher Momente der Wut angehäuft, Jahre, in denen sie immer darum bemüht war, ihrem Berufsethos und ihrem Bestreben nach Menschlichkeit treu zu bleiben, trotz ihrer Verbitterung und ihrer schwierigen Arbeitsbedingungen. Jede neue Demütigung ruft ihr vermutlich all die anderen Demütigungen in Erinnerung. Zé hat sich bereits wieder abgewandt und ist erneut in die Lektüre der Méditations vertieft. Zé kann ein richtiges Arschloch sein, wenn er will. Er liest noch nicht mal. Lamartine kennt er auswendig.

Die Krankenschwester lässt die Schultern sinken. Sie rastet an einem anderen Tag aus. Das wird nicht mehr lange dauern, denke ich. Vielleicht beleidigt sie dann einfach nur einen Patienten. Oder sie erhöht die tägliche Kalisalz-Dosis, die sie einem anderen Patienten injiziert. Schon ein paar Gramm mehr können tödlich sein, und anschließend kann man es als bloßen Dosierfehler hinstellen. Oder sie kommt eines Morgens mit einer Pumpgun ins Krankenhaus. Zé sagt, ich hätte zu viel Fantasie.

»Sie können ruhig etwas freundlicher sein, Monsieur. Ich verstehe, dass Sie nervös sind, aber das müssen Sie nicht am Personal auslassen.«

Sie verlässt den Raum, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie hätte sowieso keine bekommen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob Zé sie überhaupt gehört hat. Und wenn doch, ist es ihm scheißegal. Es ist ihm so ungefähr alles scheißegal, außer ein paar Dichtern, aber nur ganz bestimmten. Und natürlich Gabrielle.

Ihre Handgelenke sind verbunden. Man kann die mit Betadine getränkten Stiche nicht sehen, und auch nicht, wie groß die Wunden waren, bevor sie sie zusammengenäht haben. Das Krankenhaus ist sauber, hygienisch. Die Verbände auch. Nicht so wie die Rückbank vom Auto, auf der Zé und ich sie gefunden haben, mit leerem Blick, wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen hat.

Sie starrt an die Decke. Das tut sie schon die ganze Zeit, seit wir da sind.

Ich beobachte sie beide, sie beachten mich nicht, dann wende ich mich wieder meinem Englischbuch zu. Das Pflegepersonal läuft hin und her, ist immerzu am Laufen. Auch die Patienten laufen hin und her, aber sie haben es weniger eilig. Sie treten vor die Tür, um frische Luft zu schnappen, oder stellen sich vor die Kaffeemaschine. Es ist wie eine Fabrik mit ihren Arbeitern, ihren Maschinen, ihren Vorarbeitern, ihren eigenen Gesetzen.

Gabrielle ist seit einer Woche hier. Ihre Genesung schreitet nur langsam voran. Zé sagt, sie ruhe sich aus.

Die Stille in ihrem Zimmer wird von Tag zu Tag größer.

Zé hat mich auf dem Pausenhof abgeholt. Meine Klassenkameraden sind zur Seite gewichen, als diese große, in sich zusammengesunkene, seltsame Gestalt im übergroßen Regenmantel auftauchte – er sah echt aus wie ein Pädophiler – und die Lehrer stellten sich ihm in den Weg, aber ich sagte: »Das ist mein Vormund.« Keiner wollte mir glauben. Er hatte damit gerechnet und zog das Papier des Familiengerichts hervor, als handele es sich um ein Gottesurteil.

Er sagte:

»Ich brauche dich, du musst bei ihr Wache halten.«

Und ich verstand:

»Ich brauche dich, du musst bei mir Wache halten.«

Das bedeutet, ich gehe seit zwei Tagen nicht zur Schule. Nicht, dass ich da groß etwas versäume …

Am Abend nach dem Einsammeln der Tabletts fordert die Schwesternhelferin Zé auf, das Krankenzimmer zu verlassen. Er sperrt sich der Form halber noch etwas, aber das ist ein bloßes Ablenkungsmanöver. Als es klopft, schlüpfe ich schnell unters Bett. Die Schritte der Schwesternhelferin entfernen sich und ich bleibe allein mit Gabrielle zurück. Das ist besser, als allein mit Zé.

Ich strecke mich unter dem Bett aus. Ich bin müde. Ich soll eigentlich nicht einschlafen, aber das ist vielleicht ein bisschen viel verlangt. Ich bin doch nur ein Kind und brauche Schlaf, und außerdem geht mich das alles nichts an.

Ich falle in einen Halbschlaf trotz des Personals, das auf dem Gang zu laut redet. Gabrielles Stimme löst mich aus meiner Erstarrung.

»Mattia?«

Mattia, das bin ich. Nicht Matt. Auch nicht für enge Freunde, für niemanden.

»Pst!«, sage ich. »Ich darf eigentlich nicht hier sein.«

Sie lacht kurz auf.

»Hat Zé dir gesagt, du sollst dich hier verstecken?«

»Zé ist ein Arschloch.«

»Kommt ganz drauf an.«

Ich schiebe mich auf den Ellbogen aus meinem Versteck heraus. Gabrielle hat sich in ihrem Bett umgedreht. Jetzt starrt sie an die Wand. Ich vermute, sie kann die Decke nicht mehr sehen. Ihre zu Zöpfen geflochtenen Haare liegen neben ihr auf dem Kissen. Sie verdecken zum Teil ihre glänzenden Augen. Ich weiß nicht, ob sie wegen des Fiebers so funkeln oder weil sie Tränen in den Augen hat oder ob es am Mondlicht liegt.

Die Stille, die sich jetzt deplatziert fühlt, zieht sich ins Badezimmer zurück. Ich spüre förmlich, wie sie sich da verkriecht, bereit, beim ersten Anzeichen von Schwäche hervorzuspringen, wie ein Tier, das seiner Beute nachstellt. Ich richte mich auf. Ich suche ihren Blick, aber finde nur einen Halbschatten, der sich hinterlistigerweise in ihre Pupillen schleicht, sodass ich ihr nicht richtig in die Augen sehen kann.

Sie lächelt ins Leere hinein. Schon wagt die Stille einen Schritt aus ihrem Versteck heraus. Ich versuche, sie zu verscheuchen (ein kläglicher Versuch).

»Alles okay?«

»Na klar.«

Die Stille springt hervor und erdrückt uns mit ihrer ganzen, ungeahnten Wucht. Meine Schultern geben unter ihrem Gewicht nach. Ich schiebe mich wieder unters Bett, aber kann erst im Morgengrauen einschlafen.

Ich denke an Saïd. Er ist gestorben, bevor ich auf die Welt kam. Ich frage mich, wer sich noch die Mühe macht, Gerechtigkeit einzufordern, nachdem die Justiz ihr Urteil bereits vor langer Zeit gefällt hat.

Aber ich höre Gabrielle leise atmen und versuche, mich auf den Augenblick zu konzentrieren.

Am nächsten Morgen mache ich es so, wie Zé es mir gesagt hat, ich verlasse das Zimmer erst beim Schichtwechsel. Das Team wird in dieser Zeit nur ungern gestört. Die Tür zum Besprechungsraum ist geschlossen und ich bin so klein, dass man mich durch die Scheibe nicht sehen kann. Ich kann in aller Seelenruhe über den Flur laufen. Zwar begegne ich einigen Patienten, die mir neugierige Blicke zuwerfen und überrascht sind, in der Psychiatrie auf ein unbegleitetes Kind zu stoßen, aber die Leute sind zu sehr mit ihren eigenen Leiden beschäftigt, als dass sie in der Stimmung wären, sich weitere Fragen zu stellen. Es gibt keinen besseren Ort als ein Krankenhaus, um unbemerkt zu bleiben.

Ich hole mir am Automaten eine heiße Schokolade und gehe in die Cafeteria, dort warte ich auf Zé. Wenn die Krankenschwestern Schichtwechsel haben, kommt er von der Arbeit. Er ist Nachtwächter in einem großen Supermarkt. Er sagt, die Arbeit sei stinklangweilig, aber nun einmal nötig. Er erscheint um Punkt sieben Uhr dreißig. Seine Augen wandern suchend durch den Raum, streifen mich nur flüchtig. Er setzt sich mir gegenüber.

»Wie geht es ihr?«

Er hat eine Thermoskanne Kaffee dabei und bietet mir, ohne nachzudenken, etwas davon an. Ich schüttele den Kopf.

»Ich weiß es nicht. Sie hat kaum mit mir gesprochen.«

»Was hat sie gesagt?«

»Ich habe Hunger.«

Der Geizkragen hat mir nur Geld für ein Getränk gegeben. Manchmal vergisst er, dass ich auch etwas essen muss. Er kauft mir zwei Croissants und eine Rosinenschnecke. Ungewohnt großzügig für ihn. Vermutlich ist ihm bewusst, dass ich wegen ihm eine ziemlich üble Nacht verbracht habe.

»Was hat sie denn nun gesagt?«, wiederholt er, nachdem ich aufgegessen habe.

»Nichts. Sie wollte nur wissen, ob du gesagt hast, ich solle mich hier verstecken. Daraufhin habe ich gesagt, du seist ein Arschloch. Da hat sie gesagt, ›kommt drauf an‹.«

Er lächelt. Man könnte meinen, das ist das schönste Kompliment, das er je bekommen hat. Er klopft meinen Jackenkragen ab, der voller Croissant-Krümel ist. Ich habe sie extra dagelassen, um zu prüfen, ob ihm das auffällt. Seitdem ich ihm nützlich sein kann, ist sein Interesse an mir deutlich gestiegen. Gabrielle müsste sich öfter mal das Leben nehmen.

»Ich gehe zu ihr«, sagt er. »Willst du zurück in die Schule?«

»Ach …«

Ich möchte zurück in die Wohnung, aber er bietet mir nicht an, mich hinzubringen. Er braucht meine Anwesenheit noch, um die Stille zu übertünchen. Das nervt mich. Ich sage nichts und folge ihm in den dritten Stock. Da liegt sie, ihre Haut ist durchscheinend, sie schläft. Sie ist kaum von der Bettwäsche zu unterscheiden, nur dass die eine kleine braune Borte hat. Zé betrachtet sie mit diesem zärtlichen Blick, mit dem er mich nie ansieht.

Ich wende mich ab, schlucke meine Bitterkeit herunter.

Ich schlage mein Englischbuch auf, das hellt meine Stimmung auch nicht gerade auf. Und Zé kann sich noch so sehr in seinen Lamartine vertiefen, er kann trotzdem nicht eine Minute vergessen, dass die einzige Person auf dieser Welt, die er liebt, sich letzte Woche die Pulsadern aufgeschnitten hat. Er hat abgenommen. Er isst nichts mehr, seit sie weg ist. Liebe gehört verboten.

Und Schule auch.

Nach einer Woche fasst Zé sich auf einmal wieder und besinnt sich auf seine Rolle als gesetzlich bestellter Vormund. Ebenso plötzlich, wie er mich von der Schule genommen hat, verdonnert er mich dazu, wieder zur Schule zu gehen. Ich sitze auf dem Beifahrersitz, im Spiegel sehe ich die Rückbank. Ich muss daran denken, wie sie aussah, als sie voller Blut war. Ich war die halbe Nacht damit beschäftigt, sie sauberzumachen. Zé stand unter Schock, er starrte die ganze Zeit nur auf die gegenüberliegende Mauer, so wie Gabrielle im Krankenhaus an die Wand. Ihr Selbstmordversuch hat keine Spuren hinterlassen. Zumindest nicht im Auto.

Auf dem Weg zur Schule schweigen wir. Ich habe keine Lust, da wieder hinzugehen.

»Ich will da nicht hin.«

Ich berühre Zé an der Schulter.

»Ich will da nicht hin!«

»Nun spiel nicht das kleine Kind.«

»Bestimmt fragen mich alle, warum ich geschwänzt habe.«

»Denk dir was aus.«

»Die Wahrheit darf ich nicht sagen?«

»Wenn du möchtest, aber dann denken deine Schulkameraden noch, dass du Unglück bringst.«

Wieder Stille. Diese Stille ist ein echtes Ungetüm, hat einen Pferdefuß, keine Zunge, keine Zähne, keinen Rachen, aber einen Mund und damit lacht sie uns aus.

Zé wird jetzt erst klar, was er da gerade gesagt hat. Mir auch.

»Hurensohn«, murmele ich.

Er parkt vor der Schule. Seine Finger, zwischen denen eine Zigarette steckt, zittern.

»Tut mir leid, du kannst heute bei mir bleiben, wenn du möch…«

»Ich gehe lieber zur Schule«, sage ich und schlage die Autotür zu.

Und er weiß, wie sehr ich die Schule hasse.

Alle Schüler sind in die Lehrerin verliebt, außer mir. Sie finden sie schön. Sie ist achtundzwanzig, trägt eine Menge brasilianischer Armreifen (und keine Verbände) an den Armen, hat kurze Haare und Sommersprossen und heißt Madame Sivrieux. Zu Beginn des Schuljahres mochte sie mich gern. Sie nannte mich ihr »kleines Wunderkind«. Nicht weil ich gute Noten hatte, sondern weil ich nie etwas sagte, woraus sie seltsamerweise schloss, dass ich ihrem Unterricht lauschte, und weil ich eine schnelle Auffassungsgabe habe und den anderen wenn nötig auf die Sprünge half. Ich wollte einfach nur, dass sie mich sympathisch findet und in Ruhe lässt.

Dann kamen die ersten Klassenarbeiten. Madame Sivrieux wurde klar, dass ich doch nicht das kleine Genie war, für das sie mich gehalten hatte. Da verlor sie schnell das Interesse an mir und wandte sich den echten Intelligenten zu, den Fleißigen. Umso besser. Es gefiel mir eh nicht, als Primus zu gelten. Ich hatte meinen Platz traditionell immer am Fenster.

Wir gehen in Zweierreihen auf den überdachten Pausenhof. Es regnet. Da merke ich, dass ich meine Schultasche vergessen habe, im selben Moment fällt es den anderen auch auf. Sie zeigen mit dem Finger auf mich. Madame Sivrieux kommt auf mich zu, sie wirkt eher beunruhigt als streng.

»Wo warst du denn, Mattia? Du hast eine ganze Woche unentschuldigt gefehlt, wir haben uns Sorgen gemacht.«

Das war ja klar, dass er vergessen hat, mich abzumelden. Konnte ich es ihm verübeln? Ich zucke mit den Schultern, gebe mich zerknirscht.

»Ich war im Krankenhaus.«

»Warst du krank?«

»Ich nicht, die Freundin meines Vormunds.«

Ich kann ihrem Blick entnehmen, dass eine so entfernte Verwandtschaft kein so langes Fernbleiben rechtfertigt. Okay. Ich hätte gerne darauf verzichtet, aber da sie es nun einmal nicht anders wollte:

»Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Mein Vormund brauchte mich.«

Ihr Lächeln gefriert. Ich ordne mich schnell wieder in die Reihe ein, ohne ihre Reaktion abzuwarten. Soll Zé doch zusehen, wie er das erklärt. Es ist schließlich nicht meine Schuld, wenn ich lauter Sozialfälle zu Hause habe.

Sechzehn Uhr dreißig. Zé soll mich eigentlich abholen, aber er kommt nie ganz pünktlich. Ich bin nicht sauer, ausnahmsweise hat er eine gute Entschuldigung. Vermutlich hat er den ganzen Tag an Gabrielles Bett gesessen und sie haben sich angeschwiegen.

Ich stelle mich an die Ecke und sehe mir die Matheaufgaben an, damit ich abends Zeit für meine Zeichentrickfilme habe. Wegen dieser Krankenhaussache habe ich eine Woche lang nicht ferngesehen.

Und da sehe ich sie auf einmal.

Zwei Männer, der eine um die vierzig, der andere etwas älter. Sie tragen Turnschuhe mit ordentlich gebundenen Schnürsenkeln, der eine hat einen Wildlederblouson an, der andere eine khakifarbene Jacke, sie stehen unter dem Vordach der Post, auf der anderen Straßenseite.

Sie reden miteinander und werfen mir verstohlene Blicke zu.

Ich habe keine Angst. Pädophile treten selten als Paar auf, und Kidnapper haben es nur auf Kinder reicher Eltern abgesehen (und auf Kinder, deren Abwesenheit auch bemerkt wird, davon kann man bei mir nicht unbedingt ausgehen, denn Zé hat offenbar vergessen, dass ich überhaupt existiere, dieser Bastard!).

Ich langweile mich, bald beginnt meine Lieblingsserie. Ich schaue auf die Uhr und bin kurz davor, zu Fuß nach Hause zu gehen. Da beschließt der Typ im Wildlederblouson, die Straße zu überqueren. Er kommt lächelnd auf mich zu.

»Hallo«, sagt er.

»Hallo.«

»Heißt du Mattia Lorozzi?«

»Warum?«

Er lächelt ohne erkennbaren Grund und streckt mir seine Hand entgegen, die ich nicht ergreife, da lässt er sie wieder in der Tasche verschwinden. Sein Lächeln behält er jedoch bei.

»Ich bin ein Freund von Zé. Du lebst doch bei ihm, oder?«

Ich antworte nicht.

»Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen, ich würde den Kontakt gerne erneuern. Ich hatte gehofft, er holt dich von der Schule ab. Ich wollte ihn überraschen.«

»Woher wissen Sie, dass er mein Vormund ist?«

»Ich habe die Geschichte verfolgt …«

Der andere Typ tut so, als würde er interessiert den Verkehr beobachten, dabei mustert er uns mehr oder weniger unverhohlen.

Ich glaube, das ist eine Lüge. Es passt nicht zu Zé, Freunde zu haben.

»Und der Typ dahinten ist Ihr Bodyguard?«

Sein Lächeln erstirbt. Ist mir auch lieber so. Er beugt sich zu mir herunter, ich blicke misstrauisch zu ihm hoch.

»Ganz schön forsch für einen Sechsjährigen.«

»Ich bin elf.«

»Ich möchte nur mit einem alten Freund in Kontakt treten. Warum bist du so misstrauisch? Hat man dir verboten, mit Fremden zu reden?«

»Genau so ist es«, sage ich und gehe los.

Aber er holt mich ein und läuft neben mir her.

»Weißt du denn auch, dass dein Vormund ein Mörder ist?«

Ich bleibe stehen. Er auch. Ich lächele. Er nicht. Sein Kumpel ist uns nicht gefolgt. Er steht immer noch vor der Post, die Hände in den Taschen, und blickt in eine andere Richtung, als hätte er mittlerweile kapiert, wie misstrauisch ich bin.

»Ja«, antworte ich.

»Mit so einem lebst du zusammen, aber hast Angst vor den Leuten auf der Straße?«

»Ich habe keine Angst, Sie gehen mir einfach nur auf die Nerven, das ist alles.«

Ich mache kehrt und gehe in Richtung Krankenhaus. Dieses Mal versucht er nicht, mich einzuholen. Ich sehe sein Spiegelbild im Schaufenster eines Ladens. Er rührt sich nicht von der Stelle, steht mitten auf der Straße und blickt mir nach, wie ich mich mit finsterer Miene entferne. Er dreht sich erst um, als ich aus seinem Gesichtsfeld verschwunden bin.

Kurzum: entweder ein Bulle oder ein Gangster.

Zé ist nicht im Krankenhaus. Eine Krankenschwester sagt mir, er sei gerade gegangen. Dann ist ihm wohl endlich wieder eingefallen, dass es mich auch noch gibt. Er hat kein Handy, also warte ich brav in einer Ecke am Fenster. Gabrielle reagiert nicht auf meine Versuche, ein Gespräch anzufangen. Zé lässt auf sich warten, gegen achtzehn Uhr kommt er ins Zimmer gefegt. Man sieht ihm an, wie erleichtert er ist, mich zu sehen.

»Bist du alleine gegangen?«

»Was blieb mir anderes übrig, du kamst ja nicht.«

»Ich komme immer zu spät.«

»So ein paar Typen suchen dich.«

Ich weiß nicht, ob ich vor Gabrielle darüber reden soll, aber schließlich bin ich das Kind, nicht sie. Und nur weil sie sich weigert zu sprechen, heißt das ja nicht, dass wir sie aus unserer Unterhaltung ausschließen müssen.

»Wer denn?«, fragt er ziemlich ruhig, während er seine Jacke auszieht.

»Bullen oder Gangster. Sie haben mich vor der Schule abgepasst. Sie wollten wissen, ob ich bei dir lebe.«

Er schüttelt den Kopf und deutet auf Gabrielle, die nicht reagiert.

»Bitte nur ein Problem auf einmal.«

Ich kann mir nur schwer ein hämisches Grinsen verkneifen. Wenn das eine allgemeingültige Regel wäre, dann würde ich jetzt noch bei meiner echten Familie leben.