Eines Tages – es war ein stinknormaler Tag, der nicht anstrengender war als andere Tage – brach sie auf dem Heimweg von der Schule ganz plötzlich an einem Bretterzaun zusammen, da war sie sechzehn oder siebzehn. Es war so, als hätte ihr jemand die Beine weggeschlagen, sie brach zusammen, ihre Muskeln waren wie von einer plötzlichen Lähmung befallen, sie ließ ihre Schultasche fallen, alle Sachen fielen heraus, und sie fing an zu schreien.
Passanten stürzten herbei, aber sie wollte nicht, dass man sie berührte, vom Boden aufhob, ihr zu nahe kam oder sie ansprach. Sie biss in die Hände, die sich ihr entgegenstreckten, sie konnte, wollte nicht aufhören zu schreien.
Also rief man einen Krankenwagen und brachte sie in die psychiatrische Notaufnahme – da schrie sie immer noch. Man gab ihr ein starkes Schlafmittel, damit sie einschlief, und als sie aufwachte, fing sie wieder an zu schreien.
Nachdem man sie in einem Isolationszimmer drei Tage an ihr Bett fixiert hatte, hörte sie schließlich auf zu schreien.
Als man sie entließ, wusste man immer noch nicht, was mit ihr los gewesen war. Sie hatte ihnen keinerlei Erklärung geliefert, das Schweigen war ihr bereits zur Gewohnheit geworden. Dann lebte sie weiter, als wäre nichts gewesen, aber seitdem war nichts mehr, wie es vorher war.
»Warum?«
Sie antwortet nicht. Das hat man sie schon gefragt, als sie noch ein Teenager war. Immer und immer wieder dieses »warum«, und nie kann sie darauf eine Antwort geben. Mit der Zeit hat sie beschlossen, lieber zu schweigen. Nein, sie hat keine Antwort parat. Aber alle um sie herum tun sich unheimlich schwer damit, das zu verstehen.
Sie sitzt barfuß am Fenster, trägt ein riesiges Sweatshirt und Shorts und blickt durch das halb geöffnete Fenster den Passanten nach. Es geht ein frischer Wind. Sie stammt aus Paris. Als sie alt genug war, verließ sie die Hauptstadt, um anderswo eine Ausbildung zu machen. Offiziell ging sie weg, weil sie die Luftverschmutzung, die ständigen Staus und den täglichen Stress der Großstadt leid war, inoffiziell um Distanz zu ihrer Familie zu bekommen, aber vor allem um dieses beklemmende Gefühl hinter sich zu lassen, das sie daran hindert, den Augenblick zu genießen, ohne weiter darüber nachzudenken. Aber das Gefühl ist mitgekommen, das war ja vorauszusehen.
»Warum, Gabrielle?«
Zé sitzt hinter ihr. Er ist so groß, dass er sich immer ein wenig kleiner macht, wenn er mit ihr spricht und er ist jung, vielleicht zu jung, sie ist älter als er, Anfang dreißig, und sie hat genug Gründe, dieses Leben hinter sich lassen zu wollen.
»Liebst du mich nicht mehr?«
»Darum geht es nicht«, sagt Gabrielle.
»Liebst du mich nun oder nicht?«
»Darum geht es nicht.«
Das stimmt. Es gibt kein Geheimnis, kein verborgenes Kindheitstrauma oder jedenfalls kein ausgeprägtes, keine dramatische Familiengeschichte, nichts, das rechtfertigen würde, aus dem Leben scheiden zu wollen. Sich rechtfertigen müssen, immer und immer wieder: ihrer Familie gegenüber, den unzähligen Psychiatern und Psychologen gegenüber und Zé gegenüber.
Nur Mattia respektiert ihr Schweigen. Gabrielle mag ihn gern. Er ist mit seinen gerade mal elf Jahren der Einzige, der sie versteht, der weiß, dass man sich manche Fragen einfach sparen sollte.
Man ist niemandem Rechenschaft schuldig. Das hat sie früher, bevor sie die Rasierklinge über ihren Venen ansetzte, zu ihrer eigenen Beruhigung immer und immer wieder vor sich hingesagt: Man ist niemandem Rechenschaft schuldig. Aber das stimmte nicht. Manchmal wäre es ihr lieber, sie hätte niemanden, bei dem sie sich entschuldigen müsste. Aber da ist Zé, da ist Mattia. Du willst uns ja wohl nicht allein lassen, sagte Zé eines Tages zu ihr, als er spürte, dass sie kurz davor war, es zu tun. Da sitzt er, hinter ihr auf der Sofalehne, eine Zigarette im Mund, Sorgenfalten auf der Stirn. Sie sieht ihn zwar nicht, aber sie kann ihn sich gut vorstellen. Zwei Jahre sind sie zusammen, zwei Jahre, in denen sie das Nichts miteinander geteilt haben. So wie das vielleicht alle tun oder auch nicht. Sie hat sich aus dem Leben zurückgezogen, weiß nicht mehr, wie die anderen leben. Sie beobachtet die anderen durchs Fenster mit einer Art höflicher Verblüffung. »Gabrielle …«
Stille.
»Ich liebe dich. Das sollte zählen.«
Sie lächelt der Fensterscheibe zu. Ein etwas gequältes Lächeln.
»Hör auf, mir Schuldgefühle zu machen.«
»Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich so tue, als wenn nichts gewesen wäre.«
Sie erwartet ja gar nichts von ihm. Aber das zu sagen, wäre noch verletzender. Er setzt sich nur selbst unter Druck, indem er darauf beharrt, jemanden zurückhalten zu wollen, der nicht mehr leben will. Genau wie ihre Familie. Wie diese Psychiater. Wie diese Psychologen.
Sie möchte doch nur in Ruhe gelassen werden. Zé wusste genau, worauf er sich einließ, als sie beschlossen, Zeit miteinander zu verbringen. Das ist für sie das Wesentliche einer Beziehung: Zeit miteinander verbringen. Nicht mehr und nicht weniger. Sie macht keine Versprechungen, gibt keine Treueschwüre ab, redet nicht über ewige Liebe und gemeinsame Konten. Sie hatte ihn gewarnt. Er hatte sich in voller Kenntnis der Sachlage dafür entschieden, und nun hatte er nicht die Kraft, diese Entscheidung auszuhalten. Wie sollte man ihm das verübeln?
Draußen gehen Leute vorbei. Sie haben ein Ziel, fern der hohen Mauern von Charcot, fern der Krankenhäuser, fern von dieser Beklemmung, die sie nicht abzuhängen vermag, sie ist ein Teil von ihr. Sie hat Jahre gebraucht, um das zu verstehen. Es ist diese Angst, die furchtbare Angst, nicht zu wissen, ob sie am Leben ist oder nicht.
Eine Ewigkeit vergeht. Bald hat Mattia Schulschluss. Zé gibt auf. Sie merkt es an dem tiefen Seufzer, den er ausstößt. »Ich muss den Jungen abholen.«
Sie nickt, um zu signalisieren, dass sie ihn gehört hat.
»Sie wollten heute irgendwelche Tests mit ihm machen«, fügt er hinzu.
»Was für Tests?«
»IQ-Tests. Sie vermuten, dass er hochbegabt ist. Sie haben mich um Erlaubnis gebeten.«
»Und? Hast du dein Einverständnis gegeben?«
»Nein, ich muss erst mit ihm reden. Was denkst du darüber?«
Sie zuckt mit den Schultern. Sie hat keine große Meinung dazu.
»Ich denke nicht, dass das irgendetwas an unserem Leben ändern würde. Er braucht keinen IQ-Test, um zu wissen, wer er ist und was er tun muss.«
Die unnatürlich lange Stille, die darauffolgt, sagt ihr, dass Zé das nicht mehr gehört hat. Man hört, wie die Tür zugeschlagen wird. Mit geschlossenen Augen kostet Gabrielle aus, dass sie allein ist.