Meine Psychologin heißt Nouria.
Sie hat ihr Sprechzimmer in einem winzigen Büroraum, er hat ungefähr die Größe einer Besenkammer. Ihr ist es aber gelungen – wie sie das geschafft hat, ist mir ein Rätsel –, ihn so einzurichten, dass er großzügig und luftig wirkt. Das Mobiliar beschränkt sich auf zwei Stühle. Kein Schreibtisch. Sie notiert sich auch nichts, hat keinen Computer. Ansonsten gibt es nur noch ein Telefon, es steht direkt auf dem Boden und ist ausschließlich in den Pausen zwischen den Gesprächen eingestöpselt.
Ich sehe sie seit vier Jahren alle zwei Wochen fünfundvierzig Minuten lang. Ob man will oder nicht, das verbindet.
Sie hat ein ganz besonderes Lächeln. Wenn sie lächelt, sind sämtliche Gesichtsmuskeln daran beteiligt und ihre Augen verengen sich zu zwei schwarzen Schlitzen. Sie ist speziell. Als Person, aber vor allen Dingen als Psychologin. Ich mag sie gern.
»Wie geht es Gabrielle?«, fragt sie.
»Schweigt immer noch.«
»Und Zé?«
»Er auch. Er sagt, dass man unbedingt etwas ändern müsse, aber er weiß nicht was. Wie immer eben.«
»Und du?«
»Und du?«
Sie lächelt. Diesen Dialog führen wir jedes Mal.
Es ist dunkel. Es wird von Tag zu Tag früher dunkel. Wir haben heute den ersten Dezember. Gabrielles Selbstmordversuch liegt gut einen Monat zurück.
Es ist kalt. Sicher passieren in der Welt gerade eine Menge Dinge, aber hier passiert nichts, absolut gar nichts.
Ich langweile mich. Ich habe mich in meinem Schweigen eingerichtet oder schweige, weil die anderen es auch tun. »Hast du was von deiner Mutter gehört?«
Am Anfang machte sie es wie die anderen Therapeuten, sie wartete darauf, dass ich anfange zu reden. Aber ich redete nicht, da begann sie, mir Fragen zu stellen. Die beantworte ich, nur habe ich nicht viel zu sagen, es ist immer das gleiche Problem. Sie lässt sich dadurch jedoch nicht entmutigen. Sie ist bewundernswert. Wirklich.
»Nein.«
»Hast du sie angerufen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich brauche sie nicht.«
»Du brauchst niemanden.«
Ich weiß nicht, ob das eine Frage ist oder eine Feststellung. Und während ich darüber nachdenke, wende ich mich ab und sehe aus dem Fenster. Die Stadt gleicht einer riesigen Waschküche. Zé wartet vermutlich irgendwo da draußen in der nächstgelegenen Bar. Er ist vollauf mit seiner Arbeit als Nachtwächter und seinem Lamartine beschäftigt, nur alle zwei Wochen, wenn ich meinen Termin bei Nouria habe, geht er unter Leute.
Ich sage:
»Ich denke im Moment oft an Saïd, ich weiß auch nicht warum.«
»Wer ist Saïd?«
»Der Junge, der getötet wurde, weißt du, danach haben sie meinen Vater dann in die Psychiatrie geschickt.«
Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sie nickt. Sie ist mit ihrer Aufmerksamkeit ganz bei mir. Ich lächele still vor mich hin. Es tut gut zu wissen, dass es – egal was passiert – eine Person gibt, die mir zuhört, wenn ich etwas zu sagen habe. Schade nur, dass diese Person dafür bezahlt wird.
»Saïd Zahidi, ja, ich erinnere mich gut daran.«
»Er war fünfzehn«, sage ich, auch wenn ich nicht weiß, inwiefern dieses Detail von Bedeutung ist.
»Ja.«
Stille. Scheinwerfer im Nebel. Ein Auto gerät ins Schleudern, der Fahrer reißt im letzten Moment, bevor es zum Crash kommt, das Steuer herum. Fußgänger schimpfen.
Ihre braunen Augen sind auf mich gerichtet. Ihr entgeht nichts. Bei allen anderen wäre mir das unangenehm, nicht bei ihr.
»Und du denkst an ihn.«
»Ja.«
»Daran, dass dein Vater deshalb gestorben ist?«
»Nein. Nur an ihn. Ich frage mich …«
»Ja?«
»… warum niemand über diese Geschichte redet.«
»Ich vermute mal, so etwas passiert einfach zu oft, Mattia.«
Ich habe keine Ahnung, warum sie immer extra meinen Namen sagt, aber es ist schön. Sie legt eine unglaubliche Wärme in dieses Wort. Weder meine Mutter noch mein Bruder noch meine Schwester noch Zé sagen meinen Namen auf diese Art. Gabrielle manchmal, wenn sie gewillt ist, sich auf die Stufe der Lebenden herab zu begeben. »Das sagt Zé auch.«
»Die Empathiefähigkeit der Menschen reicht nicht aus, um all die zu beweinen, die unschuldig gestorben sind.«
»Ich meine nicht beweinen. Aber sich zumindest erinnern.«
»Erinnerung ist manchmal eine stille Angelegenheit.«
Still … plötzlich habe ich einen Flashback. Meine Mutter, meine Schwester und ich sind zu Besuch in Charcot, einige Monate vor dem Ende. Mein Vater, abgemagert, in einem blauen Pyjama, der ihm zu weit ist und den er überhaupt nicht mehr ablegt, obwohl er andere Kleidung tragen darf. Mein Vater, nur noch ein Schatten seiner selbst, der dennoch lächelt und dann auf einmal seine Hand auf meine legt, die unabsichtlich direkt neben seinem Arm lag.
Und ich ziehe meine Hand in einem mir unerklärlichen Reflex zurück, es hat etwas von einem Hilferuf.
Mamas alarmierter Blick.
Das Lächeln meines Vaters, das erstirbt, und meine Schwester, die sich auf die Lippen beißt, und ich, der ich meinen Fehler erkenne, aber zu spät.
Die Augen meines Vaters, die mich nach Ende des Besuchs noch lange verfolgen, wie zwei Angelhaken, die in meinem Kopf festhängen. Und dann seine Worte, die so traurig klingen: »Wiedersehen, Mattia«, ein unendlich tiefes Bedauern liegt in seiner Stimme, die durch die Psychopharmaka etwas Schleppendes bekommen hat.
Meine Schwester: »Er braucht uns, verurteile ihn nicht.« Meine Mutter, schweigend wie immer. Ich auch.
Ich kehre in die Gegenwart zurück, löse mich vom Fenster und schaue Nouria an. Manchmal kann ich dem Blick aus ihren dunklen Augen nicht mehr standhalten.
»Woran denkst du?«, murmelt sie.
Ich schüttele den Kopf.
»An Saïd.«
Das ist gelogen, das weiß sie. Sie sagt nichts, merkt es sich nur. Ich wechsele das Thema.
»Ich soll in der Schule einen IQ-Test machen.«
»Ach ja?«
»Sie denken, ich wäre entweder schwachsinnig oder hochbegabt.«
»Was hältst du davon?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Ich habe Angst, dass ich die Schule wechseln soll, ich möchte das eigentlich nicht machen. Denkst du, ich kann das ablehnen?«
»Natürlich.«
Ich sehe ihrem Lächeln an, dass sie stolz auf mich ist, dadurch fühle ich mich schon besser.
Mama lebt am anderen Ende der Stadt, in Verrières, dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin. Es wird gerade mehr oder minder stillgelegt und von Grund auf saniert. Bald werden die dreißigstöckigen Hochhäuser, die fernab von allem liegen, alle abgerissen sein, und man wird dort neue Gebäude hochziehen, nach europäischen und ökologischen Standards und mit entsprechend hohen Mieten. So wie im ganzen Viertel haben auch hier die Arbeiten schon begonnen. Bulldozer, Bagger, Brachland und überlebensgroße Plakate, auf denen man Paare sieht, die aussehen wie aus dem Katalog. Sie sind jung, schön, glücklich, schieben einen Buggy vor sich her und strahlen übers ganze Gesicht bei der Vorstellung, endlich ihre Traumwohnung gefunden zu haben und das geruhsame Leben führen zu können, das automatisch daraus folgt.
Zé parkt neben einem Bretterzaun, der einen tiefen Krater umschließt. Das perfekte Familien-Mieter-Glück soll nächstes Jahr Wirklichkeit werden. Nur das Gebäude, in dem ich aufgewachsen bin, das Letzte verbliebene seiner Art, hat dieser Propagandaflut bisher noch widerstanden.
Das Treppenhaus ist voller Graffiti. Sie handeln von der Polizei, von nächtlichen Rendezvous, die nie zustande kommen oder zieren Telefonnummern, die sich wie Votivgaben aneinanderreihen. Wir steigen bis in den fünften Stock hoch. Zé klingelt, wartet einen Moment, klopft an die Tür, ich lehne mich derweil in meiner dicken Jacke übers Geländer. Für nächste Woche ist Schnee angesagt. Bald beginnen die Weihnachtsferien.
»Madame Lorozzi!«, schreit Zé.
Eine Nachbarin um die sechzig erscheint auf dem gegenüberliegenden Treppenabsatz.
»Die ist seit drei Wochen nicht mehr nach Hause gekommen. Sind Sie Ihre Söhne?«
»Er ja, ich nicht«, sagt Zé, während er in seiner Tasche nach den Zigaretten sucht. »Ich habe schon eine ganze Weile nichts mehr von Amélia gehört«, fügt die Nachbarin hinzu. »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, sagte sie, sie hätte Probleme die Miete zu bezahlen.«
»Wurde sie etwa vor die Tür gesetzt?«
»Nein, das hätten wir mitbekommen. Alle tun sich im Moment schwer. Das Viertel wird saniert, das Gebäude wechselt bald den Besitzer. In ein paar Monaten bekommen wir alle eine neue Wohnung zugewiesen.«
Zé nickt verständnisvoll. Ihm ist das egal. Nicht total egal, aber ziemlich. Er will sich eine Zigarette anstecken, aber als er das empörte Gesicht der Nachbarin sieht, überlegt er es sich doch noch anders. »Kann ich Ihnen vielleicht meine Telefonnummer dalassen, und Sie rufen mich an, wenn Sie sie sehen?«
Sie mustert uns neugierig, während Zé eine Nummer auf einen Zettel kritzelt und ihn ihr reicht. Sie versucht, die kleine, krakelige Schrift zu entziffern.
»Sie sind doch kein Bulle?«
»Finden Sie etwa, ich habe eine Bullenvisage?«
Sie steckt den Zettel weg.
»Ich sage ihr, dass Sie mit ihr sprechen wollen.«
Als wir kurz darauf wieder im Auto sitzen, und ich einen prüfenden Blick in die Wolken werfe, in der Hoffnung, jetzt schon irgendwelche Anzeichen für den angekündigten Schnee zu entdecken, stelle ich fest, dass wir nicht zurück zur Wohnung fahren.
»Wo fahren wir hin?«
Zé antwortet nicht.
Da ich das mittlerweile gewohnt bin, verzichte ich darauf, ihm weitere Fragen zu stellen, und widme mich wieder der Betrachtung des Himmels. Der Typ wäre ein idealer Drogendealer. Dem kann man einfach nichts aus der Nase ziehen, und er macht das nicht mal absichtlich. Der würde die Drogenfahnder in den Wahnsinn treiben. Noch nach drei Tagen in Polizeigewahrsam würde der ihnen nur weiter Baudelaire rauf und runter rezitieren.
Wir fahren erneut durch die halbe Stadt. Zé fährt in Richtung des Viertels, in dem die Wohlhabenden wohnen, von Eingeweihten auch nur La Solaire genannt, weil man hier oben auf dem Hügel mehr Licht hat und das Leben, so heißt es, einem dort schöner vorkommt.
Ich habe da so meine Zweifel. Zé ist hier aufgewachsen. Man sieht ja, was dabei rauskommt. Es wäre mir neu, dass Reiche keine Antidepressiva nehmen.
»Fahren wir zu deinen Eltern?«, frage ich.
Er lacht auf, schleudert seine Kippe durchs Fenster. Ein kristallklares Lachen, das so gar nicht zu seiner Visage des großen Schweigers passen will. Ich mag sein Lachen, aber seit Gabrielles Selbstmordversuch hört man es nur noch selten.
Das Auto quält sich langsam den Hügel hoch, dort oberhalb der Stadt liegen die schönen Villen, aber auch ein paar hässliche, graue Dieselöltanks. Hier lässt es sich freier atmen als anderswo. Zé hält in einer kleinen Straße, sie hat etwas Mittelalterliches mit ihrem Kopfsteinpflaster, das aussieht wie von früher.
In dem Moment erkenne ich das Haus auf der linken Seite wieder.
»Nein, den will ich nicht sehen!«
Er schert sich nicht darum. Wie ein Taxifahrer windet er sich aus dem Auto heraus, geht einmal um den Wagen herum und öffnet mir die Tür, dabei macht er alberne Bücklinge. »Komm schon, beweg deinen Hintern.«
Er packt mich am Arm, als würde er damit rechnen, dass ich jeden Moment weglaufe, und zieht mich in Richtung der Milchglastür, die über eine Sprechanlage mit Kamera verfügt. Auf einem goldfarbenen Schild steht: »Stefano Lorozzi, Chirurg.«
»Na, ganz schön protzig«, murmelt Zé, »wenn man bedenkt, wo er herkommt«, dann spricht er in die Sprechanlage: »Stefano, hier ist Zé, Mattia ist bei mir, können wir mal kurz reinkommen?«
Entgegen all unseren Erwartungen öffnet der Hausherr selbst die Tür und kein Majordomus. Er führt uns in den Wintergarten und bietet uns eine Erfrischung an: einen Traubensaft für mich und ein Sodawasser für Zé, der nie Alkohol trinkt. Ich nestele an meinem Jackenärmel herum und mustere unseren Gastgeber. Er ist klein, an die dreißig, hat eine Brille, ein Zahnpastalächeln und trägt einen gestreiften Strickpulli, unter dem der Kragen eines blütenweißen Hemdes hervorguckt.
Das ist mein Bruder. Halb-Bruder. Der Sohn von Mama und einem Typen, mit dem sie vor Papa zusammen war. Er nahm so ungefähr mit fünfzehn sein Medizinstudium auf und machte etwa in Zés Alter seinen Doktor, ein echter Hochbegabter.
Er hat weder mit mir noch mit meinem Vormund besonders viel gemein. Die Unterhaltung kommt nur schwer in Gang, Stille droht sich über die große Villa herabzusenken, aber da er gut erzogen ist, bemüht er sich um so etwas Ähnliches wie einen Dialog.
»Und deine Arbeit? Alles okay?«
»Ja«, sagt Zé.
Stille. Mein Bruder rührt in seinem Cappuccino und blickt mit leicht gerunzelter Stirn in den Himmel.
»Immer noch Wachmann?«
»Immer noch.«»Und du, Mattia? Die Schule?«
»Ist okay.«
Ich drücke insgeheim die Daumen, dass Zé nichts über das pädagogische Gespräch ausplaudert. Er schweigt, mein alter Komplize. Mein Scheitern ist auch sein Scheitern. »In welcher Klasse bist du jetzt?«
»In der Fünften.«
»Bald der Sechsten.«
»Ja.«
Stille. Während die Sonne hinter dem Hügel verschwindet, fällt sein aufgesetztes Lächeln langsam in sich zusammen. Ich fühle mit ihm. Es ist nicht einfach, uns als Gäste zu haben. Wer hat da auf wen abgefärbt, Zé auf mich oder umgekehrt? Wer von uns beiden hat die Kunst des systematischen Schweigens eingeführt und sie bis heute gepflegt? Sah ganz so aus, als wären wir dafür gemacht, zusammenzuleben. »Und du?«, fragt Zé schließlich, in Erinnerung an die Regeln, die in der guten Gesellschaft gelten. Es wirkt wie der mühsame Versuch, sich die verschiedenen Paragrafen eines Handbuchs zu diesem Thema ins Gedächtnis zu rufen.
»Was, ich?«
»Na, die Arbeit und all das.«
»Ist okay.«
Ich war fünf, Mama litt unter Papas Abwesenheit, seiner Erkrankung. Sie hatte keine Tränen mehr, um zu weinen, aber in ihren Augen war eine einzige Leere, das konnte jeder sehen, der es sehen wollte, du sahst es nicht.
Du nahmst jeden Tag deine Tasche und gingst zur Uni, an Mama vorbei, die auf dem Sofa lag, vor dem ausgestellten Fernseher. Sie blickte dich flehentlich an mit diesen leeren Augen, du gingst einfach weiter.
Abends kamst du zurück, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ohne uns eines Blickes zu würdigen, und hast dich in deinem Zimmer eingeschlossen. Stefano, du wolltest nichts mit dieser Welt zu tun haben, die bereits scheintot war, unserer Welt, du hast dich komplett aus ihr zurückgezogen und dich lieber in deine geliebten Anatomiebücher versenkt. Manchmal klopfte Mama um Mitternacht an deine Tür unter dem Vorwand, sich nach deinen Lernfortschritten erkundigen zu wollen. Schroff sagtest du, du bräuchtest sie nicht, da zog sie sich zurück, schlich davon, und du hast die Augen geschlossen, um sie nicht umherirren zu sehen.
Da war ich fünf, Stefano, ich habe all das gesehen, ich konnte nicht schlafen, weil ich wusste, wie allein sie mit dieser Situation war, obwohl du da warst. Im Grunde hast du für uns noch weniger existiert als Papa.
Du sagtest, er sei nicht dein Vater, das gehe dich nichts an, sie solle ihn vergessen, du seist ihr Sohn und sie deine Mutter, und es sei
nicht an dir
für sie
da zu sein.
»Ich suche deine Mutter«, sagte Zé.
»Meine Mutter?«
Das Wort klang seltsam aus seinem Mund, so wie »Papa« seltsam aus meinem Mund klang.
»Warst du bei ihr?«
»Ihre Nachbarin sagt, sie wäre seit drei Wochen nicht mehr nach Hause gekommen. Du hast nichts von ihr gehört?«
Die Stille wechselt das Lager. Ob es nun daran liegt oder auch am blendenden Licht des Sonnenuntergangs, mit einem Mal treten die Falten in Stefanos Mundwinkeln stärker hervor, seine Augen wandern unruhig hin und her. Draußen setzt sich eine Elster nur wenige Meter entfernt ins Gras. Dann lässt sie sich auf dem Ast einer Kiefer nieder. »Nein«, sagt mein Bruder. »Ehrlich gesagt habe ich sie seit Monaten nicht gesehen.«
Zé seufzt. Er leert sein Glas Sodawasser in einem Zug. »Danke für deine Hilfe.«
Mein Bruder begleitet uns zum Auto, nachdem er mehrmals betont hat, wir könnten gerne zum Essen bleiben.
»Macht euch keine Sorgen«, sagt er. »Das ist nicht das erste Mal, dass sie für einige Zeit verschwindet. Sie brauchte wahrscheinlich nur mal einen Tapetenwechsel.«
»Wir hatten Besuchstage für Mattia festgelegt«, erwidert Zé. »Wenn sie nicht kann, sagt sie normalerweise ab.«
»Sie hat es vermutlich einfach nur vergessen. Ich sage euch Bescheid, wenn ich was höre. Tschüss, Mattia.«
»Tschüss.«
Zé zündet sich eine Zigarette an, stellt das Radio an, das immer auf France Culture eingestellt ist, und lauscht andächtig einer Lesung der Odyssee von Homer.