An stillen Orten, wohin mein Herz dich wünschte, kostete ich einen endlosen Sommer aus …
Er wacht neben dem Kind, ein Buch in der Hand, wie immer. Dieses Mal hat er sich für Die Gerechten von Camus entschieden. So ist er, Zé. Er findet seine Revolte in Seiten, in Tinte, in Worten. Anders kann er nicht überleben. Sein einziger Versuch, sich aus dem Panzer zu befreien, in den er sich als Jugendlicher zurückgezogen hatte, endete mit einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie. Aber das war noch seine geringste Sorge.
Er war immer ein ruhiger Typ gewesen, ein braves Kind, ein mustergültiger Schüler, ein Klassenkamerad ohne Fehl und Tadel, bis zur Sache mit der Tafel. Er schließt die Augen, wenn er daran denkt, dann sieht er wieder, wie das Blut die Kreide rot färbt. Da schlägt er ein Buch auf und berauscht sich an den Worten, bis es vorbeigeht, bis er genug gebüßt hat, bis er seine Vergebung bekommen hat.
So lange liest er.
Gabrielle sieht im Wohnzimmer fern. Ab und zu geht er zu ihr rüber, um sich zu vergewissern, dass sie noch am Leben ist. Sie vegetiert vor dem bläulichen Bildschirm dahin. Am liebsten würde er diesen Scheißfernseher aus dem Fenster werfen. Andauernd laufen diese Reportagen, die so niederschmetternd und zynisch sind und mit dazu beitragen, dass Gabrielle in dieser Art Schockstarre verharrt. Aber wenn er das täte, dann wäre der Teufel los. Man denkt es nicht, aber Mattia legt allergrößten Wert darauf, am Sonntagmorgen seine Zeichentrickfilme zu sehen.
Er ist ja auch noch ein Kind. Das muss Zé sich hin und wieder mit Erstaunen ins Gedächtnis rufen, weil er es manchmal einfach vergisst.
An stillen Orten, wohin mein Herz dich wünschte …
Es gelingt ihm nicht, sich auf seine Lektüre zu konzentrieren. Die Revolutionäre der russischen kommunistischen Partei debattieren über Gut und Böse, über Leben und Tod und über Gerechtigkeit, bevor sie ein Attentat begehen. Ihm scheint, solche Überlegungen spielen heute keine Rolle mehr. Jedem sein Leben. Jedem seine Scheiße. Und jedem sein Tod, würde Gabrielle hinzufügen. Und jedem seine Ungerechtigkeit. Zé tut sich schwer damit, angesichts all dieser Fragen, die sich einem täglich stellen, Position zu beziehen. Er ist an diesem Spiel nicht wirklich beteiligt. Er versucht einfach nur, sein Bestes zu geben. Für sich. Für alle, die er liebt. Um zu überleben eben, ohne eines Tages mit dem schlichten Wunsch zu erwachen, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Er hört, wie im Fernsehen die Geschichte um Nixon, Pinochet und den Staatsstreich vom elften September neunzehnhundertdreiundsiebzig wiedergekäut wird. Er schließt die Augen, genervt. Zapp weiter, Gabrielle, bitte. Er sagt es ihr immer wieder: Kümmere dich nicht um die Alpträume dieser Welt. Den anderen gelingt es, all die Gemeinheiten um sie herum zu vergessen, indem sie sich hier und da in ihrem eigenen Leben einen Glücksmoment herauspicken. Sie schaffen es, sich aus dem ganzen Dreck, der sie umgibt, herauszuschälen. Gabrielle schafft das nicht. Und das bringt sie um. Sie ist erst dann glücklich, wenn es auf Erden niemanden mehr gibt, der unglücklich ist. Da nützt es auch nichts, dass die Psychiater, die Ärzte oder auch Zé ihr die ganze Zeit zu erzählen versuchen, dass es doch gar nicht so schlecht läuft. Warum sollte sie eine solche Lüge akzeptieren?
Es gibt solche Menschen, die dazu verurteilt sind, nicht alt zu werden.
Also bereitet er sich Tag für Tag auf die Vorstellung vor, dass er eines Tages neben einem kalten Körper aufwachen wird. Dann hätte er nur noch Mattia, also im Grunde niemanden, denn auch Mattia wird weggehen, nicht auf die gleiche Art, das hofft er zumindest, nein, aber Kinder gehen immer irgendwann weg, und er an seiner Stelle wäre vielleicht schon längst gegangen.
Jetzt verstummt sogar der Fernseher, Stille kehrt ein, und Zé hat auf einmal das Bedürfnis, seine eigene Stimme zu hören. Er beugt sich über den schlafenden Mattia und klappt sein Buch zu.
»Schläfst du?«
Im Gesicht des Kindes regt sich nichts. Es lächelt noch nicht mal im Schlaf. Zé fühlt sich ziemlich allein.
»Ich denke an sie, weißt du, dieses Mädchen, das ich getötet habe …«
Er schluckt schwer. Er denkt die ganze Zeit daran und spricht nie darüber.
»Émilie. Sie hieß Émilie.«
Keine Antwort.
»Ich wünsche mir, dass du mich eines Tages zu ihrem Grab begleitest. Nicht, um dir meine Fehler aufzubürden. Sondern damit du siehst, was passiert, wenn du zulässt, dass die Welt dich einverleibt. Diese Welt ist zum Kotzen, das weißt du. Es ist so dermaßen schwierig, ihr zu widerstehen, es ist alles so eingerichtet, dass du ins Rutschen geraten musst, und wenn du einmal loslässt, wenn du dich einmal vom Rand dieser Eisfläche entfernst, und sei es nur eine Sekunde lang, dann rutschst du aus …«
Er weiß nicht, wie er diesen Gedanken zu Ende bringen soll. Normalerweise führt er solche Gespräche nur mit sich selbst, aber dabei kommt er selten zu einem Schluss. Er findet einfach keinen Sinn in alledem. Und er hat es mit der Zeit fast aufgegeben, danach zu suchen. Er seufzt, legt seine Hand auf die Hand des Kindes, sie ist warm, aber nicht heiß.
»Halt dich lieber am Rand auf. Das mag feige sein, aber das ist die einzige Möglichkeit, kein Unheil anzurichten. Zumindest … kenne ich keine andere, ich hoffe, ich irre mich.«
Er legt das Buch neben den Nachttisch, steht auf, reckt sich und lässt den Blick durchs Zimmer schweifen. Mattia hat nur sehr wenige Sachen. Einen Schreibtisch. Einen Stuhl, ein Bett, eine Kommode mit etwas Kleidung. Keine Bücher. Fast keine Spielsachen. Nichts, dass auf irgendein Hobby oder irgendeinen Zeitvertreib hinweisen würde. Noch so einer, der nicht so richtig weiß, wie er überleben soll. »Werde schnell wieder gesund«, fügt Zé hinzu, während er zur Tür geht. »Ohne dich herrscht hier nur noch Stille.«
Gabrielle ist auf dem Sofa eingeschlafen. Zé macht den Fernseher aus und unterdrückt eine plötzliche Lust zu weinen.