Zé wollte uns eine Freude machen mit dem Weihnachtsbaum, aber dieser Ladenhüter, den er aus dem Supermarkt mitgebracht hat, ist eine echte Krücke: Die Spitze hängt traurig herunter, er ist krumm und schief gewachsen und hat wenig gemein mit einer stolzen Tanne, eher schon mit dem schiefen Turm von Pisa.
Aber ich spare mir jeden Kommentar und lästere nur heimlich. Am Abend des Vierundzwanzigsten dekorieren wir ihn ohne rechte Begeisterung. Dann setzen wir uns zu einem echten Festmahl an den Tisch. Es gibt Rinderbraten, Ofenkartoffeln und eine gefrorene Biskuitrolle für die, die das mögen. Zé hat Urlaub. Die Geschenke warten schon unterm Weihnachtsbaum. Wir essen schweigend, wer hätte das gedacht, während in der Wohnung über uns anscheinend die gesamte Familie plus Freunde zusammengekommen ist. Es ist ein einziges Getrampel und Gesinge, da platzt einem der Schädel, irgendwie verachte ich sie insgeheim dafür.
Das graue Auto habe ich nicht mehr gesehen, aber wer weiß, vielleicht ist es Zé erneut gefolgt, und er hat es nicht bemerkt, oder er hat es mir schlicht verschwiegen. Wir haben seit dem letzten Schultag nicht mehr darüber gesprochen.
Kurz vorm Dessert entkorkt Zé eine Flasche Wein, obwohl er doch sonst nie Alkohol trinkt. Gabrielle und ich runzeln die Stirn. Er schenkt uns allen ein, mir nur ein halbes Glas, aber als wir trinken wollen, bedeutet er uns zu warten. Wir schauen ihn beide fragend an. Er sieht aus wie ein Dirigent, wie er da so steht, mit dem Glas in der Hand und erhobenem Zeigefinger, als wollte er den Moment noch etwas hinauszögern.
»Was ist denn?«, frage ich genervt.
»Dreißig Sekunden.«
Er schaut auf seine Uhr. Gabrielle ist genauso perplex wie ich. Ich stelle mein Glas wieder ab. Nach einer halben Minute klopft es. Zé kann sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. »Wer ist das?«, frage ich schnell.
»Na, mach auf, wenn du so neugierig bist.«
Ich stürze zur Tür. Einen Moment lang denke ich, es könnte meine Mutter sein, aber die Person auf dem Treppenabsatz ist nicht Amélia, trotzdem bin ich ziemlich baff. Denn dort steht eine junge Frau mit einem Rucksack, der größer ist als sie selbst, sie trägt eine graue Jogginghose, einen weißen Kapuzenpulli und eine schwarze Schapka mit Ohrenklappen. Sie hat dunkle Augen, eine dunkle Haut, ihre braunen Haare kringeln sich in alle Richtungen und sie sieht mir ähnlich. Es ist meine Schwester, Gina.
»Gina?«
Ich muss ihren Namen laut aussprechen, wie um sicherzugehen, dass sie es auch wirklich ist. Statt einer Antwort lässt sie ihren Rucksack fallen – man hört den Aufprall im ganzen Treppenhaus – umarmt mich und hebt mich hoch, dabei drückt sie mich so fest an sich, dass ich kurz fürchte zu ersticken. Wann hat mich das letzte Mal jemand so fest umarmt? Es verschlägt mir den Atem. Dann lässt sie mich wieder herunter, lächelt mich an und streicht eine Haarsträhne an meiner Schläfe glatt. »Du hast dich nicht verändert, Mattia. Es ist so schön, dich zu sehen!«
Sie späht in die Wohnung. »Darf ich reinkommen?«
Und schon ist sie mit uns im Wohnzimmer und nippt an dem Wein, den Zé ihr aufdrängt. Sie begrüßt Gabrielle, die beiden sehen sich zum ersten Mal. Ob wohl nur mir auffällt, wie ihr Blick, als sie sich auf die Wangen küssen, an Gabrielles Armen herunterwandert bis zu den Narben an ihren Handgelenken? Sie sagt nichts. Da ist Gina wie ich. Ihr entgeht nichts, aber von meiner Mutter hat sie die Kunst geerbt, sich über alles auszuschweigen, was von Bedeutung ist, und von meinem Vater die Kunst, im Notfall die Flucht zu ergreifen.
In den letzten Monaten ist sie an der Mittelmeerküste entlang von Marseille nach Izmir gewandert, ohne Handy, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Sie erzählt uns nicht viel von ihrer Reise, weder von den Menschen, denen sie begegnet ist, noch von der Landschaft, sie nennt nur ein paar Städtenamen. Vielleicht hat sie ja nichts Spannendes erlebt oder sie hat einfach keine Lust, ihre Geheimnisse auszuplaudern. Da ich diese Stadt noch kein einziges Mal verlassen habe, giere ich förmlich nach Berichten darüber, wie es anderswo ist, aber vergebens.
»Und hier?«, fragt sie, nachdem sie einen Moment vor sich hin gegrübelt hat.
»Mama? Stefano?«
Ich schüttele den Kopf. Zé berichtet ihr von Mamas Verschwinden. Über meinen Bruder gibt es nicht viel zu sagen, wie immer. Er lebt sein eigenes Leben, kümmert sich nicht weiter um uns. Insofern ist doch alles beim Besten in dieser besten aller Welten. Gina spart sich jeden Kommentar dazu, ihr Blick geht ins Leere, sie dreht sich eine Zigarette und steckt sie sich in den Mundwinkel, ohne weiter zu fragen. Gabrielle streicht sich über die Innenseiten ihrer Handgelenke und sieht dabei Zé an, der sieht meine Schwester an, und ich beobachte sie alle drei, sie spiegeln sich im Fenster.
Es schneit. Es ist Weihnachten.
Morgen ist der Todestag meines Vaters.
Um fünf Uhr stehe ich auf, weil ich nicht mehr schlafen kann. Ich schleiche mich ins Wohnzimmer. Gina schläft auch nicht, das hatte ich mir schon gedacht. Sie blickt mit weit geöffneten Augen zum Weihnachtsbaum, zwischen Daumen und Zeigefinger verglimmt eine Zigarette, ihr Rucksack ist noch nicht mal ausgepackt. Sie weiß, dass ich da bin, ohne den Kopf wenden zu müssen. Genau wie ich ist sie darin geschult, noch das kleinste Geräusch wahrzunehmen.
»Na, Mattia, du kannst es wohl nicht mehr abwarten, deine Geschenke aufzumachen?«, sagt sie leise.
Ich nicke, das sieht sie nicht, aber das ist auch nicht nötig. Sie kennt mich so gut, wie ich sie kenne, und ich sehe ihr leicht gequältes Lächeln vor mir, das so typisch für sie ist, halb schalkhaft, halb traurig. »Ich betrachte den Schnee«, sagt sie.
Stille.
»Wie wär’s, wollen wir rausgehen?«
Wortlos ziehe ich meine Turnschuhe an, die noch unterm Weihnachtsbaum liegen. Sie zieht sich ihre Pelzmütze über die Ohren und wir gehen. Ich trage meine Jacke direkt über dem Pyjama. Zé hätte mich niemals so vor die Tür gehen lassen. Gina ist das egal. Das nehme ich ihr nicht krumm, diese Art von Gleichgültigkeit macht mir nichts aus.
Die Straßen sind menschenleer, wie am Weihnachtsabend. Plötzlich greift sie nach meiner Hand, ihre Hand ist warm, meine eiskalt. Wir laufen langsam nebeneinander her, der noch unberührte Schnee knirscht unter unseren Schritten. Die Flocken sehen im Licht der Straßenlaternen riesig aus. Kein einziger Vogel zwitschert. Die machen Winterschlaf oder überwintern woanders. Gina ist auch nicht gerade passend zum Wetter gekleidet. Sie trägt immer noch ihren Kapuzenpulli, in dem sie durch halb Europa gereist ist, aber sie klagt nicht über die Kälte. »Bring mich an einen Ort, der dir etwas bedeutet«, sagt sie. »Ich kenne diese Stadt gar nicht mehr.«
Sie ist kurz nach dem Tod meines Vaters weggegangen, aus einer plötzlichen Laune heraus. Sie brach die Berufsschule ab und schloss sich einer Freundin an, die nach Russland wollte. Gemeinsam nahmen sie die Transsibirische Eisenbahn, in Wladiwostok trennten sich ihre Wege und sie fuhr weiter nach Japan. Seitdem haben wir uns nur noch selten gesehen.
Ein Ort, der mir etwas bedeutet …
Ich überlege, mir fällt keiner ein. Dann blicke ich nach oben und sehe die riesigen Kräne, die über Verrières aufragen. Die Richtung schlagen wir ein, dabei drücke ich fest ihre Hand. Vielleicht bin ich ein bisschen zu alt für so etwas, aber egal, wie oft sagt man mir, wie unglaublich reif ich für mein Alter sei, ich kann es inzwischen nicht mehr hören. Das ist die Standardbemerkung, wenn etwas Schlimmes passiert ist.
Gina lächelt, als sie versteht, wo wir hingehen. Aber als wir dann zwischen halb abgerissenen Häusern und Brachland entlanglaufen, vorbei an den Werbetafeln in diesen furchtbaren schreienden Farben, erstirbt ihr Lächeln. Sie sieht sich jeden Haufen Schutt ganz genau an. Sicher versucht sie sich daran zu erinnern, was da gestanden hat, bevor die Stadt diesen Ort den Investoren in den Rachen geworfen hat. Sie lässt meine Hand los.
»Was machen die denn hier?«, flüstert sie.
Ich zeige auf die Tafeln, die Paare und die Buggys, in denen keine Kinder zu sitzen scheinen. Da erübrigt sich jede weitere Erklärung. Auch sie schweigt nun. Hing sie etwa trotz alledem an diesem Ort?
Wir laufen wie automatisch zu der Brachfläche, die neben dem Gebäude liegt, in dem wir mal gewohnt haben. Dort erheben sich zwei Kräne, sie wirken mächtig, majestätisch, raumgreifend, man erkennt den Schriftzug eines großen Finanzinstituts. Sie sind in drei Farben angestrichen: Blau, weiß, rot – rot, wie das Blut von Saïd Zahidi, der hier ganz in der Nähe gestorben ist, blau wie die Uniform des Bullen, der ihn getötet hat, weiß wie die Haut des Mörders.
Wir laufen über das Brachland, unser Schweigen hat fast etwas Andächtiges. Der Schnee dort ist vollkommen unberührt, wir hinterlassen unsere Fußabdrücke auf der gefrorenen Fläche, gehen immer weiter, zwei einsame Wanderer, die in der zähen Masse ihrer Erinnerungen festhängen. Am Fuße einer der beiden Kräne bleiben wir stehen. Ich verrenke mir fast den Hals beim Versuch, die Spitze zu sehen. Da stößt Gina mich in die Seite.
»Steigen wir hoch?«
Ich sehe sie verblüfft an, aber es ist ihr voller Ernst.
»Da hoch?«
»Ja, bist du etwa noch nie auf einen Kran geklettert?«
Und als ich bedauernd den Kopf schüttele, sagt sie:
»Das muss man zumindest einmal in seinem Leben gemacht haben.«
Sie nimmt meine Hand und legt sie auf eine der Sprossen. »Los, Mattia, es ist Weihnachten.«
»Was hat das damit zu tun?«
Sie lacht.
»Keine Ahnung, du bist zu brav. Das ist schon ein wenig beängstigend. Du hast das Recht, ein Kind zu sein, Mattia. Und Kinder klettern auf Bäume.«
Auf Bäume vielleicht. Aber nicht auf Kräne. Aber ich merke, wie wichtig ihr das ist, und möchte sie nicht auch noch enttäuschen, so wie ich alle anderen enttäuscht habe. Also schlucke ich meine Angst herunter und steige langsam die Sprossen hoch. Sie feuert mich von unten an und klettert mir dann in Windeseile nach. Für sie ist das kein Problem, sie ist größer und diese Leitern sind für Erwachsene gemacht.
Als ich irgendwann runterschaue, denke ich, der Pfleger hatte recht, meine Schwester ist verrückt, da besteht kein Zweifel. Wir sind bestimmt zehn Meter hoch. Das eisige Metall klebt an meinen Handflächen, die Kälte ist beißend und ich bekomme langsam Angst, aber Gina murmelt, alles wäre okay, wir hätten es gleich geschafft. Ich möchte nur noch eins, so schnell wie möglich wieder hinuntersteigen, aber da sie es nun mal möchte, steige ich mit halb geschlossenen Augen weiter hoch. Ich zwinge mich dazu, nur auf meine Finger zu schauen, die sich unermüdlich an den Sprossen festklammern, und auf einmal ist die Angst wie weggeblasen. Ich habe das Gefühl, die Sprossen in meinem eigenen Gefängnis emporzusteigen auf dem Weg in die Freiheit.
Ich habe keine Ahnung, wie lange wir für den Aufstieg brauchen, aber irgendwann sind wir oben auf der Gondel, auf der man relativ guten Halt hat. Bei der Vorstellung, wieder hinuntersteigen zu müssen, beginnt mein Herz wie wild zu klopfen. Mit Ginas Hilfe setze ich mich neben sie auf einen Eisenträger und lasse die Beine über dem Abgrund baumeln. Sie legt mir einen Arm um die Schultern und deutet auf die Stadt unter uns. Auf einmal verstehe ich, wieso es ihr so wichtig war, nach ganz oben zu kommen.
Alle diese Lichter wirken von hier oben wie ein Ballett von lauter Glühwürmchen. Die Neonschilder der Geschäfte, die Straßenlaternen, die Beleuchtung der öffentlichen Gebäude, die wenigen erleuchteten Fenster, all das verschmilzt zu einer einzigen großen Lichtquelle, die unendlich weit strahlt. Von oben gesehen wirken selbst die hässlichsten Dinge noch schön.
»Wenn du die Dinge nicht mehr ertragen kannst, dann musst du den Blickwinkel ändern«, flüstert Gina, als könnte sie Gedanken lesen.
Ich lege meinen Kopf an ihre Schulter, entspanne mich für einen Moment. Ich fühle mich gut.
Wir bleiben lange so sitzen und sehen zu, wie über der Stadt der Tag anbricht.
Gina, erinnerst du dich an Saïd?
Ich habe ihn nicht mehr kennengelernt, ich war damals noch nicht geboren. Aber du schon. Du warst zehn, als er gestorben ist. Stefano hat mir erzählt, dass du andauernd von ihm geredet hast, nachdem Papa ihn einmal mit zu uns nach Hause gebracht hatte, Papa mochte ihn gern.
Ein fieser Typ, dieser Saïd, meint Stefano. Er konnte nicht verstehen, was Papa und du an ihm fanden. Er sagt, er hätte Autos vom Supermarktparkplatz geklaut, ihm wäre nichts Besseres eingefallen, als armen Leuten Schwierigkeiten zu machen. Wenn das Autos von Reichen gewesen wären, dann hätte er das noch okay gefunden, aber doch nicht die Autos, die vor unserer Tür standen.
Und du, Gina, sagtest, das sei dir egal, du hättest kein Auto, ein Auto sei auch nur ein Gegenstand, die seien alle versichert, und insofern sei es dir schnuppe. Stefano sagte, dass du auf eine Art in ihn verschossen warst, wie das nur Kinder sein können. Ich habe nie so ganz verstanden, was er damit meinte. Unterscheidet Liebe sich denn je nach Alter?
Nachdem man ihn auf dem Parkplatz erwischt hatte, warst du bei seinem Prozess und hast wie seine Familie und seine Freunde vor Erleichterung laut aufgeseufzt, als der Richter ihn zu einer Bewährungsstrafe verurteilte. »Das ist Ihre letzte Chance, Monsieur Zahidi«. Was der Richter nicht wusste und ihr auch nicht, er hatte seine letzte Chance längst verspielt, denn nur wenige Wochen später war er tot, nachdem ihm jemand den Schädel mit einem Schlagstock eingeschlagen hatte.
Gina, wie war das, hast du geweint? Wolltest du mit den anderen zusammen auf die Straße gehen? Hättest du gerne aus Wut diese ganze beschissene Welt zusammengeknüppelt, so wie sie ihn zusammengeknüppelt hatten? Hat Papa dich daran gehindert?
Bereust du heute, dass du nicht dabei warst?
Und dieser Bulle, denkst du manchmal an ihn? Und hat es mit ihm zu tun, und damit, dass er frei herumläuft, mit dieser unendlichen Ungerechtigkeit, dass du nachts nicht schlafen kannst, dass du dieses Land verlassen hast, dass du die Füße nicht mehr hierher setzt?
Hast du uns in dieser ganzen Zeit vergessen?
Um zehn Uhr morgens erst kehren wir in die Wohnung zurück. Wir haben ewig oben auf dem Kran gesessen und vor uns hin geträumt und dabei die Zeit vergessen. Gabrielle und Zé sind bereits aufgestanden. Als ich beim Ausziehen der Jacke einen Hustenanfall bekomme, wirft mein Vormund Gina einen finsteren Blick zu.
»Wo wart ihr?«
»Auf einem Kran«, sagt meine Schwester.
»Auf einem … ist das dein Ernst?«
»Schon gut Zé, ich weiß, was ich tue.«
Man sieht ihm deutlich an, dass er da ganz anderer Meinung ist, aber er widerspricht ihr nicht. Er weiß, wie sehr ich meine Schwester liebe, das einzige Familienmitglied, das mich nicht ganz hat fallen lassen.
Die Erwachsenen trinken eine Melange, Zé hat extra Sahne gekauft, ich begnüge mich mit einem gepressten Orangensaft. Und dann widmen wir uns dem Baum und den darunter liegenden Päckchen. Zwei Geschenke für mich, eins von Zé und Gabrielle, eins von Gina. Das von Gina ist in Zeitungspapier mit einer fremden Schrift eingepackt. »Das ist Türkisch«, erklärt Gina.
Ich öffne das Päckchen vorsichtig, es kommt ein kleines Messer mit einer gebogenen Klinge zum Vorschein, ein Mittelding zwischen Klappmesser und Dolch, es hat einen schwarzen Griff mit goldener Prägung. Ich umarme meine Schwester. Das Geschenk ist mir im Grunde halb so wichtig, es spielt für mich keine Rolle, ob da etwas ungeheuer Wertvolles drin ist oder gar nichts, Hauptsache, sie hat sogar in der Türkei an mich gedacht.
Zé und Gabrielle schenken mir einen Geräuschverstärker. Er sieht aus wie eine Pistole mit einem Trichter obendrauf, wie diese Dinger, die man Hunden um den Hals macht, damit sie nicht an ihren Wunden lecken können. »Für die Vögel«, sagt Gabrielle.
»Oder die Menschen«, sagt Zé halb im Spaß.
Ich lächele. Er ahnt wohl, dass ich dieses Geschenk zweckentfremden und dazu nutzen könnte, ihre Gespräche zu belauschen. Ich hätte nicht gedacht, dass ihnen mein Interesse für Vögel aufgefallen ist. Das berührt mich. Ich umarme sie ebenfalls. Zé duftet nach Aftershave. Er hat sich zur Feier des Tages frisch rasiert.
Den ganzen Tag hoffe ich insgeheim, dass meine Mutter irgendwann doch noch auftaucht, als Überraschung schüchtern an die Tür klopft und murmelt:
»Hast du etwa gedacht, dass ich dich an Weihnachten im Stich lasse?«, aber sie kommt nicht.
Was soll’s. Ich habe Gina. Ich habe Zé, ich habe Gabrielle. Das muss reichen. Warum tut es das bloß nicht?
Nouria macht an Weihnachten keinen Urlaub. Sie sagt, ihre Patienten bräuchten sie um diese Zeit oft besonders dringend. Drei Tage nach Heiligabend ist sie wieder zur Stelle. Gina hat mich zur Praxis begleitet. Eigentlich wollte Zé mich bringen, aber sie wollte das unbedingt übernehmen, und ich wollte das auch gerne. Da war er beleidigt. Ist er womöglich eifersüchtig?
»Das Jugendamt hat mir einen kleinen Besuch abgestattet«, sagt Nouria.
»Echt? Scheiße.«
»Du wirst also misshandelt?«
Ich deute ein Lächeln an.
»Was meinst du?«
»Und du, Mattia?«
»Ich habe in vier Jahren eine Ohrfeige bekommen. Ich glaube, das überlebe ich.«
Sie lächelt auch, ihr besonderes Lächeln, bei dem das ganze Gesicht beteiligt ist. Wenn sie Kinder hat, müssen die echt glücklich sein. Alle, die regelmäßig mit ihr zu tun haben, müssen glücklich sein. Es sei denn, sie hebt sich ihr Lächeln für ihre Patienten auf. »Was wollten sie denn wissen?«, frage ich neugierig und rutsche dabei auf meinem Stuhl nach vorne. »Ob du bei Zé unglücklich wärst.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Dass Glück nicht allein von den Personen abhängt, mit denen man zusammenlebt.«
»Denkst du, es wäre besser, ich würde nicht bei ihm leben?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Und du, Mattia?«
»Du zuerst.«
»Ich kenne ihn nicht.«
»Ich auch nicht. Niemand kennt ihn. Er ist merkwürdig.«
»Du auch.«
»Aber ich kann mich noch verändern«, sage ich ohne große Überzeugung.
»Möchtest du dich verändern?«
»Weiß ich nicht.«
»Was würdest du gerne in deinem Leben verändern, wenn du könntest?«
Gute Frage. Ich denke nach. Ich denke wirklich nach. Wo soll ich da anfangen? »Erst einmal würde ich dafür sorgen, dass die Wege von Saïd und diesem Bullen sich nie gekreuzt hätten. Dann würde ich meinem Vater erklären, dass Illusionen nur in die Katastrophe führen können, so wie bei ihm. Sein Wahnsinn, den er seit frühester Kindheit als Saat in sich trug, ist dadurch erst so richtig aufgegangen und erblüht.«
»Seit frühester Kindheit?«, hakt Nouria ein.
»Anscheinend schon.«
»Wer hat das gesagt?«
»Das sagen doch alle über die Schizophrenie.«
Sie lächelt.
»Der Name ist so kompliziert wie die Krankheit.«
»Ich bin einer der wenigen, der das Wort richtig schreiben kann.«
»Aber das reicht nicht, um zu verstehen, was es ist.«
»Dann erkläre es mir.«
»Das kann ich nicht. Ich verstehe die Schizophrenie nicht, weder ich noch irgendein anderer Psychiater noch sonst irgendjemand, der nicht direkt davon betroffen ist. Vergiss, was man dir erzählt hat, Mattia. Man weiß nicht, woher das kommt. Man weiß nur, dass es bei manchen Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt ausbricht und bei anderen nicht. Den Rest kannst du vergessen. Du wirst keine zwei Psychiater finden, die dir die gleiche Definition liefern.«
Ich zögere ihr zu erzählen, was mir im Kopf herumgeht, seit ich im Alter von fünf Jahren die Unterhaltung der beiden Pfleger im Hinterhof der Orchideen-Station in der Charcot-Klinik mitbekommen habe. Aber ich weiß jetzt schon, was sie sagen wird. Sie meint es zu gut mit mir. Sie würde mir nicht die Wahrheit sagen, wenn diese mich verletzen könnte.
»Meine Schwester ist wieder da«, sage ich.
»Gina?«
»Ja. Wir sind auf einen der Kräne bei Verrières geklettert, das war schön.«
»Du magst deine Schwester sehr.«
»Ja.«
»Bleibt sie länger?«
»Ich weiß es nicht, ich hoffe.«
»Hast du ihr gesagt, dass du dir das wünschst?«
»Nein.«
»Sag es ihr.«
»Mache ich.«
Ich lüge. Das weiß sie. Sie lächelt traurig.
Als die Stunde um ist, begleitet sie mich in die Eingangshalle, und ich spüre, wie ihr Blick mir folgt, als ich zu Gina gehe, die gegenüber auf einer Bank sitzt und auf mich wartet, eine Zigarette im Mund, die Kälte scheint ihr nichts anzuhaben.
Meine Schwester hat so lange betont, wie wichtig es ihr sei, auszuschlafen, bis sie zu meiner großen Freude das Klappsofa im Wohnzimmer gegen eine große Matratze in meinem Zimmer tauschen durfte. Zé schien anfangs wenig begeistert von der Idee, aber ich habe ihn überzeugt.
So liegen wir nun gemeinsam wach, wenn wir nicht schlafen können. Zum Glück sind Ferien und ich muss nicht früh aufstehen. Ich gehe von Tag zu Tag später ins Bett. Wir reden nicht, aber wir schweigen gemeinsam. Das ist schon ein großer Unterschied.
In der Nacht nach meinem Termin bei Nouria beginnt sie ein Gespräch, während sie am Fenster eine Zigarette raucht und ich Eine Zeit in der Hölle von Rimbaud lese, eine Empfehlung von Zé. »Geht’s dir gut hier?«
Ich nicke und vergesse, dass sie mich nicht sehen kann, aber sie fragt nicht nochmal.
»Macht dir das keine Angst?«
»Was?«
»Du weißt schon.«
Ja, ich weiß, Zés psychiatrische Vergangenheit, Zé, der Mörder, wie ich gerne sage, wenn ich ihn verletzen will. Zé, der schon einmal jemanden getötet hat und sich mit Poesie betäubt, um nicht daran denken zu müssen, so wie andere sich mit Alkohol oder Heroin betäuben. »Nein, dir etwa?«
Sie antwortet nicht. Doofe Frage. Gina hat vor gar nichts Angst. Sie ist wie Zé. Sie vermeidet es, sich mit der Vergangenheit und der Zukunft zu beschäftigen. Sie versucht, sich nicht zu viele Fragen zu stellen. Sie macht einen Schritt nach vorn, bleibt stehen, macht einen Schritt zurück, das ist ihr egal, sie denkt nicht an morgen, weder an ihre Zukunft noch an meine. Wenn ich einmal groß bin, möchte ich auch so sein.
Es ist gefühlt eine Stunde vergangen, bis sie erneut etwas sagt. Sie hat ihre Kippe schon vor einer ganzen Weile in der Regenrinne ausgedrückt, aber das Fenster steht immer noch offen, Kälte macht sich im Zimmer breit. Ich habe eine Gänsehaut, sie nicht. Gina ist unbezwingbar. Das hat sie mir mal gesagt, als sie noch eine Jugendliche war. Unbezwingbar, Mattia. Sie sagte es mit solcher Überzeugung, dass ich es glaubte. Du bist auch unbezwingbar. Wie eine Mauer aus Stein. Wir hatten die gleiche Art, uns zu verteidigen. Nur, dass sie weg konnte und ich nicht. Nicht wie unsere Eltern. Un-be-zwing-bar, sprich es mir nach. Und anschließend ist sie auf und davon und dafür hasste ich sie. Ich mag sie nur, wenn sie da ist. Also nicht oft. »Ich mag ihn nicht besonders«, sagt sie.
»Zé? Warum?«
»Weil er mich auch nicht besonders mag.«
»Warum?«
»Weiß ich nicht.«
Ich überlege. Ich hatte es bisher vermieden darauf zu achten, aber es stimmt, Zé mag sie nicht. Er akzeptiert ihre Anwesenheit, weil er weiß, dass ich ihn verlassen würde, wenn er meine Schwester vor die Tür setzt. »Er ist eifersüchtig«, sage ich.
Sie lacht.
»Ich weiß, aber das ist kein Grund.«
»Sprich mit ihm.«
»Ich kann das nicht, mit Leuten reden. Kannst du das?«
»Nein.«
Sie schließt das Fenster und schlüpft unter die Decke.
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Sie hat niemandem Bescheid gesagt, bevor sie gegangen ist. Sie hat nur einen kleinen Zettel an den Kühlschrank geklebt: »Ich gehe, es tut mir leid, Gina.« Da habe ich zum ersten Mal gesehen, dass Mama auf eines ihrer Kinder wütend war. Ihre Wut war so groß, dass sie in der ganzen Wohnung zu spüren war bis in mein Zimmer hinein. Ich versteckte mich unter der Bettdecke, um nicht von ihr getroffen zu werden, ich sah sie schon wie eine vom Wind aufgepeitschte schwarze Welle über mir zusammenbrechen. Irgendetwas in mir drin geriet dadurch ins Wanken, aber ich fand keine Worte dafür. Mama sagte nichts. Wie immer beschränkte ihre Wut sich auf Blicke. Sie wollte sie für sich behalten, aber es ging nicht, so wie es ihr auch nie gelungen ist, ihre Traurigkeit vor uns zu verbergen. Es gibt Dinge, die zu groß sind, als dass man sie einsperren könnte.
Stefano sagte nichts. Ich auch nicht.
Am nächsten Tag war ein Gedeck weniger auf dem Tisch und wir gewöhnten uns daran.