Heute lesen wir ein Stück von Marivaux, in dem Aristokraten mit Domestiken über ihren Liebeskummer sprechen. Die Kluft zwischen dem wirklichen Leben und dem, was man sich den ganzen Tag lang in einem stickigen Klassenzimmer anhören muss, schnürt mir den Hals zu.
Um sechzehn Uhr dreißig will ich mich gerade zu Fuß auf den Nachhauseweg machen, da höre ich ein Hupen. Zé holt mich ab. Während der Fahrt sagt er kein einziges Wort. Mir fällt auf, dass er im Rückspiegel kontrolliert, wer hinter uns fährt. Aber niemand folgt uns. Er hält vorm Haus und dreht sich eine Zigarette. Der in Kringeln aufsteigende Rauch breitet sich im Wageninneren aus. Es kratzt im Hals, aber ich sage nichts. Er macht keine Anstalten auszusteigen.
»Sie wollen sie schon wieder einweisen«, sagt er. »Sie haben mich den ganzen Vormittag damit genervt, dass ich ihren verdammten Wisch unterschreiben soll. Das ist zwecklos. Du kannst jemanden, der sterben will, nicht davon abhalten. Wenn man sie unter Psychopharmaka setzen muss, damit sie ihre Selbstmordversuche stoppt, das bringt doch nichts. Was wollen sie denn eigentlich? Was macht es für einen Sinn, jemanden mithilfe von Tabletten zum Leben zu verdammen? Wenn das der Preis dafür ist, sollte man sie lieber gehen lassen.«
Aber das kannst du nicht.
»Sie wollen ihre Angehörigen ausfindig machen und sie dazu bringen, den Antrag auf Zwangseinweisung zu unterschreiben. Sie hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen. Was soll der Quatsch? Ich lebe mit ihr zusammen. Ich kenne sie besser als jeder andere. Ich weiß, dass es nichts ändert, wenn man sie in die Psychiatrie einweist. Aber sie vertrauen mir nicht. Sie wissen Bescheid.«
»Worüber wissen sie Bescheid?«
»Dass ich in Charcot war. Der Psychologe, der da war, hat da gearbeitet, ich habe ihn wiedererkannt und er mich auch, vermute ich. Deshalb denken sie, ich wäre voreingenommen. Oder sie wissen noch, warum ich dort war und schenken mir deshalb kein Vertrauen. Wenn du mal in der Psychiatrie warst, hört keiner mehr auf dich.«
Dann verfällt er wieder in sein übliches Schweigen, als wäre sein Vorrat an Worten damit verbraucht. Ich weiß nicht so genau, was ich dazu sagen soll. Wir bleiben noch eine Weile im Auto sitzen und atmen den Zigarettenqualm ein. Schließlich drückt er seine Zigarette im Aschenbecher aus.
»Ich sollte wirklich auf Menthol-Zigaretten umsteigen.«
Gabrielle schläft, in der Wohnung ist wieder Ruhe eingekehrt. Ich verspreche Zé, auf sie aufzupassen, während er im Laden ist. Nachdem er bereits wegen meines Fiebers gefehlt hat und dann noch letzte Nacht, kann er es sich nicht erlauben, nochmal zu Hause zu bleiben. Ich setze mich in die Küche mit Blick auf die Schlafzimmertür, sodass ich es sofort mitbekäme, wenn sie aufstehen würde. Ich versuche, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren, wir schreiben am nächsten Tag einen Verbentest und ich dekliniere den Satz »ich habe es satt« in sämtlichen Zeiten durch. Das hat was. Dass ich es sattgehabt hätte … Wie gut, dass jemand den Konjunktiv II erfunden hat, das ist die ideale Ablenkung von all dem Scheiß, der einen umgibt.
Um Mitternacht trinke ich einen von diesen Energydrinks, die Zé mir als Vorrat dagelassen hat. Er trinkt das Zeug bei seiner Arbeit hektoliterweise. Schmeckt gar nicht schlecht. Ich nehme mir noch ein, zwei davon aus dem Kühlschrank. Um zwei Uhr morgens bin ich dann bei meinem Vierten und fühle mich sehr seltsam. Mein Herz pocht bis in meine Schläfen und meine Fingerspitzen hinein. Ich lege den Stift zur Seite. Meine Hand zittert. Ich habe das Gefühl, mein Atem ist ohrenbetäubend laut.
Und in meinem Kopf
geht
alles durcheinander.
Ich gehe los.
Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, es ist mir auch komplett egal, in meinem Kopf dreht sich alles, ich fühle mich schlecht und würde mich am liebsten übergeben, aber ich laufe immer weiter. Ich sollte Zé im Laden anrufen, ihm sagen: »Tut mir leid, ich bin schon wieder krank«, aber der Drang weiterzulaufen, ist einfach stärker. Wenn ich anhalte, dann passiert etwas Schreckliches, das weiß ich. Außerdem musste ich raus, da drin war die Luft zum Schneiden und diese andauernde Stille zermalmte mich.
Ich komme zu dem friedhofartigen Gelände, das einst Verrières war und bereite mich innerlich darauf vor, mit Blick auf die Werbetafeln alles herauszukotzen, was mein Magen hergibt, aber, kleine Überraschung: Während der Sperrstunde, wie von Geisterhand, war die Werbetafel mit blutroter Farbe bemalt worden und jemand hatte darauf geschrieben: »HIER HABEN DIE ORDNUNGSKRÄFTE SAÏD GETÖTET.« Und schon waren die Morgen nicht mehr ganz so grau.
Ich bleibe vor diesem wie von Zauberhand verwandelten Plakat stehen und sehe Sterne. Meine Übelkeit lässt etwas nach, aber mein Herz pocht jetzt bis in meine Lippen hinein.
GINA. Der dritte Tag der Unruhen: Den Bullen ist es gelungen, zwanzig Personen in einer Sackgasse einzukesseln. Sie sind mit lauter Kastenwagen gekommen, um sie mitzunehmen. Ich bin mit Papa auf die Straße runtergegangen. Fast alle waren draußen und sahen dabei zu, aber niemand konnte sie daran hindern. Diejenigen, die den Mumm hatten, sich den Bullen entgegenzustellen, waren entweder bereits im Knast oder in dieser Sackgasse gefangen. Journalisten waren auch da. Ein Kameramann und einer, der in sein Mikrofon sprach. Ich erinnere mich nicht mehr, für welchen Fernsehkanal sie arbeiteten. Sie richteten die Kamera auf mich, hielten mir das Mikrofon hin, grinsten dabei dämlich, während direkt neben ihnen gerade zwanzig Personen verhaftet wurden.
Sie fragten: »Wie heißt du?«
Ich sagte nichts. Sie fragten: »Wohnst du hier?« Ich sagte: »Ja.« Sie fragten mich, ob ich Angst hätte, ich sagte: »Ja.« Sie fragten, ob es wegen der Unruhen sei, ich sagte: »Nein, wegen der Bullen.« Da warfen sie sich komische Blicke zu. Sie fragten, warum ich denn Angst vor den Polizisten hätte. Ich zeigte auf die Leute, die dazu gezwungen wurden, in den Streifenwagen zu steigen, und auf jene, die mit ausgebreiteten Armen mit dem Gesicht zur Wand standen und von Händen in Gummihandschuhen heruntergedrückt wurden. Einem von ihnen schoss Blut aus der Schläfe, er hatte einen Schlag mit dem Gummiknüppel abbekommen, aber der Lichtkegel der Kamera fing solche subtilen Details nicht ein.
Ich sagte ins Mikro: »Warum ich Angst vor ihnen habe? Weil ich Angst vor Menschen habe, die andere töten, wie diese Bullen hier.«
Sie nahmen alles auf, aber sagten nichts dazu. Es lief nie im Fernsehen. Dafür zeigten sie die Bilder, die sie vorher aufgenommen hatten: den Schein der Flammen auf meinem engelhaften Gesicht, die Angst in meinen Augen, ein süßes, kleines Mädchen, dem die Chaoten mit ihrer Wut Angst einjagten.
Man darf den Bildern nicht trauen, Mattia. Tu das bloß nicht. Diese Journalisten leben in einer anderen Welt. Sie haben keine Ahnung, in welchem Maße sie unwissend sind.
Und als ich diese Bilder da sah, verstand ich mit meinen gerade mal zehn Jahren, Mattia, dass es keine andere Lösung gibt, als alles abzufackeln. Papa hatte sich getäuscht. Das hat ihn letztendlich umgebracht, dass er sich so unendlich getäuscht hat. Er hätte nicht dazu aufrufen dürfen, Ruhe zu bewahren. Das war eine Beleidigung, und zwar nicht nur in Gedenken an Saïd, Mattia, sondern eine Beleidigung für uns alle.
Eines Tages, wenn du mehr Lebenserfahrung hast, wirst du das verstehen. Ich werde es dir jedenfalls immer und immer wieder erklären, bis du es verstanden hast. Ich werde nicht zulassen, dass du wirst wie sie.
Alles dreht sich.
Ich krümme mich zu Füßen der riesigen Baustelle zusammen, erbreche meinen gesamten Mageninhalt. Danach geht es mir etwas besser. Ich lege mich mit angezogenen Knien in Embryostellung auf den Boden. Ich glaube, ich rufe sogar leise nach meiner Mutter. Und dann schlafe ich ein.
Als ich aufwache, blendet mich ein heller Lichtkegel.
»He, Kleiner, he, Kleiner, hörst du mich?«
»Nimm die Lampe runter, du machst ihm Angst.«
»Hast du das da gemacht, du kleiner Idiot?«
»Lass gut sein, er ist noch ein Kind.«
»Glaub mir, er wäre nicht der Erste. Wenn du diesen Job ein paar Jahre gemacht hast, fällst du nicht mehr so leicht auf jemanden rein.«
»Okay, dann ist er also ganz allein auf die Werbetafel geklettert, hat da sein Ding gemacht, ist wieder runtergestiegen, hat noch kurz die Spraydosen versteckt und sich dann hier zum Schlafen hingelegt? Und dann hat er auch noch gekotzt. Sieh dir das an, das ist ja ekelhaft.«
Diese beiden verstanden offenbar nichts von der subtilen Kunst des Schweigens.
Langsam wird das blendende Licht schwächer. Jemand streckt mir eine behandschuhte Hand hin, die ich instinktiv nicht ergreife, denn am Ende dieser Hand ist eine marineblaue Uniform mit einem Abzeichen, auf dem Police Nationale steht, was aller Erfahrung nach nichts Gutes bedeutet.
An meinem Kinn und zwischen meinen Zähnen klebt noch Erbrochenes. Ich rappele mich von alleine hoch, stehe schwankend da und spucke einmal aus. Dabei achte ich peinlichst darauf, nicht die Stiefel der Bullen zu treffen. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre erneut hingesegelt. Einer von den beiden packt mich am Arm.
»Langsam, langsam!«
Ich will nicht, dass er mich anfasst, aber ich sage nichts. Ich wische mir mit dem Ärmel die säuerlich riechende Flüssigkeit von den Wangen. Ich glaube, das Zeug klebt sogar in meinen Haaren. Wenige Meter entfernt parkt ein Polizeiauto. Der zweite Bulle strahlt mit einer Taschenlampe die Werbetafel der Immobilienfirma an. Dort prangt noch immer das Graffito, erhebt sich majestätisch über dem Schutthaufen, der sich an der Stelle befindet, wo einst die Häuser standen. Ein letzter, hübscher Farbtupfer inmitten von Ruinen. Wie sind sie da bloß hochgekommen? Bestimmt waren sie zu mehreren. Vermutlich haben sie eine Leiter zu Hilfe genommen. Da drum herum kaum noch jemand wohnt, konnte sie auch niemand verpfeifen.
Ich muss unwillkürlich an meine Schwester denken, aber das ist nicht ihre Handschrift. »Wie alt bist du?«, fragt der erste Bulle, der mich seinem Kollegen gegenüber in Schutz genommen hat.
Ich antworte nur widerwillig. Er fragt nach meinem Namen. Darauf antworte ich nicht. Er wiederholt die Frage und betont dabei jedes Wort. Ich schüttele den Kopf. Ich denke an Zé, an Gabrielle, an das Jugendamt. Ich sollte jetzt in meinem Bett liegen. Was passiert, wenn das Familiengericht erfährt, dass die Bullen mich hier so gefunden haben, ganz allein, in meiner eigenen Kotze liegend, etliche Kilometer von unserer Wohnung entfernt.
»Bist du krank? Hast du Alkohol getrunken?«
»Krank«, sage ich, und bemühe mich, einen besonders schwachen Eindruck zu machen.
»Und deine Eltern?«
»Wo sind deine Eltern?«
»Wohnst du hier?«, fragen sie und deuten auf das Gebäude, das noch steht, also das, in dem meine Mutter wohnt.
Mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte, um aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen. Also fordern sie mich auf, ins Auto zu steigen, und bringen mich ins nächstgelegene Kommissariat. Ich mache noch nicht mal den Versuch, dagegen zu protestieren. Die einzige Verteidigungsstrategie, die mir im Moment einfällt, ist mich dumm zu stellen.
Meine Klamotten stinken nach Erbrochenem. Sie sparen sich einen Kommentar dazu, öffnen aber die Autofenster.
Auf der Wache fordern sie mich auf, in einem Warteraum Platz zu nehmen, in dem außer mir nur noch ein Paar ist, das sich lautstark streitet. Einer der beiden Bullen bleibt bei mir, während der andere in irgendeinem Gang verschwindet. Der Mann und die Frau schreien sich an, weil ihr Sohn bei einem Einbruch gefasst wurde. Ich höre ihnen zu, das lenkt mich von meiner eigenen Situation ab, doch dann wird mir schlagartig klar, dass ich mir lieber ganz schnell eine Erklärung ausdenken sollte.
Ich frage, ob ich zur Toilette gehen darf. Der Bulle willigt ein, begleitet mich aber bis vor die Klotür. Ich pinkele noch nicht mal. Es war nur ein Vorwand, ich wollte versuchen zu verduften, bevor sie meinen Namen herausfänden. Aber offensichtlich sind sie nicht auf den Kopf gefallen.
Als das Paar mich bemerkt, neben mir der Bulle, der nicht von meiner Seite weicht, hört es auf zu streiten. Beide blicken mich neugierig an, wagen aber nicht die Frage zu stellen, die ihnen so auf den Nägeln brennt. Die Frau lächelt mir aufmunternd zu, wenn auch etwas streng, sie scheint mich zu bedauern.
Ich habe hier nichts verloren, verdammt, ich bin erst elf.
An der Wand mir gegenüber hängt ein Plakat, auf dem ein Mädchen zu sehen ist, das einen Arm in einer Schlinge trägt und einen Bluterguss auf der Wange hat, darunter steht eine Notrufnummer für Kindesmisshandlung. Es gibt einen Getränkeautomaten und eine große Uhr: sechs Uhr morgens. In einer Stunde kommt Zé nach Hause. Und ich schreibe heute meinen Konjugations-Test. Wenn ich den nicht bestehe, werden wir wieder einbestellt.
Schließlich kommt der Bulle zurück und bringt mich in ein Büro, in dem ein anderer Polizist in Zivil wartet. Er lächelt und bietet mir einen Stuhl an. Er hat einen Kaffeefleck auf dem Kragen seines gestreiften Hemdes, tippt auf einer Computer-Tastatur herum und redet dabei mit mir:
»Wie heißt du?«
Ich schweige. Das hätte ich von Anfang an tun sollen, mich als Taubstummen oder als Ausländer ausgeben. Da habe ich nicht schnell genug geschaltet. Er beugt sich zu mir herüber:
»Verstehst du, was ich sage?«
Und dann:
»Bist du denn wenigstens Franzose?«
Schließlich bringt er mich in den Warteraum zurück, stellt einen Bullen, der scheinbar nichts Besseres zu tun hat, zu meiner Bewachung ab, und geht davon, Verstärkung holen, welcher Art auch immer.
Mir fällt ein Raum mit einer Glasfront auf, dahinter erkennt man Schreibtische. Vorhin war da noch niemand zu sehen. Aber nun ist eine ganze Ladung Bullen eingetroffen. Sie stehen herum, unterhalten sich mit einem Kaffeebecher in der Hand. Das erinnert mich an den Raum in der Psychiatrie, in dem sie sich so beschäftigt geben, um nicht gestört zu werden.
Da sehe ich auch den Beamten mit dem gestreiften Hemd, er redet mit seinen Kollegen hinter der Scheibe. Jetzt starren einige von ihnen neugierig zu mir herüber. Selten habe ich mich so unwohl gefühlt. Schließlich kommt das Gestreifte Hemd wieder und nimmt mich mit in den Raum.
»Ja, ich glaube das ist er«, sagt ein Mann in Zivil, den ich noch nie gesehen habe. Er hat vorstehende Schneidezähne. »Wie heißt er?«
»Keine Ahnung, irgendwas Arabisches. He, Bertrand, weißt du noch, wie der Familienname des Sozialarbeiters aus dem Stadtteilzentrum von Verrières war?«
Offenbar ein heikles Thema, denn alle halten kurz in ihren Gesprächen inne und glotzen mich an. Was würde ich dafür geben, jetzt wo anders zu sein.
»Younès«, sagt der Typ namens Bertrand.
Das Gestreifte Hemd beugt sich zu mir rüber:
»Ist das dein Nachname, Younès?«
»Nein«, sage ich, und lüge noch nicht mal.
»Sieh mal an, du kannst also doch Französisch. Okay, hast du die Telefonnummer von deiner Mutter?«
»Er hat einen Vormund«, sagt der Bulle, der mich wiedererkannt hat, keine Ahnung wie. »Such mal nach einem gewissen Zéphyr Palaisot.«
Das Gestreifte Hemd lacht:
»Zéphyr, ist das dein Ernst?«
Aber ja, so heißt Zé. Verständlich, dass keiner ihn bei seinem richtigen Namen nennt. »Palaisot wie der Staatsanwalt?«, fragt der gleiche Bulle.
»So ist es, gleiche Familie, der Sohn wäre doch fast mal für den Mord an einer Mitschülerin verurteilt worden, in Paris, erinnerst du dich?«
Auf einmal umringen sie uns alle. Ich komme mir vor wie im Zoo, das Interesse gilt jedoch nicht mir, sondern dem Bullen mit den Schneidezähnen, als wäre er der Märchenonkel.
Ich lausche nun auch. Der Polizist sagt, er hätte die Familie des toten Mädchens gekannt und den Fall aus nächster Nähe mitbekommen, auch wie Zé das Sorgerecht für mich beantragt hat. Deshalb konnte er mich auch so leicht identifizieren.
»Und warum läuft dieses Arschloch noch frei herum?«, fragt ein anderer laut.
Der Bulle lacht hämisch.
»Na, weil er Palaisot heißt. Es ist manchmal von Vorteil, wenn man einen Staatsanwalt zum Vater hat und die Mutter am Berufungsgericht arbeitet. Nur darum konnte er als Mörder überhaupt der gesetzliche Vormund dieses Jungen werden.«
Ich würde ihnen am liebsten sämtliche Flüche an den Kopf werfen, die ich kenne, ihnen vor die Füße spucken, dieses Scheißkommissariat in Brand stecken und mich vom Acker machen. Ich mache dir nie wieder irgendwelche Vorhaltungen, Zé, versprochen, aber ich flehe dich an, hol mich hier raus. Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand ihn als Mörder bezeichnet. Zwar sage ich das selbst ab und zu, aber nur, wenn ich richtig sauer auf ihn bin, weil ich weiß, dass ich ihn damit treffen kann. Denen hier hat er doch nichts getan. Sie sollen sich gefälligst um ihre eigenen Probleme kümmern.
Alles abfackeln, hat Gina mal zu mir gesagt. Das verstehst du erst, wenn du etwas mehr Lebenserfahrung hast. Vielleicht wollte sie damit sagen, wenn du dich mit ihnen angelegt hast, denn jetzt verstehe ich ein bisschen, was sie meint.
»Gut«, sagt das Gestreifte Hemd.
Er blickt mich an.
»Gibst du mir jetzt die Nummer?«
Was bleibt mir anderes übrig, in meiner Lage? Ich leiere die zehn Zahlen herunter und habe dabei das Gefühl, Zé zu hintergehen. Der Bulle zieht sich zum Telefonieren in einen Nebenraum zurück und ich warte zusammen mit seinen Kollegen. Sie haben die Güte, nicht mehr über die Vergangenheit meines Vormunds oder die meines Vaters zu sprechen, mustern mich aber weiterhin verstohlen. Ich bete, dass man mich so schnell wie möglich gehen lässt. Wie schlimm muss es erst sein, wenn man in Gewahrsam kommt.
Das Gestreifte Hemd lässt sich nicht mehr blicken. Irgendwann kommt eine Frau zu mir und nimmt mich in einer Ecke des Zimmers beiseite. Sie hat blonde Haare mit grauen Strähnen, ein schmales Gesicht und wirkt sehr mitfühlend. Eigentlich ist sie ziemlich sympathisch, das tut mir gut, trotzdem beantworte ich ihre Fragen nicht. Da fängt sie an, mir lustige Geschichten zu erzählen. Ich muss lächeln und entspanne mich ein wenig.
Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, aber irgendwann klopft jemand gegen die Scheibe. Als ich mich umdrehe, sehe ich Zé. Er lächelt mir zu, das erste ehrliche Lächeln seit ewigen Zeiten, habe ich das Gefühl. Dabei bin ich doch seit höchstens zwei Stunden hier. Ich kann nicht mehr.
Kurz darauf sitzen Zé und ich dem Bullen mit dem gestreiften Hemd und dem Bullen mit den Schneidezähnen gegenüber. Endlich kann er seine Aussage vervollständigen. Zé ist ein wenig gesprächiger als ich, aber wirklich nur ein wenig. Sein Lächeln ist verschwunden. Man kann sogar sagen, dass er einen ziemlich genervten Eindruck macht.
Gestreiftes Hemd: »Name, Vorname?«
Zé: »Zé Palaisot.«
Gestreiftes Hemd: »Beruf?«
Zé: »Wachmann.«
Schneidezahn: »Und das Kind?«
Zé: »Er ist in der fünften Klasse.«
Schneidezahn: »Ich meinte den Namen.«
Zé: »Lorozzi, Mattia.«
Gestreiftes Hemd: »Heißt er nicht Younès?«
Zé: »Er trägt den Namen seiner Mutter.«
Gestreiftes Hemd: »Ist Mattia nicht ein Mädchenname?«
Schweigen.
Zé: »Das wollen Sie jetzt nicht ernsthaft in Ihr Protokoll schreiben?«
Schneidezahn: »Dein Mündel wurde heute früh um fünf Uhr fünfundvierzig Uhr aufgefunden, mitten auf der Straße, halb ohnmächtig und ganz offensichtlich krank.«
Schneidezahn: »Musst du nicht zur Schule, Kleiner?«
Zé: »Wir haben noch genug Zeit.«
Gestreiftes Hemd: »Und mal von der Schule abgesehen, wie erklären Sie sich, dass er nicht in seinem Bett lag?«
Zé: »Ich habe keine Ahnung.«
Gestreiftes Hemd: »Wenn Sie nachts arbeiten, wer passt dann auf ihn auf?«
Zé: »Meine Freundin.«
Gestreiftes Hemd: »Wie lautet ihr Name?«
Zé: »Gabrielle Dubreuil.«
Ich werfe ihm einen schnellen Blick zu. Das ist nicht ihr echter Name. Aber ich bin so geistesgegenwärtig mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Der Bulle notiert alles, er hat nichts mitbekommen. Aber Schneidezahn mustert Zé auf eine eingehende Art, die mir nicht sonderlich gefällt.
Bei der Adresse gibt mein Vormund zwar die richtige Straße an, aber nicht die richtige Hausnummer. Ich frage mich langsam, was das soll. Als der Bulle mit den Schneidezähnen mich auf einmal fragt, warum ich nicht in meinem Bett lag, zucke ich zusammen. Nachdem sie mich eine Weile ignoriert hatten, hatte ich fast vergessen, dass ich körperlich anwesend war. Ich blicke hilfesuchend zu Zé, doch der zeigt keinerlei Reaktion, nach dem Motto: »Das musst du jetzt selber ausbaden.« Ich vermute, er stellt sich die gleiche Frage.
Ich auch, um ehrlich zu sein. Mit gesenktem Blick rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her. Ich tue mich immer schwer damit, Autoritätspersonen – ob nun Schuldirektorin oder Bulle – in die Augen zu sehen. »Ich war krank.«
»Du warst krank«, wiederholt das Gestreifte Hemd. »Und wenn du krank bist, spazierst du ganz allein um fünf Uhr morgens durch die Gegend.«
»Ich war nicht … ich … ich hatte eins von diesen Dingern getrunken, die einen am Schlafen hindern.«
»Eins von den Dingern, die einen am Schlafen hindern.«
»Ich weiß die Marke nicht mehr.«
»Die trinke ich immer vor der Arbeit«, schaltet Zé sich netterweise ein, (das fällt dir ja früh ein, du Verräter!). »Die Dosen sind im Kühlschrank, aber er ist da zum ersten Mal drangegangen. Ich hatte dich für vernünftiger gehalten, Mattia.«
Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. Gestreiftes Hemd schreibt alles ungerührt auf. Sein Kollege sitzt auf der Heizung, die Arme vor der Brust verschränkt, eine klare Demonstration seiner Macht. Zé wirkt trotz seiner Größe neben ihnen klein.
Eine kurze Stille tritt ein, dann fragt der Polizist, der mich erkannt hat:
»Bist du vor irgendetwas abgehauen?«
Er sieht mich prüfend an. Er hat helle Augen, die einen leicht verunsichern. Ich weiche seinem Blick aus und starre auf meine Füße.
»Nein, warum?«
»Dann vor irgendjemandem?«
»Nein …«
Ich frage mich, worauf er eigentlich hinauswill. Ich suche Zés Blick, der ebenfalls zu Boden schaut. Seine zu Fäusten geballten Hände liegen auf seinen Schenkeln, sein Rücken und seine Schultern sind angespannt. »Sicher nicht einfach, mit einem Mörder zusammenzuleben«, sagt der Bulle schließlich.
Gestreiftes Hemd wirft ihm einen Blick zu, den ich nicht entschlüsseln kann. Zé hebt den Kopf.
»Wie bitte?«, murmelt er.
»Du hast genau gehört, was ich gesagt habe. Du wärst längst im Knast, wenn deine Alten nicht bei Gericht wären.«
»Das ist ja wohl hier nicht das Thema, oder?«, gibt mein Vormund zurück und bleibt erstaunlich ruhig.
Das sieht das Gestreifte Hemd offenbar genauso, er tut so, als würde er sich ganz auf seinen Bildschirm konzentrieren, um sein Unbehagen zu verbergen, aber die Blicke, die er zwischendurch seinem Kollegen zuwirft, sprechen Bände. »Nein, hier geht es darum, dass dein Mündel allen möglichen Quatsch anstellt und du für ihn verantwortlich bist«, antwortet der Bulle mit den Schneidezähnen. »Das alles wundert einen nicht, wenn man bedenkt, dass du direkt aus dem Irrenhaus kommst, wo du eigentlich auch hingehörst. Aber glaub mir, die Sache kommt vors Familiengericht. Dieses Kind wäre sehr viel besser in einer Pflegefamilie aufgehoben.«
»Okay«, sagt Zé.
Er wendet sich an das Gestreifte Hemd und ringt sich ein Lächeln ab. »Sind wir dann fertig? Ich möchte nicht, dass Mattia heute die Schule versäumt.«
Draußen schlägt er mir mit der flachen Hand auf den Nacken, es tut nicht wirklich weh, aber hat etwas Demütigendes.
»Vielen Dank, dass ich das erleben durfte.«
»Nicht meine Schuld, wenn du bei ihnen kein Stein im Brett hast«, murmele ich und reibe mir den Nacken.
Wir steigen ins Auto. Er dreht sich mit zitternden Fingern eine Zigarette. Er will gerade losfahren, da stoppe ich ihn. »Ich habe meine Jacke im Kommissariat vergessen.«
»Ich setze da keinen Fuß mehr rein.«
Das Arschloch lässt mich alleine gehen. Zum Glück laufe ich im Warteraum keinem Bullen über den Weg. Meine Jacke hängt über einer Stuhllehne. Ich klemme sie unter den Arm und will endgültig verschwinden … bremse aber im nächsten Moment ab, als ich hinter der Scheibe ein Gesicht sehe.
Der Typ hat eine Tasse Kaffee in der Hand und spricht mit der Frau, die mir die Witze erzählt hat. Er ist in Zivil, schwarzer Pulli, braune Hose, völlig unauffällig. Er ist um die vierzig und hat einen Stiernacken. Den Kerl habe ich schon mal gesehen. Das ist der, der Gina und mir in die Bibliothek gefolgt ist und vor der Schule auf mich gewartet hat. Vermutlich saß er auch am Steuer des Wagens, der uns beschattet hat.
Ein Bulle also. Gestern hätte ich das noch beruhigend gefunden. Heute wäre mir ein Gangster tatsächlich lieber gewesen.
Ich verberge meinen Kopf unter meiner Jacke, bücke mich und durchquere den Warteraum mehr oder weniger auf Knien, bis ich an der Tür bin und ungesehen verschwinden kann. Draußen springe ich schnell ins Auto, in der Hoffnung, dass er mich nicht gesehen hat.
Ich sage zu Zé: »Muss ich wirklich in die Schule?«
»Ja, und sei es nur zur Strafe. Du solltest auf Gabrielle aufpassen.«
»Die Typen, die uns verfolgen, das sind Bullen.«
Er verzieht keine Miene. Er fragt mich nicht, woher ich das weiß, und da wird mir klar, dass er es von Anfang an wusste.
Ich bin es ehrlich leid, dass man alles, was wichtig ist, vor mir verbirgt.