Nach unserem Besuch auf dem Kommissariat waren unsere Beschatter verschwunden. Ich vermute, der Grund für die Beschattung hatte sich erledigt, sie kannten jetzt unsere Adresse oder zumindest die Straße und unseren Familienstand. Immer wenn ich versuche, Zé auf die Bullen anzusprechen, wechselt er schnell das Thema.
Inzwischen schlafe ich nachts kaum noch, aus Angst, das Ding könnte erneut auftauchen. Aber da niemand außer mir es gesehen hat, halten sie es nach wie vor für einen wiederkehrenden Alptraum. Ich weiß, dass das nicht stimmt. Schließlich kann ich Traum und Realität noch unterscheiden, oder zumindest weiß ich, ob ich wach bin oder schlafe.
Sie bieten mir an, bei ihnen zu schlafen. Das lehne ich ab. Ich bin doch kein Kleinkind mehr. Noch nicht mal als ich klein war, habe ich im Bett meiner Eltern geschlafen, also werde ich jetzt nicht damit anfangen.
Stattdessen sitze ich nachts mit Gabrielle vor dem Fernseher. Ihre Gegenwart hat eine leicht beruhigende Wirkung auf mich, sodass ich mir ein, zwei Stunden Schlaf pro Nacht zusammenklaube. In der Schule nicke ich dann regelmäßig ein. Ich empfinde jede einzelne Unterrichtsstunde als Qual, aber ich halte durch. Meine Angst vor dem Familiengericht ist einfach zu groß.
Zé und Gabrielle sind ungewohnt fürsorglich. Sie fragt mich immer wieder, was ich empfinde, wenn das Ding kommt. Aber ich möchte nicht mehr darüber reden und sage nichts dazu, bis sie es schließlich aufgibt.
Und er will andauernd wissen, ob ich irgendetwas brauche. Ich habe das unangenehme Gefühl, sie meinen, ich würde damit nur ihre Aufmerksamkeit erregen wollen. Als wäre dieser Horror jede Nacht für mich das reine Zuckerschlecken …
Mama sagte immer: »Probleme hassen Einsamkeit, wenn eins auftaucht, kannst du sicher sein, dass es seine Freunde im Schlepptau hat.« Wie bei vielen ihrer Sprüche sollte sich auch dieser bewahrheiten.
Das nächste Problem tritt in diesem Fall in Form eines Briefumschlags auf, der den Absender des Gerichts trägt. Zwei Wochen nachdem das Ding das erste Mal erschienen ist, findet Zé ihn im Briefkasten. Wir kommen gerade von der Schule nach Hause. Ich nehme mir in der Küche eine Schale Frühstücksflocken, während er seine Post durchgeht. Dabei hat er diesen typischen Gesichtsausdruck, das Behördenchinesisch hat er noch nie verstanden.Während er den Brief auseinanderfaltet, wirft er mir einen alarmierten Blick zu. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Er tut so, als wäre er ganz in die Lektüre versenkt und versucht dabei, mit der anderen Hand unauffällig den Briefumschlag zu verbergen. Falls er vorhatte, mich nicht zu beunruhigen, ist ihm das gründlich missglückt.
Nachdem er fertig gelesen hat, knüllt er den Zettel zu einer kompakten Kugel zusammen und zielt auf den Mülleimer, sie landet einen Meter daneben. »Was gibt’s?«, ächze ich.
Er antwortet nicht. Ich nehme mir die Kugel, ziehe sie auseinander und glätte sie. Der Brief enthält nur wenige Sätze. Zé und ich müssen in einem Monat vor dem Familiengericht erscheinen. In der Zwischenzeit können wir uns auf einen Besuch vom Jugendamt gefasst machen, das dem Gericht vor der Anhörung Bericht erstatten wird.
Wir schauen uns an, Zé hebt fragend die Hände. Damit war zu rechnen. Aber das ändert nichts daran, dass wir nicht wissen, was wir nun tun sollen.
»Wir müssen unbedingt deine Mutter erreichen«, sagt er.
Ich nicke zustimmend. Auch wenn ich weiß, dass da eine Menge Ärger auf uns zukommt, kann ich mich nicht wirklich darüber aufregen. Ich möchte nur noch schlafen.
»Du hattest mit dem Richter doch schon zu tun, als du meine Vormundschaft beantragt hast«, erinnere ich ihn. »Wie hast du es denn da gemacht?«
Er spricht so leise, dass ich an ihn heranrücken muss, um seine Antwort zu verstehen.
»Meine Eltern haben mir geholfen.«
Da kann ich mir nur schwer ein Grinsen verkneifen, Zé, das verwöhnte Gör reicher Eltern, hat eben noch nie irgendetwas alleine hinkriegen müssen.
Das Ding prescht heute Nacht erneut auf mich zu, aber verschwindet genauso schnell wieder, wie es gekommen ist. Nachdem es weg ist, um Punkt zwei Uhr nachts, stehe ich auf, stopfe eine große Portion Gratin in mich hinein, das noch von gestern in der Küche steht, und verbringe den Rest der Nacht mit dem Versuch, dieses Wesen, das mir die Luft abschnürt, zu zeichnen. Ich schließe die Augen, um mich besser konzentrieren zu können, aber ich kann mich einfach nicht an sein Gesicht erinnern. Mir kommt es so vor, als hätte ich es im entscheidenden Moment zwar kurz gesehen, aber sein Aussehen sofort wieder vergessen, wie einen Alptraum, der nach dem Erwachen schnell verblasst.
Gabrielle schläft, Zé arbeitet. In der Wohnung herrscht absolute Stille. Noch nicht mal die Nachbarn machen irgendein Geräusch. Das ist schon sehr beängstigend.
Als Zé nach Hause kommt, findet er mich in der Küche vor, todmüde starre ich auf das Blatt Papier, das vor mir auf dem Küchentisch liegt, um mich herum stapeln sich Blätter, auf die furchterregende Monster gekritzelt sind. Ihm fällt vor Schreck die Kippe aus dem Mund. Er bückt sich, um sie aufzuheben, und stößt dabei einen tiefen Seufzer aus.
»Zieh dich an, wir müssen los.«
Ich bin so fix und fertig, dass ich nicht die Kraft habe, ihn zu fragen, wo wir hinfahren. Für die Schule ist es noch zu früh. Während ich mir was Ordentliches anziehe, schaut Zé sicherheitshalber nach Gabrielle, dann bugsiert er mich ins Auto. Wir fahren Richtung La Solaire. Erst denke ich, wir fahren zu seinen Eltern, aber er hält erneut vor der Villa meines Bruders.
Stefano sitzt in seinem weitläufigen Haus bei einem Kaffee. Während er Zé immerhin mit einem Ohr aufmerksam lauscht, konsultiert er seinen Handy-Kalender. Zé hält sich nicht lange mit irgendwelchem Vorgeplänkel auf. Er nennt sogleich die wichtigsten Stichwörter: Anhörung, Familiengericht, Vormundschaft, deine verschwundene Mutter. Nach zwei Sätzen unterbricht der Chirurg ihn.
»Und inwiefern kann ich dir da helfen?«
»Wir können deine Mutter nicht erreichen und ich brauche Leumundszeugnisse, Leute aus Mattias Umfeld, die bezeugen, dass ich ihn gut erziehe, damit ich das Sorgerecht behalte.«
»Wieso ist das denn überhaupt infrage gestellt?«
Zé verzieht das Gesicht.
»Das zu erklären, würde zu lange dauern. Aber es ist nicht meine Schuld.«
»Nicht deine Schuld …?«
»Nicht meine Schuld.«
»Leumundszeugnisse?«
Endlich blickt mein Bruder von seinem Handy auf.
»Und wie soll ich das bitte anstellen?«
»Wieso?«
»Ich kann nicht behaupten, dass ich dich als Vormund oft in Aktion gesehen hätte.«
Zé lächelt ihn breit an.
»Kein Wunder, Mattias Erziehung geht dir ja auch am Arsch vorbei. Was denkst du wohl, wo er landet, wenn ich das Sorgerecht verliere? Im Heim oder bei wildfremden Menschen, wenn niemand aus deiner Familie sich um ihn kümmern will, und das ist ja leider der Fall.«
»Kurz gesagt, ich soll irgendwas erfinden.«
»Ich brauche dein Chirurgen-Renommee, Ärzte gelten doch grundsätzlich als vertrauenswürdig.«
»Stimmt«, sagt mein Bruder.
»Also bist du einverstanden?«
Kurz herrscht Stille.
»Okay«, sagt Stefano schließlich und reicht Zé über den Tisch hinweg die Hand. »Noch etwas Kaffee?«
»Gerne.«
Daraufhin verfallen sie beide wieder in Schweigen. Jetzt müsste ich eigentlich in der Schule sein, denn der Unterricht beginnt, aber ich sage nichts. Ich schlürfe meinen Traubensaft, während die Erwachsenen ihren Gedanken nachhängen. Ein Schwarm krächzender Krähen lässt sich auf dem Wipfel einer Kiefer nieder. »Ich schicke dir das morgen per Post«, sagt mein Bruder. »Hast du einen Anwalt?«
»Noch nicht.«
»Soll ich dir einen suchen?«
»Das schaffe ich schon, danke.«
»Und du, Mattia, geht’s dir gut?«
Ich sage nichts, sehe ihn noch nicht mal an. Ich versuche, die Krähen zwischen den Zweigen zu finden. Zé antwortet an meiner Stelle. »Nicht so besonders. Er schläft sehr schlecht. Er hat das Gefühl, dass …«
»Das geht ihn nichts an!«, unterbreche ich ihn.
Mein Vormund bricht ab. Stefano mustert mich intensiv, kippt seinen Espresso runter und steht auf. »Ich muss in einer halben Stunde im Krankenhaus sein.«
Er begleitet uns zum Auto. Zé und er geben sich zum Abschied die Hand, aber er will noch etwas loswerden.
»Ich glaube, ich weiß, woher dein Schlafproblem kommt, Mattia.«
»Und zwar?«, fragt Zé.
»Er kann nicht atmen, sich nicht bewegen und sieht eine Art Schatten, der auf ihm sitzt, richtig?«
Zé nickt, sprachlos. Ich versuche, die Lethargie zu überwinden, die nach zwei Wochen Schlaflosigkeit mein Normalzustand ist. Mein Bruder lächelt mich traurig an. Ich glaube er ist froh, dass er endlich meine Aufmerksamkeit erregt hat.
»Weißt du das nicht mehr? Als du klein warst, hattest du das gleiche Problem. Du schliefst immer bei offener Tür, damit Mama dich hören konnte. Du nanntest es das Ding. Es hörte auf, als dein Vater starb. Mama hatte einen Termin für dich beim Psychiater gemacht, aber du hast dich geweigert, dorthin zu gehen.«
Ich überlege, aber kann mich nicht daran erinnern, dabei habe ich diese Zeit eigentlich noch ziemlich gut im Gedächtnis, so auch unsere Besuche im Krankenhaus. Aber es stimmt, als das Ding das erste Mal auftauchte, kam es mir irgendwie bekannt vor. »Und ihr habt den Grund dafür nie herausbekommen?«, fragt Zé irritiert.
»Nein, aber es ist vollkommen klar, dass es eine psychische Ursache hatte. Geht er noch zu seiner Psychologin?«
»Sie hat Urlaub.«
»Mach so bald wie möglich einen Termin für ihn. Ihr fällt dazu sicher mehr ein. Tschüss, Mattia.«
»Tschüss.«
Ich komme eine halbe Stunde zu spät zur Schule. Die Lehrerin fragt mich noch nicht mal, wo ich war. Angesichts meiner tiefen Augenringe ist ihr wohl klar, dass ich nicht in der Verfassung bin, eine längere Befragung über mich ergehen zu lassen. Wenn die vom Jugendamt bei ihr auftauchen, und das werden sie sicher tun, dann wird sie kaum als Zés Leumund zur Verfügung stehen, fürchte ich.
Irgendwas liegt in der Luft.
Dieses Graffito kennt jeder in der Stadt, aber es war seit Jahren auf keiner Mauer mehr zu sehen. Es gibt niemanden hier, der dieses Gesicht nicht kennt. Seit drei Monaten, genau seit dem Tag, als ich das Graffito gegenüber vom Krankenhaus gesehen habe, sprüht irgendjemand es wieder an die Wände. Man sieht es am Ortseingang, am Ortsausgang, auf den Eisenbahnbrücken, auf der Rathausfassade, von der es sehr schnell wieder entfernt wird, und sogar, kaum zu glauben, auf einem Fenster des Kommissariats.
Ich selber habe sie nicht gesehen, aber Youcef. Das ist ein Typ aus meiner Klasse. Er kennt Verrières noch aus der Zeit vor dem Abriss. Sein Vater arbeitet bei der Gebäudepflege der Stadt. Er hatte den Auftrag, das Graffito auf der Rathausfassade zu entfernen und hat gesagt, es gebe in der Stadt noch etliche andere davon. »Die machen das nachts, es gibt überall welche, aber morgens, noch bevor wir aufstehen, werden die entfernt«, sagt Youcef.
Das erzählt er in der Pause. Eine kleine Gruppe Neugieriger umringt ihn, ich stehe ganz vorne. »Bei uns in der Nähe habe ich auch eins gesehen«, sagt jemand, »aber wer ist dieser Typ eigentlich?«
Youcef sieht ihn an, als käme er direkt aus der Steinzeit. In Verrières musste man einfach wissen, wer das war. »Das ist Saïd Zahidi!«
»Wer?«
»Na Saïd, verdammt nochmal! Hast du etwa noch nie von ihm gehört?«
Unsere Schule liegt direkt neben dem Verrières-Viertel. Die meisten Bewohner haben nach dem Abriss eine Wohnung in einem alten HLM in der Nähe zugewiesen bekommen, die Hälfte der Schüler stammt von dort. Youcef ignoriert die Ahnungslosen und wendet sich jetzt nur noch an die anderen.
»Offenbar haben sie ihre Patrouillen verdoppelt, aber konnten die Sprayer bisher nicht fassen.«
»Und was bringt das?«, fragt ein Mädchen. »Wenn es schon einen Prozess gab, was bringt das dann? Glaubst du vielleicht, dieser Bulle wird noch verurteilt?«
»Es geht darum, daran zu erinnern.«
»An Saïd?«
»Nicht nur an Saïd, daran, dass die Bullen jederzeit jemanden umbringen können und dafür nicht bestraft werden.«
Stille. Jeder versucht für sich herauszufinden, was das bedeutet. »Und was bringt das?«, insistiert dasselbe Mädchen. »Dadurch wird Saïd auch nicht wieder lebendig.«
Youcef überlegt lange. Darüber hatte ich bisher nie nachgedacht, er offenbar auch nicht. Schließlich antwortet er, die letzten Silben werden von der Klingel verschluckt:
»Das ist auf jeden Fall besser, als gar nichts zu tun.«
Zé und Gabrielle sitzen im bläulichen Halbdunkel der LEDs. Der Fernseher ist aus. Ich kauere hinter der Tür. Ich sollte eigentlich schlafen. Es ist sieben Uhr morgens. Er ist gerade aus dem Laden zurückgekommen. Gleich kommt er mich wecken. Vorhin kam er kurz rein, um nach mir zu sehen. Ich tat so, als würde ich schlafen, um ihn nicht zu beunruhigen. Inzwischen denke ich fast, es ist besser, den Erwachsenen nichts von dem Ding zu erzählen. Man kommt schließlich nur in die Psychiatrie, wenn jemand anders einen einweist. Wenn nur ich selbst weiß, dass ich verrückt bin, gibt es keinen Grund, dort zu landen. Ich werde mich wohl kaum selbst einweisen.
Gestern Morgen kam der Brief. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich wage nicht, mich hinzulegen, aus Angst, damit das Ding anzulocken.
Er: »Ich war nochmal bei Amélia. Sie ist weiterhin nicht zu Hause. Die Nachbarin hat sie seit zwei Monaten nicht mehr gesehen.«
Gabrielle schweigt.
Er: »Wenn sie bis zur Anhörung nicht zurück ist, entziehen sie mir vielleicht das Sorgerecht. Schließlich war sie diejenige, die sie beim ersten Mal überzeugt hat. Sie und meine Eltern. Bei meiner Vorgeschichte stehen die Chancen schlecht, dass sie …«
Schweigen.
Er: »Gabrielle.«
Sie: »Ja.«
Er: »Warum willst du sterben?«
Lange Stille. Im Halbdunkel des Wohnzimmers sitzt Zé, ich kann nur seine Umrisse erkennen.
Gabrielle sitzt neben ihm auf dem Sofa, kraftlos an die Rückenlehne gelehnt. Zés Kopf ruht auf ihrer linken Schulter. Er hat die Augen geschlossen, wagt es wohl nicht, ihr ins Gesicht zu sehen, aus Angst, dort eine Antwort zu finden.
Mir scheint, es vergehen Stunden, bis sie ihm antwortet.
Sie: »Warum sollte ich am Leben bleiben?«
Als Zé in mein Zimmer kommt, in das ich in Windeseile zurückgespurtet bin, sieht man ihm sein Schlafdefizit deutlich an. Er hat sich seit Tagen nicht rasiert, dabei hasst er es, »pieksige Wangen« zu haben, (Kindersprache, typisch Zé), und um seine trockenen Lippen herum sind neue Falten zu sehen. »Mattia, du musst in die Schule …«
Er geht raus, bevor ich so tun kann, als würde ich gerade erst aufwachen. Er weiß, dass ich nicht geschlafen habe. Ich habe keine Ahnung, ob er auch weiß, dass ich sie belauscht habe.
»Du hast um sechzehn Uhr fünfundvierzig einen Termin bei Nouria«, teilt er mir mit, als er vor der Schule hält.
»Echt?«
»Ja, sie ist aus dem Urlaub zurück. Kannst du da alleine hingehen? Ich muss zum Anwalt, aber ich hole dich dann ab.«
»Okay.«
Ich lächele fatalistisch vor mich hin. Aber das Lächeln vergeht mir schnell, als mir bewusst wird, dass so eine Psychologin die Allererste ist, die den Wahnsinn diagnostiziert. Während der vielen Stunden bis zum Termin wäge ich das Für und Wider ab und frage mich, ob ich das Risiko in Kauf nehmen soll, ihr von dem Ding zu erzählen. Dann rufe ich mich selbst zur Vernunft, sage mir, dass sie mich noch nie reingelegt hat, mich gerne mag und auch weiß, was mit meinem Vater passiert ist. Wenn es einen Erwachsenen gibt, dem ich trauen kann, dann ihr.
Ich bin ziemlich nervös, als ich mich in ihrem Besenkammer-Büro mit dem riesigen Kunstledersessel, in dem sie beinahe versinkt, einfinde. Da sitzt Nouria in ihrer alten grauen Strickjacke und empfängt mich mit ihren sechsunddreißig Jahren wie einen alten Freund, den man nur kurz aus den Augen verloren hat.
Eigentlich wollte ich abwarten, bis sie mir Fragen stellt, wie immer. Aber kaum sitze ich, kann ich nicht mehr an mich halten und erzähle ihr alles: von dem Ding, der Schlaflosigkeit, der Spitze des Eisbergs, von Zé, der das Sorgerecht für mich verliert, und der mir vorhin ganz nebenbei zu verstehen gegeben hat, dass sie uns bei der Anhörung behilflich sein könnte.
Sie hört mir zu, bis ich fertig bin, und konzentriert sich auf das Wesentliche. »Du bist nicht dabei, verrückt zu werden. Jedenfalls nicht mehr als jeder andere auch.«
»Woher weißt du das?«, gebe ich fast aggressiv zurück, während ich wie wild meine Hände ringe.
»Ich weiß es, weil du nicht der Einzige bist, der so etwas erlebt, es gibt sogar einen Namen dafür.«
»Ja, Wahnsinn!«
»Nein, Schlafparalyse, Mattia.«
Sie betont jede Silbe, ihre Stimme klingt schriller als sonst, fast ein wenig genervt.
Ich lehne mich zurück. Es kommt selten vor, dass sie auch nur ansatzweise die Fassung verliert.
»Schlafparalyse«, wiederholt sie. »Das ist eine klassische Schlafstörung. Viele Leute sind davon irgendwann im Laufe ihres Lebens mal betroffen, aber keiner spricht darüber, aus Angst, für verrückt gehalten zu werden.«
Ich starre sie aus großen Augen an, leicht misstrauisch. Sie ist so nett, es mir zu erklären.
»Ich erzähle dir die Kurzform. Wenn du schläfst, sorgt ein natürlicher Mechanismus deiner Nerven dafür, dass du dich nicht bewegen kannst, damit du dich im Schlaf nicht verletzen kannst, vor allem wenn du träumst. Aber es kommt manchmal zu einer Art Programmierfehler deines Gehirns: Es registriert nicht, dass du wach bist, und braucht ein paar Sekunden oder Minuten, um diese Starre zu beenden. Das führt zu diesem Gefühl der Beklemmung, das dich daran hindert, zu atmen und dich zu bewegen.«
Ich überlege. Das klingt gar nicht so blöd. Aber sie hat ein wichtiges Element vergessen: das Ding. Sie lächelt, stellt sich vor das schmale Fenster und blickt auf die Stadt hinunter und damit auch auf den ganzen Mist, der dort passiert. Ich betrachte ihre dunklen, zum Bob geschnittenen Haare, die sie sorgfältig geglättet hat, als sollten sie die vollkommene Ordnung wiedergeben, die vermutlich in ihrem Kopf herrscht. Nicht verrückter als irgendjemand sonst … Wenn ich mich so in meinem näheren Umfeld umblicke, weiß ich nicht, ob das wirklich beruhigend ist. Die anderen, das sind Zé und Gabrielle, mein Vater, meine Mutter und ihre absurde Vorliebe für das Schweigen, das ist mein Bruder mit seiner Strenge und meine Schwester mit ihrem permanenten, verzweifelten Drang zu fliehen.
»Das Ding, wie du es nennst, existiert nur in deinem Kopf, meinen die Ärzte, die sich mit der Frage beschäftigt haben.«
»Also doch eine Halluzination!«
Sie lacht.
»Das hört sich fast triumphierend an, das möchtest du wohl gerne hören.«
Sie beobachtet mich aus dem Augenwinkel, bevor sie weiterredet. »Dass du Halluzinationen hast, bedeutet nicht, dass du verrückt wirst. Das kann jedem passieren, auch Leuten, die geistig vollkommen gesund sind, sofern man das überhaupt sein kann, das ist eigentlich keiner von uns. Du kannst nicht mehr atmen, dich nicht mehr bewegen, du hast keine Erklärung für das, was mit dir passiert. Der menschliche Geist sucht für jedes Phänomen eine Erklärung. Wir müssen immer alles hinterfragen, rechtfertigen, erklären. Das geht soweit, dass dein Gehirn sich darum bemüht, Bilder zu erfinden, die deine Empfindungen widergeben, in diesem Fall also eine Person, die auf dir sitzt und dich daran hindert, dich zu bewegen und zu atmen. Das kommt in Fällen von Schlafparalyse sehr häufig vor. Die meisten betroffenen Personen leiden sogar unter den gleichen Visionen, auch wenn sie sich individuell unterscheiden. Verstehst du?«
»Ja«, murmele ich nach kurzem Überlegen.
Sie lächelt und steuert wieder auf das Fenster zu. »Hast du das gesehen?«
»Was?«
»Sie entfernen da gerade ein Graffito von der Fassade des gegenüberliegenden Cafés.«
Ich stürze ans Fenster. Dort steht: »GERECHTIGKEIT« unter einem runden Fleck, in dem Saïds Gesicht zu sehen war, das schon halb verschwunden ist. Wir bleiben eine Weile am Fenster stehen und sehen dem Angestellten des Cafés dabei zu, wie er ins Schwitzen gerät beim Versuch, die rote Farbe wegzuschrubben. »Möchtest du gerne weiter bei Zé und Gabrielle leben?«, fragt sie nach einer halben Ewigkeit, während das Graffito langsam verschwindet.
Ich nicke. Sie nimmt diese Kopfbewegung – und mag sie auch noch so leicht sein – zur Kenntnis und fragt nicht weiter nach.
»Sag Zé oder seinem Anwalt, dass er mich diese Woche anrufen soll, ich sehe, was ich tun kann für die Anhörung.«
»Danke.«
»Ich danke dir, Mattia.«
Als sie mich zur Tür bringt, wende ich mich noch einmal um.
»Und wie kann ich diese Lähmung stoppen?«
»Du solltest einfach vermeiden, auf dem Rücken zu schlafen, das ist einer der Auslöser dafür. Die Schlaflosigkeit und die Angstzustände sind jedoch schwerer zu behandeln. Sag deinem Vormund, er soll dir einen halbierten Tennisball hinten an den Pyjama nähen, damit du dich im Schlaf nicht auf den Rücken drehen kannst. Aber, Mattia …«
»Ja?«
»Je mehr du von der absurden Idee besessen bist, du hättest die Erkrankung deines Vaters geerbt, desto mehr wirst du überall Beweise für deinen eigenen Wahnsinn finden. So eine Autosuggestion kann ganz schön weit führen.«
Zé und Gabrielle warten unten vor dem Gebäude auf mich. Sie hat ihn zum Anwalt begleitet, sie wusste, dass er Unterstützung braucht bei so einer rechtlichen Angelegenheit. Sie waren bei dem Anwalt, der sie auch bei der ersten Sorgerechtsverhandlung vertreten hat. Das Gespräch verlief sehr gut bis zu dem Augenblick, als der Anwalt das Honorar ansprach. Da hätte Zé fast einen Herzinfarkt bekommen. Er sagte daraufhin »gut«, überlegte kurz und schlug dem Anwalt dann vor, eine Null zu streichen. Daraufhin legte der ihm nahe, dann doch lieber einen Pflichtverteidiger zu nehmen. »Du solltest deine Eltern um finanzielle Unterstützung bitten«, schlägt Gabrielle vor. »Ich bin sicher, sie würden das nicht ablehnen.«
»Nein«, antwortet Zé.
»Du hast sie seit Jahren um nichts mehr gebeten, das wäre doch nicht ehrenrührig.«
»Nein.«
»Du könntest es zumindest Mattia zuliebe tun.«
Zé wirft ihr einen finsteren Blick zu, das sehe ich im Rückspiegel. Ich sage nichts. Ich denke, ob nun dieser Anwalt oder ein anderer ist auch egal. Wenn seine Eltern ihn bei dieser Sache nicht juristisch unterstützen, klappt es eh nicht, so einfach ist das. Es gibt da diesen schwarzen Fleck in seiner Krankenakte, ein Fleck, der alles andere überdeckt und nie verschwinden wird.
In der Eingangshalle laufe ich an ihnen vorbei, renne fast. Ich möchte nur noch eins, mir diesen verdammten halben Tennisball oder was auch immer an meinen Pyjama nähen, damit ich endlich schlafen kann. Aber auf dem letzten Treppenabsatz bleibe ich mit halb offenem Mund wie angewurzelt stehen. Zé und Gabrielle, die kurz nach mir ankommen, verharren dort ebenfalls vor Schreck. Jemand hat unsere Wohnungstür aufgebrochen. Auf dem Linoleum vor der Tür liegen lauter Holzsplitter. Man kann ins Wohnzimmer blicken, die Sofakissen wurden aufgeschlitzt, der fusselige Inhalt über den Boden verteilt.
Gabrielle geht zuerst rein. Zé will sie zurückhalten. »Warte, vielleicht sind sie noch drin!«
Sie beachtet ihn nicht. Ich will ihr folgen, aber Zé hält mich am Kragen fest. Gabrielle verschwindet im Flur. Sie ruft: »Hier ist keiner.«
Ich renne zum Fernseher, getrieben von einem unkontrollierbaren Beschützerinstinkt. Er wurde nicht geklaut, nein, es ist viel schlimmer. Seine Einzelteile liegen unter dem Couchtisch verstreut, auf dem er zu seinen besten Zeiten, die nur wenige Stunden zurückliegen, thronte. Man ist bei seiner Zerstörung nicht gerade zimperlich gewesen, hat mit einem Hammer oder Meißel auf ihn eingeschlagen. Die Schaltkreise liegen offen, Drähte sind zerrissen. Der Bildschirm wurde mit einem gezielten Schlag eingeschlagen. Ich bin sprachlos vor Entsetzen angesichts von so viel Brutalität. Gabrielle legt voller Mitgefühl eine Hand auf meine Schulter. »Na, das war doch mal eine gute Idee«, flüstert Zé triumphierend hinter uns.
Wir sparen es uns, ihm zu widersprechen. Ich weine still meinen morgendlichen Zeichentrickfilmen nach, die für immer ausgelöscht sind, denn ich weiß, dass Zé das als Geschenk des Himmels betrachtet. Er wird mit Sicherheit keinen neuen Fernseher kaufen.
Ich reiße mich von dem traurigen Anblick los, um zu sehen, was es sonst noch für Schäden gibt. Auf den ersten Blick fehlt nichts. Weder Zés Fotoapparat, der seit zwei Jahren in einem Schrank verstaubt, noch die alten Vinyl-Platten von Gabrielle.
Sie haben die Teppiche umgedreht, sämtliche Plakate abgerissen, noch den letzten Winkel auf den Kopf gestellt und nichts mitgenommen. Das kann nur eins bedeuten.
»Die Bullen«, sage ich.
»Ach was«, meint Zé.
»Na klar.«
»Aber nein, das ist ein Einbruch.«
»Hör auf, mich für dumm zu verkaufen, Mann! Sie haben doch gar nichts mitgenommen!«
»Wir haben ja auch nichts von Wert.«
»Und was haben Sie dann im Fernseher gesucht, vielleicht Goldmünzen?«
»Manche Leute verstecken ihre Sachen an den unmöglichsten Orten.«
Ich beäuge ihn misstrauisch, er hält meinem Blick stand. Das ist echt verrückt an ihm, er erzählt einem den größten Blödsinn, ohne dass ihm das im Geringsten peinlich wäre. Gabrielle wendet sich ab, als ginge dieses Gespräch sie nichts an.
Und ich bin müde. Wirklich, wirklich müde. Ich gebe mich geschlagen, knalle die Tür hinter mir zu und lasse mich aufs Bett fallen. Mithilfe eines Gürtels binde ich meinen linken Arm am Bettrahmen fest. So kann ich sicher sein, dass ich mich nicht auf den Rücken drehen kann, ohne dabei aufzuwachen.
Das Ding kommt nicht. Ich schlafe wie ein Stein, viele Stunden. Am liebsten würde ich erst an meinem achtzehnten Geburtstag wieder aufwachen.