Fünfzehntes Kapitel

Merkwürdigerweise geht keiner zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Ich frage mich, warum. Zé lässt die Tür auf eigene Kosten reparieren, und er und Gabrielle sind mehrere Tage damit beschäftigt, die Wohnung wieder in Ordnung zu bringen. Ich halte mich von diesem Großreinemachen lieber fern. Derweil tobt zwischen den beiden ein Streit darüber, dass Gabrielle einen neuen Fernseher anschaffen will. Sie sieht sich gerne Dokus und Nachrichten an. Zé erwidert, dafür gebe es das Radio. Das sei aber nicht so unterhaltsam, hält Gabrielle dagegen. Er meint, diese Sendungen wären schlecht für sie, denn sie würden sie nur traurig machen – Kriegsberichte zum Beispiel. Sie entgegnet, es sei keine Lösung, die Augen vor der Welt zu verschließen, dadurch sei sie nicht verschwunden. Über mich sagt Zé, wenn ich könnte, würde ich tagein tagaus nichts anderes tun, als Zeichentrickfilme zu sehen. Gabrielle kontert, er solle mich nicht für dümmer halten, als ich bin.

Am Ende wartet sie, bis er mich zur Schule bringt. So kann sie die Wohnung verlassen, ohne sich seine Einwände anhören zu müssen. Abends steht dann ein neuer gebrauchter Fernseher da. Zé ist sauer, aber er fügt sich. Wir feiern unseren Sieg mit Traubensaft.

Nachdem mein Vormund gehört hat, was Nouria empfiehlt, näht er mir schließlich diesen halbierten Tennisball an meinen Pyjama. Und ich kann wieder schlafen. Ich fühle mich wie neugeboren, als bekäme ich eine zweite Chance, und dennoch bin ich nicht so euphorisch, wie es eigentlich angebracht wäre, dafür gibt es um mich herum einfach zu viele Rätsel. Eines Abends, ein paar Tage nach dem Einbruch, als ich mit Gabrielle die Nachrichten sehe, hake ich nochmal nach und frage sie, wer eigentlich unsere Wohnung so verwüstet hat.

»Es ist doch fast immer jemand zu Hause, ihr wart gerade mal eine Stunde weg, länger hat es sicher nicht gedauert, zum Anwalt zu gehen und mich abzuholen. Das kann kein Zufall sein, sie haben uns mit Sicherheit beobachtet.«

Sie nickt zerstreut. Ich weiß, dass ihr Desinteresse nur gespielt ist. Mein Blick wandert vom Bildschirm zu ihr und wieder zurück. »Ihr verheimlicht mir doch was«, sage ich.

»Ja«, sagt sie.

»Ja?«

»Sicher, aber du hast schon genug Probleme.«

»Zufällig ist das hier auch mein Problem, schließlich warten die Typen vor der Schule auf mich und nehmen meine Stofftiere auseinander.«

»Kann sein. Aber du kannst eh nichts dagegen tun, sogar wir sind machtlos dagegen.«

So sehr ich auch nachbohre, sie weigert sich, auch nur einen Satz mehr dazu zu sagen.

Am nächsten Abend fährt Zé auf direktem Weg nach Verrières, das nur ein paar Häuserblocks von der Schule entfernt ist. Der Verhandlungstermin rückt näher und er hat keine Ahnung, ob meine Mutter ihn unterstützt. Aus ihrem Briefkasten quellen Prospekte hervor. Zé steht Schmiere und raucht dabei nervös eine Zigarette, während ich meine Hand in den Briefschlitz stecke. Ich ziehe eine Handvoll Umschläge hervor: Rechnungen, Mahnungen und einen Brief vom Gericht, eine Vorladung zur Verhandlung. Das heißt, sie weiß noch nicht mal Bescheid. Der neueste Brief ist vom sechzehnten Oktober, das ist drei Monate her. »Okay«, sagt Zé. »Mir reicht’s. Warte hier auf mich.«

Er kommt mit einem Rucksack wieder, in dem es metallen scheppert. Ich folge ihm in den fünften Stock. Er späht durchs Schlüsselloch, aber die Wohnung ist zu dunkel, als dass man irgendetwas erkennen könnte. Er zögert einen Moment, dann klingelt er bei der Nachbarin, die fast augenblicklich die Tür öffnet. Sie hatte uns schon durch ihren Spion gesehen. »Na, deine Mutter hat sich immer noch nicht gemeldet?«, fragt sie und lächelt mich mitleidig an. »Langsam machen wir uns Sorgen«, sagt Zé. »Sie ist seit drei Monaten verschwunden.«

Er öffnet seinen Rucksack und holt ein Brecheisen raus.

»Decken Sie mich?«

Sie zögert einige Sekunden, bevor sie einwilligt, anscheinend ist sie nicht ganz überzeugt. Es gibt auf diesem Treppenabsatz nur zwei Wohnungen. Sie dreht in ihrer Wohnung Musik auf und lässt die Tür offenstehen, um den Lärm zu überdecken, und beobachtet das Kommen und Gehen im Treppenhaus, während Zé das Eisen zwischen Tür und Türrahmen steckt. Er muss mehrmals ansetzen, bis ihm gelingt, es mithilfe eines Hammers in den schmalen Spalt zu bekommen. Man hört das Hämmern im ganzen Treppenhaus. Ich habe Angst, aber sage nichts.

Endlich, nachdem er heftig ins Schwitzen geraten ist und vor Anstrengung das Gesicht verzogen hat, gibt das Schloss nach. Nicht schlecht für so ein Bürgersöhnchen … Die Tür springt weit auf. Wir warten, es ist totenstill. Kein Nachbar kommt runter, um zu sehen, was los ist. Mein Vormund leuchtet mit einer Taschenlampe in den Flur. Die Nachbarin und ich stellen uns neben ihn, um in die Wohnung spähen zu können.

Mein Herz tut einen Sprung. Mamas Wohnung sieht genauso aus, wie unsere Wohnung vor ein paar Tagen aussah. Still gehen wir im Gänsemarsch hinein, sind dabei auf das Schlimmste gefasst. Die Nachbarin betätigt den Lichtschalter. Zumindest ist kein Blut an den Wänden. Die Wohnung war einfach nur systematisch und ohne Rücksicht auf Verluste durchsucht worden bis in den letzten Winkel hinein. Das war die Arbeit von Profis oder von Bullen. Inzwischen wissen wir ja, mit wem wir es zu tun haben. Die Frage ist nur, was sie eigentlich suchen.

Wir gehen von einem Raum zum anderen. Kein Zimmer wurde verschont. Sie haben sich sogar die Mühe gemacht, den Spülkasten abzubauen. Die Matratze meiner Mutter wurde aufgeschlitzt. Ich halte bei jedem Raum den Atem an, aber die Wohnung ist klein und die Ungewissheit insofern nicht von langer Dauer: Nirgendwo liegt die Leiche meiner Mutter.

Als Zé in die Küche kommt, seufzt er laut auf. Er wendet sich an die Nachbarin.

»Danke für Ihre Hilfe.«

Die Botschaft ist unmissverständlich. Sie beißt sich auf die Lippen und wendet sich zum Gehen. »Sollte man nicht … die Polizei rufen?«

»Glauben Sie mir, das würde uns nicht großartig weiterhelfen.«

Komischerweise gibt sie sich damit zufrieden. Wenn er möchte, kann er sehr selbstsicher wirken und die Tatsache, dass ich dabei bin, trägt sicher mit dazu bei, dass sie ihm vertraut. Wer ein Kind bei sich hat, kann kein ganz übler Kerl sein.

Als wir allein sind, durchsucht Zé erneut die ganze Wohnung. Irgendwann verstehe ich, dass er nach einem Brief sucht oder irgendeinem Hinweis darauf, wo meine Mutter abgeblieben ist. Ich hebe hier und da etwas mit spitzen Fingern an, um ihm zu helfen. Da ich seit vielen Jahren keinen Platz mehr in ihrem Leben habe, mag ich auch nicht darin herumschnüffeln. Ich finde nichts, das deprimiert mich mehr als alles andere. Eins fällt auf: Es gibt in der ganzen Wohnung kein einziges Foto, weder von mir noch von meinen Geschwistern noch von meinem Vater noch von sonst irgendjemandem.

Nachdem wir ein, zwei Stunden gesucht haben, ziehen wir unverrichteter Dinge wieder ab. Als wir im Auto sitzen, schweigen wir beide. Es gibt nichts zu sagen. Meine Mutter ist verschwunden und keiner will mir erklären warum.

Bei unserer Rückkehr stellt Gabrielle sich Zé in den Weg. An ihren verkniffenen Lippen sehe ich, dass irgendwas nicht stimmt.

»Du hast Besuch«, sagt sie.

»Bitte?«

»Deine Eltern.«

Mein Vormund zieht eine seltsame Grimasse. Ihm bleibt keine Zeit, um die Flucht zu ergreifen. Ein Mann und eine Frau um die sechzig erscheinen im Flur. Sie tragen zwar nicht ihre schwarzen Roben, aber das ist auch nicht nötig, man sieht ihnen auch so an, welchen Beruf sie haben. Sie blicken beide streng, und weil sie permanent die Stirn runzeln, haben sie viele Falten auf der Stirn. Er ist Staatsanwalt, sie vorsitzende Richterin am Berufungsgericht.

Der große Zé schrumpft förmlich, als er sie sieht. Als Madame Palaisot merkt, dass er am liebsten wieder rückwärts aus der Tür gehen würde, tritt sie schnell auf ihn zu. Monsieur Palaisot sieht mich an und verzieht dabei keine Miene. Die Richterin mustert ihren Sohn, öffnet den Mund und sagt schließlich doch nichts. Kurz weiß keiner, wie er reagieren soll. Dann kommt ihr die rettende Idee.

Madame: »Warte, bevor du anfängst uns zu beleidigen, Zé.«

Monsieur (der ihr ins Wort fällt): »Wir haben gehört, dass du ein kleines Problem hast.«

Madame: »Jetzt hast du mich schon wieder unterbrochen.«

Monsieur: »Bitte?«

Madame: »Das habe ich dir vorhin auch schon gesagt.«

Monsieur: »Habe ich dich unterbrochen?«

Madame: »Du hast mich unterbrochen, schon verrückt, du merkst es noch nicht mal.«

Monsieur: »Das tut mir leid.«

Madame: »Gut, darf ich dann fortfahren?«

Monsieur: »Natürlich.«

Madame: »Danke.«

Ich sehe Gabrielle entgeistert an. Zé scheint diese Szene vertraut zu sein, er lächelt entschuldigend, aber man lässt ihn nicht zu Wort kommen.

Madame: »Du hast in zwei Wochen einen Termin beim Familiengericht und du weißt so gut wie wir, dass sie dir das Sorgerecht für das Kind entziehen werden.«

»Das Kind«, so haben seine Eltern mich immer genannt. Sie sind einfach zu sehr daran gewöhnt, bei Gericht zu sein, wo man nur eine Nummer ist und Namen keine Rolle spielen oder nur um die verschiedenen Fälle auseinanderzuhalten.

Madame: »Ich weiß, wie wichtig er dir ist. Wir möchten dir gerne helfen.«

Zé: »Nein.«

Monsieur: »Zé …«

Zé: »Verschwindet!«

Er zeigt auf die Tür. Gabrielles Miene verdüstert sich, in ihren Augen liegt ein Funkeln, das mir neu ist. Das Paar macht keine Anstalten, sich von der Stelle zu bewegen.

Monsieur: »Vergiss doch endlich deinen alten Groll gegen uns, seitdem ist so viel Wasser den Bach heruntergeflossen.«

Zé: »Meinen alten Groll? Du …«

Gabrielle: »Jetzt komm nicht wieder mit der Tour!«

Zé: »Was meinst du?«

Gabrielle: »Du weißt, dass sie recht haben.«

Monsieur: »Danke, Mademoiselle.«

Gabrielle: »Zé, hier geht es nicht nur um dich, sondern auch um Mattia und mich. Wir setzen uns jetzt hin und reden, und du hörst mal kurz auf, den Egoisten zu spielen.«

Sie hatte gesprochen, und wenn sie spricht, dann fängt er nicht an zu diskutieren, es kommt schließlich selten genug vor. Nachdem Zé seinen Eltern einen letzten hasserfüllten Blick zugeworfen hat, fügt er sich. Die beiden sehen sich fragend an und ringen sichtbar um Fassung nach Gabrielles deutlicher Ansage. Dann gehen alle ins Wohnzimmer, sogar ich. Keiner bietet unseren Gästen etwas zu trinken an.

Monsieur: »Soll das Kind bei dem Gespräch etwa dabei sein?«

Zé: »Nach allem, was passiert ist, hast du immer noch nicht verstanden, dass man ein Kind nicht aus seinem eigenen Leben ausschließen kann, ich fasse es nicht.«

Gabrielle: »Das Kind heißt übrigens Mattia.«

Danke Gabrielle. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass der Staatsanwalt fortwährend auf ihre Handgelenke starrt. Als sie das merkt, zieht sie immer wieder an den Ärmeln ihres Pullis, um ihre Narben zu verbergen, und errötet dabei leicht, als müsste sie sich dafür schämen.

Die Besprechung läuft vielleicht fünf Minuten, da fällt mir auf, dass ich überhaupt nicht zuhöre. Wie immer beobachte ich die anderen nur, und was ich dabei entdecke, hätte mir eigentlich sofort ins Auge springen müssen, als Zés Eltern uns gegenüberstanden. Es knistert im Gebälk, da ist etwas in ihren Blicken. Die Art, wie Madame sich andauernd eine Strähne ihrer schwarzen Haare hinters Ohr steckt, und wie Monsieur seinen Sohn mustert, so von unten mit zusammengekniffenen Augen, verrät, was sie wirklich denken. Sie haben sich unter Kontrolle, sonst wäre es mir vermutlich gleich aufgefallen.

Es ist offensichtlich, sie hassen es, hier zu sein. Sie fühlen sich hier furchtbar unwohl, auch wenn sie das gut verbergen. Wenn sie Zé anblicken, sehen sie nicht ihren Sohn, sie sehen nur ein Urteil und eine Diagnose. Sie sehen einen leeren Klassenraum und eine blutbeschmierte Tafel. Sie sehen die hohen Mauern von Charcot, das Isolationszimmer und das Bett mit den Gurten zum Fixieren, die Tabletten-Packungen und die zitternden Hände. Sie sehen jemanden vor sich, der stottert – da war der Psychiater noch auf der Suche nach der richtigen Dosierung und testete alle möglichen Neuroleptika mit lauter furchterregenden Namen an ihm, um in seinem Kopf wieder alles so auszutarieren, dass die chemischen Moleküle in Schach gehalten werden.

Sie sehen »Wahnsinn« und sie sehen »Angeklagter«. Was auch immer sie sehen, eins sehen sie nicht, ihn. Plötzlich spüre ich, wie es sich anfühlen muss, wenn man ihnen als Beschuldigter gegenübersteht, ihnen mit ihrer ganzen Ignoranz.

Und dann fällt mir ein Name nach dem anderen ein.

Fünfzehnter Juni: Ossama Yabrir, siebzehn Jahre, fünf Jahre Gefängnis wegen Autodiebstahls, Wiederholungstäter.

Achtzehnter August: Mourad Kettani, neunzehn Jahre, drei Jahre wegen Sachbeschädigung bei Krawallen. Neunundzwanzigster August: Nasser Bellamine, zweiundzwanzig Jahre, zehn Jahre wegen bewaffneten Überfalls.

Zehnter Oktober: Clément Dechaveaux und Kamel Ahardane, neunzehn und achtzehn Jahre, vier Jahre wegen mehrerer Einbrüche.

Einunddreißigster Dezember: Nesrine Othmani, sechzehn Jahre, ein Jahr wegen des Anzündens eines Glascontainers.

Achter Januar: David Zuma, einundzwanzig Jahre, sechs Monate wegen Beleidigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.

Vierundzwanzigster Januar: Michaël Da Pojan, siebzehn Jahre, acht Jahre wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und tätlichen Angriffs eines Polizeibeamten.

Erster Februar: Saïd Zahidi, fünfzehn Jahre, Tod wegen Widerstands bei einer Ausweiskontrolle.

Siebzehnter Dezember, drei Jahre danach, Thomas Ross, neunundzwanzig Jahre, freigesprochen vom Vorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge.

Ich kannte ihre Namen und ihre Strafen, weil mein Vater sie auf ein Blatt Papier geschrieben und es neben seinem Krankenhausbett an die Wand gepinnt hatte. Bei jedem Besuch las ich diese Namen, immer und immer wieder. Meine Mutter hatte mir schon vor der Schule das Lesen beigebracht. Das überbrückte die Stille zwischen uns ein wenig.

Diese Namen gehören alle Einwohnern von Verrières, die in den Monaten vor Saïds Tod verurteilt worden waren. Und viele dieser Urteile hatte der Vertreter der Anklage gefordert: Olivier Palaisot, Staatsanwalt am Amtsgericht.

Mein Vater hasste ihn.

Ich stehe auf. Alle Blicke richten sich auf mich. Ich blicke sie fest an, diesen Mann, diese Frau, in mir macht sich ein Gefühl von Verachtung breit. Wortlos verlasse ich den Raum, ich ertrage ihre Anwesenheit nicht mehr. Ich schlage die Tür zu meinem Zimmer hinter mir zu und warte, dass sie gehen.

Ich möchte auch nicht, dass sie uns helfen. Aber Gabrielle hat recht, entweder so oder ich komme ins Heim. Ich hasse sie dafür, dass wir so auf sie angewiesen sind.

Zé kommt zu mir, bevor er in den Laden geht. Ich habe mich unter der Decke versteckt. Er setzt sich ans Fußende, legt seine Hand auf meine Schulter, räuspert sich. »Sie sind weg, werden den Anwalt bezahlen und tun, was sie können, damit es klappt. Mattia? Woran denkst du?«

Ich tauche unter der Decke hervor. Das Licht im Zimmer ist ausgeschaltet, aber der Schein der Straßenlaterne genügt, um die Falten, die die Müdigkeit in sein Gesicht gegraben hat, hervortreten zu lassen.

»Erkläre es mir«, sage ich.

»Was soll ich dir erklären?«

»Wie diese Dinge funktionieren, ich verstehe das alles nicht.«

»Was für Dinge?«

»Warum hat dein Vater einen Haufen Leute aus Verrières in den Knast geschickt, die nichts Schlimmes getan haben, und der Bulle, der Saïd getötet hat, ist nicht verurteilt worden?«

Zé blickt aus dem Fenster. Er zündet sich eine Zigarette an und scheint nachzudenken, oder aber er arbeitet an einer Strategie, wie er um eine Antwort herumkommen kann. Die Frage stürzt ihn in echte Verlegenheit, denn er wurde zur rechten Zeit am rechten Ort geboren und hatte die richtige Hautfarbe. Man redet mit Kindern gemeinhin nicht über Klassenkampf, man erzählt ihnen lieber was von Chancengleichheit. Aber ich kann diese Leier, an die noch nicht mal mehr die kleinen Kinder glauben, nicht mehr hören. Zé weiß offenbar nicht, was er sagen soll. Schließlich steht er auf.

»Ich muss zur Arbeit, gute Nacht.«

Ich träume.

Am Fuß der Hochhäuser liegt ein Körper. Es ist dunkel. Alles ist ruhig, nichts regt sich. Kein Licht, soweit das Auge reicht. Nur der Mond dringt schwach durch den Nebel, der über der Stadt liegt. Alles schläft. Ich laufe allein zu der am Boden liegenden Gestalt hin, kann sie im verschwommenen Dunkel der Nacht kaum erkennen. Ich laufe und laufe, aber komme einfach nicht näher.

Dann fängt es auf einmal irgendwo an zu brennen.

Der Brand greift auf die Gebäude über, ein Hochhaus nach dem anderen brennt nieder wie der Docht einer Kerze. Aber man hört keine Schreie, instinktiv weiß ich, dass bereits alle tot sind. Ich laufe weiter, habe keine Angst, empfinde nichts. Schließlich gelingt es mir, die Gesichtszüge der auf dem Beton liegenden Person zu erkennen. Es ist eine Frau: Mama! Ihre Haare sind blutverklebt, aber sie lebt. Sie zeigt auf irgendetwas, das links von ihr liegt. Ich schaue in diese Richtung. Dort steht das Stadtteilzentrum. Hinter dem Fenster kann man eine Gestalt erkennen, die langsam am Ende eines Seils baumelt.

Mir wird furchtbar schlecht, aber ich kann mich nicht übergeben. Jemand packt mich bei den Schultern. Ich drehe mich um. Es ist Gina. Sie sieht zu, wie die Hochhäuser abbrennen. Der Lichtschein des Feuers spiegelt sich in ihren dunklen Augen. »Wir müssen gehen.«

»Wohin gehen?«

»Sie werden kommen.«

»Wer?«

»Die, die das Feuer gelegt haben.«

»Wer denn?«

Sie antwortet nicht, als wäre die Frage zweitrangig. Aber sie bewegt sich nicht von der Stelle und ich auch nicht. Wir können uns nicht vom Schauspiel der Flammen losreißen, die am Zement hochzüngeln.

Ein Blitzlicht, dann Dunkelheit.

Ich wache mit dem Gefühl auf, mich noch nie so allein gefühlt zu haben, wie in diesem Moment.

Zwei Uhr. Zé ist im Laden. Gabrielle schläft vermutlich oder schaut sich im Fernsehen die Gewinner und Verlierer irgendeines Krieges an, den man nicht so nennen darf. Ich bin nicht mehr müde und stehe mit der festen Absicht auf, eine Schale Frühstücksflocken vor dem Fernseher zu essen. Da halten mich Stimmen aus dem Wohnzimmer zurück. Gabrielles Stimme und die eines Mannes, aber das ist nicht Zés Stimme.

Mit klopfendem Herzen schleiche ich zur Tür. Sie steht einen Spalt offen. Ich werfe einen kurzen Blick hinein. Gabrielle lehnt am Fenster, ihr gegenüber steht ein Mann um die vierzig, ein Mann, den ich schon mal gesehen habe. Es ist der, der mich vor der Schule nach Zés Adresse gefragt hat. Sein Komplize war im Kommissariat.

Ich verstecke mich hinter der Tür, presse eine Hand auf meinen Mund. Das Telefon ist im Wohnzimmer, außerhalb meiner Reichweite, und Zé kommt nicht vor fünf Uhr nach Hause. Eine leichte Panik steigt in mir hoch, aber ich reiße mich zusammen, um besser lauschen zu können. Gabrielle wirkt nicht besonders ängstlich.

»… jahrelang. Du hast noch nicht mal an uns gedacht«, sagt der Mann.

»Ja«, sagt Gabrielle.

»Nach allem, was wir für dich getan haben, nach allem, was wir mit dir durchgemacht haben, verdammt nochmal! Ich muss mitten in der Nacht hierherkommen, um zu erfahren, wie es dir geht. Findest du das vielleicht normal? Und dieser Typ … ein Durchgeknallter, der eigentlich in die Klapse gehört.«

»So wie ich auch«, sagt Gabrielle.

»Das ist was anderes. Du brauchst nur jemanden, der sich um dich kümmert.«

»Ach ja!«

»Ja.«

»Nein danke, ich kann mich sehr gut um mich selber kümmern.«

Verächtliches Schnauben. Er geht mit schweren Schritten auf sie zu.

»Meinst du das ernst? Und was ist mit diesen Narben hier?«

»Das ist auch eine Art, sich um sich zu kümmern. Besser, du verschwindest jetzt. Du weckst noch Mattia auf.«

Stille.

Ich lausche. Ich höre alles, wie sie atmen, wie der Stoff raschelt, wenn sie sich bewegen, höre ihre Schritte, seine Seufzer, ihr Schweigen.

»Was willst du?«, fragt sie.

»Dass du von hier weggehst. Ein Geisteskranker und ein elfjähriges Kind sind nicht die richtige Gesellschaft, um sich auszukurieren.«

»Ich muss mich nicht auskurieren.«

»Du weißt, was ich tun könnte?«

Wieder kriecht die Stille über den Teppich. Die Stimme klingt jetzt drohend.

»Dich zwangseinweisen, Gabrielle.«

Sie lacht, aber ihrem Lachen ist das Entsetzen anzuhören.

»Und auf welcher Grundlage?«

»Deine wiederholten Selbstmordversuche.«

»Und du denkst, das bringen sie in der Psychiatrie in Ordnung? Dort stopfen sie mich nur mit Medikamenten voll, bis ich nichts mehr spüren kann und mich deshalb auch nicht mehr nach dem Tod sehnen kann.«

»Zumindest wissen wir dann, wo du bist.«

»Und wo bin ich dann? Mit zugedröhntem Kopf? Du würdest mich nicht wiedererkennen. Und Zé würde sicher einen Weg finden, mich dort rauszuholen. Er kennt sich aus mit Kliniken. Er weiß, wie es da läuft.«

»Mag sein, aber er ist kein Angehöriger von dir. Offiziell lebst du noch nicht mal mit ihm zusammen. Er hat da überhaupt nicht mitzureden.«

»Ich meine damit ja auch nicht unbedingt auf legalem Weg.«

»Ich kann auch dafür sorgen, dass er dir nachfolgt.«

Stille.

»Ich möchte nicht, dass es so weit kommen muss«, fügt der Unbekannte hinzu. Aber wenn du erst dann bereit bist, meine Hilfe anzunehmen, wenn du auf dich ganz allein gestellt bist, dann ziehe ich das notfalls durch.«

»Seine Eltern arbeiten am Gericht, er ist geschützt, tut mir echt leid für dich und deine miesen Bullentricks.«

»Meine miesen Bullentricks haben nur ein Ziel. Ich habe Angst um dich. Ich will nicht, dass du stirbst, dafür tue ich notfalls auch Dinge, die nicht besonders schön sind, wenn ich dich nur so dazu bringen kann, dir helfen zu lassen. Manchmal muss man jemanden auch gegen seinen Willen schützen.«

»Du kommst mitten in der Nacht hierher, verschaffst dir gewaltsam Zutritt, zwingst mich, mir diesen ganzen Blödsinn anzuhören, du bedrohst mich, bedrohst jemanden, den ich liebe, und erwartest, dass ich dich mit offenen Armen empfange? Ich habe es der Familie gesagt, als ich gegangen bin, ich möchte nichts mehr mit euch zu tun haben. Ihr habt mich gegen meinen Willen vor mir selbst geschützt, und das hat mich am Ende zerstört. Das Leben spielt sich nicht hinter den Mauern von Heilanstalten ab.«

»Wo spielt sich dein Leben denn ab? Vielleicht in dieser Wohnung, die du nie verlässt?«

»Ich kann jederzeit gehen, wohin ich will.«

»Nur tust du es nicht, das ist das Schlimme.«

Sie hebt auf einmal die Stimme.

»Und du weißt also, wie das wahre Leben aussieht? Seit du auf der Polizeischule bist, hast du doch nur noch mit Bullen zu tun. Ihr habt ja überhaupt keine Ahnung, wie die soziale Realität da draußen aussieht, euer Horizont reicht doch nur bis zum Rande eures Käppis! Du widerst mich an. Verschwinde.«

»Ich bin nicht mehr so, wie du denkst, vielleicht war ich mal so, aber ich habe mich schließlich auch verändert.«

»Davon merkt man nicht gerade viel. Verschwinde!«

»Gabrielle, ich bitte dich, komm mit mir. Lass dir von mir helfen. Ich halte es nicht mehr aus, mich jeden Morgen zu fragen, ob du dich letzte Nacht vielleicht aus dem Fenster gestürzt hast.«

»Du kannst deine Nummer ja hierlassen, ich sage Zé dann, dass er dich im Falle meines Selbstmordes anrufen soll.«

Totenstille, wie die Stille, die einer Kriegserklärung vorausgeht. Ich presse mein Auge ans Schlüsselloch. Sie stehen sich mitten im Wohnzimmer gegenüber. Gabrielle hat die Arme vor der Brust verschränkt, ihre Hände verschwinden in den Falten ihres Sweatshirts, sie wirkt so schmal, geradezu gespenstisch. Er trägt seine Wildlederjacke, hat den Mund leicht geöffnet, die Stirn gerunzelt, sein Gesichtsausdruck schwankt zwischen Wut und Angst. Er trägt eine Koppel mit einer Waffe im Halfter und sieht sie eindringlich an.

»Jetzt geh endlich«, murmelt sie mit erschöpfter Stimme.

Er reagiert nicht. Sie versucht, ihn am Arm zu ergreifen, um ihn zum Gehen zu bewegen. Er löst sich aus ihrem Griff. »Komm mit mir«, wiederholt er lauter.

Ich öffne die Tür und huste, um zu zeigen, dass ich da bin. Der Bulle dreht mir den Rücken zu. Er wirbelt herum, lässt Gabrielle los, die er an der Hand gepackt hatte. Sie sieht mich an, wirkt überhaupt nicht überrascht. Sie weiß ja, dass ich gerne lange aufbleibe, um sie heimlich zu beobachten.

»Bravo«, sagt sie. »Du hast Mattia aufgeweckt.«

Schon bin ich in meiner Rolle drin. Meine Lippen zittern, meine Lider flattern vor Müdigkeit. Ich bemühe mich, meine Stimme unendlich schläfrig klingen zu lassen. »Wer ist das? Warum nervt der dich denn?«

»Das ist mein Bruder«, antwortet sie, er wollte gerade gehen, so ist es doch Thomas?«

Thomas zögert eine ganze Weile, dann nickt er. Während er einen Bogen um mich macht und Gabrielle noch einen letzten Blick zuwirft, bevor er geht, versuche ich die neu gewonnenen Informationen zu verarbeiten: Ihr Bruder ist ein Bulle … Ich laufe ihm nach, als er schon fast im Treppenhaus verschwunden ist.

»Haben Sie etwa bei uns eingebrochen?«, frage ich und hänge mich dabei an seinen Ärmel. »Was haben Sie denn gesucht?«

Er schüttelt mich ab.

»Du verwechselst mich offenbar mit jemandem.«

Er springt die vier Etagen herunter. Ich stürze ans Fenster, um zu beobachten, wie er in ein Auto steigt und in Richtung Stadtzentrum fährt. Im Wagen scheint keiner auf ihn gewartet zu haben. Sein Kollege hat ihn also nicht begleitet.

Gabrielle hat sich aufs Sofa gesetzt und drückt die Stirn gegen ihre Knie. Sie atmet tief ein und aus, wie nach einem Wutanfall. Ich bleibe noch eine Weile im Türrahmen stehen und warte ab, ob sie reden möchte, aber sie beachtet mich nicht weiter. Sie hat sich in sich selbst zurückgezogen. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als ihr Schweigen zu respektieren. Darin bin ich ja geübt.