Sie sitzt hinter ihrer Registrierkasse und wünscht jedem Kunden einen guten Tag. Der Mund lächelt, aber die Augen lächeln nicht mit. Die Weihnachtszeit ist vorbei, aber nun kommt die Zeit der Sonderangebote. Das Geschäft hat lange geöffnet. Sie arbeitet jeden Tag in der Woche bis zwanzig Uhr. Zwischen zwölf und vierzehn Uhr bleibt ihr kaum genug Zeit, um schnell nach Hause zu gehen, die Tage nehmen einfach kein Ende …
Aber heute früh hat jemand im Morgengrauen »Gerechtigkeit für Saïd« an die Mauer der Polizeiwache geschrieben, schon das zweite Mal in dieser Woche. Sie hat es auf dem Weg zur Arbeit gesehen. Jeden Morgen kommt sie dort vorbei. Es würde sie zu viel Zeit kosten, einen Umweg zu machen. Und jeden Tag ist der Hass wieder da, heftig, nicht wegzuleugnen. Das tut ihr gut. Sie würde die nötige Kraft zum Aufstehen am Morgen gerne aus etwas anderem schöpfen. Vorerst hilft dieser Hass ihr dabei, durchzuhalten.
Ein alter Mann sucht in seinem Portemonnaie nach Kleingeld. Die Kunden werden ungeduldig. Keiner sagt etwas. Sie sagt »Guten Tag« zum nächsten Kunden und zieht die Artikel über den Scanner, einen nach dem anderen, ohne je das Ende des Laufbands zu sehen. Sie nennt einen ungeraden Betrag. Wenn es mal ein glatter Betrag ist, dann denkt sie, es wird etwas Ungewöhnliches passieren. Das ist albern, aber es funktioniert immer. Nur ein kleines Ereignis, das die Routine durchbricht: Ein Dieb, der sich an der Auslage vergreift und dem Wachmann eine Riesenszene macht, eine Gruppe von Kindern, die die Gleitfähigkeit verschiedener Ketchup-Marken testen, indem sie in den Gängen darauf herumrutschen, verfolgt von entnervten Verkäufern.
Sie sagt »Auf Wiedersehen, schönen Tag noch« zum einen und »Guten Tag« zum nächsten Kunden.
Und mittags hat sie dann auf einmal einen glatten Betrag. Sie bereitet sich vor, lächelt einen Mann an, der ohne Begleitung ist und seine Artikel aufs Laufband legt. Aber dann erstirbt ihr Lächeln.
Der Typ trägt eine Wildlederjacke und hat Ringe unter den Augen, er ist so um die vierzig, sie kennt ihn, sie hat ihn schon mal gesehen. In Verrières kannte ihn jeder, als die Hochhäuser noch standen. Manchmal trug er eine knallorangefarbene Armbinde. Wenn er mit seinen Kollegen zusammen war, fiel er nicht weiter auf. Er brüllte weniger rum als die meisten Bullen. Keiner hatte ihn auf der Rechnung.
Das letzte Mal hat sie ihn auf der Anklagebank gesehen. Seltsam, wenn man plötzlich so von der Vergangenheit eingeholt wird, die bis heute nicht wirklich abgeschlossen ist.
Ihre Blicke kreuzen sich. Er lächelt sie an.
Sie lächelt nicht zurück, zieht stattdessen die Barcodes mechanisch über den Scanner, während er ans andere Ende des Laufbands tritt. Sie konzentriert sich auf die Waren, ein Paket Tagliatelle, Zwiebeln, ein Becher Crème fraîche, Speck. Er macht sich sicher Spaghetti Carbonara. Spaghetti Carbonara wiederholt sie wie in Trance leise für sich. Dann schaut sie erneut hoch. Er wirft ihr einen fragenden Blick zu, scheint gemerkt zu haben, dass irgendwas nicht stimmt. Aber er weiß nicht was. Offenbar hat er sie nicht wiedererkannt.
In der Papierwarenabteilung wird ein Verkäufer verlangt.
»Wie viel macht das?«, fragt er.
»Acht Euro siebenundzwanzig«, sagt sie.
Er kramt in seinem Portemonnaie, steckt eine Kreditkarte in das Lesegerät, gibt die vier Ziffern ein, vertippt sich, geht auf Korrektur, tippt nochmal, flucht dabei. Er ist nervös, das ist offenkundig.
»Ich vergesse andauernd meine PIN«, entschuldigt er sich mit einem Lachen. Seine Stimme klingt vollkommen natürlich, als wäre er ein ganz normaler Kunde aus dem Viertel, der versucht, ein Gespräch anzufangen.
Sie sieht ihn an. Als er ihren Gesichtsausdruck sieht, erstirbt sein Lachen.
Sie gibt ihm den Bon.
»Danke, schönen Tag noch.«
»Gleichfalls und viel Glück.«
Sie wiederholt sein Danke nicht, wie sie es normalerweise tut, reckt nur den Hals, um zu sehen, wie er den Laden verlässt und auf dem Parkplatz verschwindet.
Sein Name ist Thomas Ross. Er ist Bulle. Eines Tages, das ist lange her, hat er Saïd Zahidi in der Nähe des Stadtteilzentrums getötet. Er wurde freigesprochen, aber man hat ihn in eine andere Stadt versetzt. Nach den Krawallen, die auf den Mord und den Freispruch folgten, konnte er nicht länger hier tätig sein. Man hat ihn zu seiner eigenen Sicherheit versetzt.
Und dennoch ist er hier.
Sie tippt schnell eines SMS in ihr Handy und dreht sich so, dass sie nicht im Visier der Kamera ist. Und dann wendet Siham Zahidi sich wieder um und lächelt, um dem nächsten Kunden »Guten Tag« zu sagen.