Achtzehntes Kapitel

Okay, fassen wir mal kurz zusammen.

Saïd wird in der Nähe des Stadtteilzentrums getötet. Mein Vater war vor Ort. Er wird von den internen Ermittlern der Polizei befragt und beharrt darauf, nichts gesehen zu haben. Statt mit einem Durchsuchungsbeschluss bei ihm aufzutauchen, bricht man bei ihm ein. Ich kann mir kaum vorstellen, dass dahinter die Interne Revision steckt, zumal das Ganze dreizehn Jahre nach der Tat wieder losgeht, und dieses Mal waren es Bullen, das wissen wir. Offenbar suchten sie etwas. Vielleicht hatten sie Angst, dass mein Vater aufgeschrieben hat, was er gesehen hat, und dass seine Version des Tathergangs nicht zu ihrer passte?

Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Papa nicht eingegriffen hat, wenn er die Szene tatsächlich beobachten konnte. Und warum hat er sich dann nicht wenigstens als Zeuge gemeldet? Schließlich hat die Tatsache, dass der Mörder freigesprochen wurde, ihn in die Psychiatrie gebracht.

Fünfzehn Jahre später verschwindet meine Mutter, man bricht bei ihr ein, man bricht bei uns ein, und die Bullen wollen unbedingt Zés Adresse herausfinden. Einer dieser Bullen ist Gabrielles Bruder. Hätten sie unsere Wohnung nicht auf den Kopf gestellt, hätte man meinen können, es wäre ihnen um Gabrielle gegangen, aber nach allem, was mein Bruder erzählt hat, ist das mit Gabrielle reiner Zufall gewesen.

Und dann sprühen frühere Bewohner von Verrières erneut überall diese Graffiti hin, die nach Saïds Tod an sämtlichen Mauern der Stadt prangten. Die Tatsache, dass die Bullen zeitgleich mit den Graffiti auftauchen, kann kein Zufall sein.

Die Frage ist, warum ausgerechnet jetzt? Wonach suchen sie denn noch? Papa ist lange tot, der Prozess abgeschlossen, und die Familie Zahidi hat erst gar nicht versucht, Revision einzulegen, da sie wusste, dass das aussichtslos war.

»Hörst du mir eigentlich zu?«

»Nein«, gebe ich zu.

Zurück zur Gegenwart. Zé hat mich abgeholt, wir sitzen im Auto. Mein Bruder hatte ihn, kurz nachdem er von der Arbeit gekommen war, erreicht. Er hatte also gar nicht die Zeit, in Panik zu geraten, aber behauptet, er hätte noch nie zuvor eine solche Angst ausgestanden und schreit mich seit zehn Minuten an. Damit ich merke, wie ungeheuer wütend er ist, raucht er eine Zigarette nach der anderen.

»Da rennst du nur notdürftig bekleidet um vier Uhr morgens auf die Straße und das, wo wir nächste Woche den Termin beim Richter haben! Was wäre wohl passiert, wenn die Bullen dich aufgegriffen hätten? Wenn du möchtest, dass ich das Sorgerecht verliere, dann sag es lieber gleich, das würde mir eine Menge Papierkram ersparen!«

Ich antworte nicht. Stattdessen muss ich immerzu an das denken, was Stefano mir erzählt hat. Ich mache es wie diese Detektive in den Büchern, ich versuche meine Erkenntnisse zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, aber das muss man wohl gelernt haben, ich kann mir einfach keinen Reim auf all das machen.

»Was hast du bitte bei deinem Bruder gewollt? Ich dachte, du kannst ihn nicht ausstehen.«

Statt zu antworten, zucke ich nur mit den Schultern. Ich bin sauer auf ihn, auf Gabrielle, auf Gina, auf alle, die Bescheid wussten und mir nichts gesagt haben. Aber in einer Stunde muss ich in der Schule sein und bin jetzt schlicht zu müde, um offene Rechnungen zu begleichen. Ich werde Zé heute Abend darauf ansprechen, wenn ich den Mut dazu habe. Im Moment fallen mir eh nur lauter Beleidigungen ein. Und um dieser großartigen Nacht die Krone aufzusetzen, sind sie dann auch noch gekommen. Keiner hatte so schnell mit ihnen gerechnet. Zé macht große Augen und tritt heftig auf die Bremse. Vor dem Haus steht ein Krankenwagen mit dem Schriftzug der Klinik von Charcot. Dahinter steht ein Polizeiwagen. »Gabrielle«, flüstert er.

Er springt aus dem Auto und rast zur Eingangshalle. Ich renne so schnell ich kann hinterher und vergesse ganz, dass ich ihn gerade hasse, weil er mich angelogen hat. Wir stürmen beide die Treppen hoch zur Wohnung. Da stehen sie im Flur, zwei Bullen in Uniform, ein Mann im weißen Kittel und einer in Zivil. Sie warten vor der Tür. Der in Zivil klebt förmlich am Schlüsselloch, ich vermute er spricht durch die Tür mit Gabrielle.

Sie haben unser Gepolter auf der Treppe gehört und umringen uns sogleich, mit Ausnahme des Typen, der auf die Tür einredet. Zé beeindruckt das nicht weiter. »Was tun Sie hier?«

»Sind sie Monsieur Palaisot?«, fragt der Krankenpfleger. »Ja, warum?«

Sie sehen sich betreten an. Der Mann, der mit Gabrielle spricht, ergreift schließlich das Wort.

»Wir erklärten Mademoiselle Ross gerade, dass ihr psychischer Zustand eine Unterbringung nötig macht, sie will das offenbar nicht wahrhaben.«

»Was wissen Sie denn schon?«, schreit Zé. »Sie haben ja noch nicht mal mit ihr gesprochen!«

»Das würde ich ja gerne, wenn sie aufmachen würde. Aber wir haben hier einen Antrag auf Zwangseinweisung vorliegen und zwei Gutachten von Psychiatern, die sie nach ihrem letzten Selbstmordversuch in der Klinik beobachtet haben.«

Zé richtet sich zu voller Größe auf, das wirkt direkt einschüchternd auf den nicht sehr groß gewachsenen Arzt, aber die beiden Bullen nähern sich sogleich unauffällig. Ich sehe schon die ganze Katastrophe vor mir: Sie in der Psychiatrie, er im Gefängnis, ich im Heim.

»Der Antrag liegt uns vor«, wiederholt er.

»Ja.«

»Er stammt von ihrem Bruder Thomas Ross. Sie sind dabei eine große Dummheit zu begehen.«

Seine Stimme klingt zittrig, obwohl er sehr leise spricht. Der eine Bulle hat schon die Hand am Halfter. Da bekomme ich es richtig mit der Angst zu tun. Ich muss an Saïds eingeschlagenen Schädel denken, an sein mit blutroter Farbe auf die Mauern gesprühtes Portrait und an das Wort daneben, das keinerlei Bedeutung mehr hat, wenn es denn je eine Bedeutung hatte: »Gerechtigkeit«. Ich habe Angst, Zé könnte es genauso ergehen.

»Ihr Bruder kann es nicht ertragen, dass sie den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen hat«, fährt er fort. »Er hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen, zuletzt hat er sich gewaltsam bei uns Zutritt verschafft. Ich lebe schließlich mit ihr zusammen und …«

»Und Sie haben Ihren eigenen Aufenthalt in Charcot in sehr schlechter Erinnerung«, ergänzt der Psychiater und blickt ihm dabei direkt in die Augen. »Aber Mademoiselle Ross hat in den letzten vier Monaten zwei Selbstmordversuche unternommen, insofern brauchen wir die Meinung ihres Bruders nicht, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie dringend medizinischer Behandlung bedarf. Ich fordere Sie also auf, Ihren Widerstand gegen diese Zwangseinweisung aufzugeben. Machen Sie es doch nicht unnötig kompliziert.«

Zé wirkt entmutigt. Zeitgleich mit ihm realisiere ich, dass seine Worte für diese Leute kein Gewicht haben. Er ist und bleibt ein potentieller Mörder mit Psychiatrie-Vergangenheit. Zwar gilt er als geheilt, aber niemand weiß, ob er nicht plötzlich eine neue Krise durchmacht. Darum ist seine Meinung unwesentlich. Man schiebt sein Misstrauen gegenüber der Psychiatrie allein auf seine Erfahrung als ehemaliger Insasse. In den Augen der anderen ist es also bloße Zeitverschwendung, sich dieses Gejammer anzuhören, sie buchen es unter reiner Paranoia ab.

Die Bullen stürzen nach vorne und beziehen links und rechts von Zé Posten. »Vielleicht können Sie ja Mademoiselle Ross davon überzeugen, die Tür zu öffnen«, sagt der Psychiater. »Verschwinden Sie, aber schnell.«

Der Arzt weicht einen Schritt zurück und hinterlässt eine Lücke, die sofort von den Ordnungskräften geschlossen wird. Anscheinend haben sie sich stillschweigend darauf verständigt, mit ihren Körpern eine Barriere zu bilden. Der Krankenpfleger und der Psychiater wenden sich erneut der Tür zu.

»Mademoiselle Ross… wir bitten Sie, machen Sie die Tür auf, damit wir reden können.«

»Ich gehe da nicht hin«, hört man Gabrielle sagen, ihre Stimme wird durch die papierdünnen Wände kaum gedämpft.

»Ich bitte Sie. Ich bin Doktor Amaris, erinnern Sie sich an mich?«

»ICH GEHE DA NICHT HIN!«

Sie klingt wie ein wütendes Kind. Ich trete ein paar Schritte zurück. Das, was jetzt kommt, möchte ich nicht miterleben, weder Zé noch ich werden es verhindern können, das weiß ich. Ich drehe mich Richtung Treppenhaus, möchte mir am liebsten Augen und Ohren zugleich zuhalten, und zwar so lange, bis ich mich in einer neuen Welt wiederfinde, einer Welt, in der niemand sterben möchte, weil das Leben einfach nur schön wäre, und eine Welt, in der niemand gezwungen wäre, am Leben zu bleiben. Denn das kommt mir ungefähr genauso grausam vor, wie jemanden zu töten.

»Das Kind!«, höre ich den Psychiater sagen.

Kurz darauf nimmt der Krankenpfleger mich am Arm und fordert mich auf, mit ihm nach unten zu gehen. Ich leiste keinen Widerstand. Wir steigen die Treppe herunter und sagen kein Wort, bis wir ins Freie gelangen. Er bringt mich zum Krankenwagen. Es kommt mir so vor, als wäre er ebenso erleichtert wie ich, der Szene entflohen zu sein. Ich frage mich, ob er dieses Vorgehen womöglich missbilligt. Vielleicht ist er ja ein typischer Vertreter der schweigenden Mehrheit und tut alles, was man ihm aufträgt, selbst wenn es ihm zuwider ist.

Er lächelt mich an.

»Möchtest du dir mal den Krankenwagen ansehen?«

Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. »Nein.«

Er sagt mir, wie er heißt, fragt mich nach meinem Namen, ich gebe ihn nur widerwillig preis. Ich hasse ihn, auch wenn ich weiß, dass das Ganze nicht seine Schuld ist. Also stehen wir nebeneinander am Rande des Bordsteins herum, sehen dabei zu, wie die Stadt erwacht, wie Arbeiter zur Arbeit gehen, Schüler zur Schule. Jeder hat seinen Platz, jeder folgt seinem vorgezeichneten Weg und alle bewegen sich am Abgrund entlang.

Ich würde ihm gerne etwas über Gabrielle erzählen, das bisschen, was ich von ihr weiß, ihm erzählen, wie sie schweigt, wie sie sich bewegt, wie sie schaut, wie sie spricht, wie sie atmet, wie sie jetzt gerade ist, damit er einen Vergleich hat, wenn morgen die Medikamente ihre Wirkung getan haben werden.

GINA. Es stimmt, so konnte es nicht weitergehen.

Papa wurde immer komischer. Es gab Phasen, da interessierte ihn gar nichts, und dann wieder andere, in denen er noch auf das geringste Detail achtete. Irgendwann ertrug er bestimmte Farben, Motive oder Materialien nicht mehr. Als ich mal eine grüne Hose anzog, gab er mir eine Ohrfeige, das hatte er noch nie getan.

Er sagte Dinge, die weder Hand noch Fuß hatten und wurde paranoid. So meinte er zum Beispiel, man würde ihn auf der Straße verfolgen. Mama und ich gingen ihm abwechselnd nach und stellten fest, dass da niemand war. Er behauptete, sie hätten Mikrofone und Kameras in unserer Wohnung installiert und würden uns permanent beobachten. Aber er konnte bis zum Schluss nicht sagen, wen er eigentlich mit »sie« meinte. Am Ende glaubte er, »sie« würden mit ihm sprechen, wenn er schlief, direkt in seinem Gehirn mithilfe eines Chips.

Mama konnte nicht mehr, ich auch nicht. Es war einfach nicht mehr auszuhalten. Das ging einige Monate so, dann war er einmal in der Notaufnahme wegen einer Lebensmittelvergiftung. Die Ärzte fanden ihn stark verhaltensauffällig und forderten Mama auf, die Zwangseinweisung zu unterschreiben. Sie überlegte, fragte Papa, ob er dahin wollte, er war einverstanden, also tat sie es.

Wir wussten uns nicht anders zu helfen, es raubte uns beiden den Verstand. Ich glaube, wir sahen uns schon dazu verdammt, ein Leben lang Krankenschwester für ihn zu spielen, und das konnten wir nicht.

Er kam nach Charcot in die Geschlossene, auf die Orchideen-Station. Zunächst durfte er keinen Besuch bekommen. Als wir ihn dann das erste Mal besuchten, wirkte er verändert. Er redete kein wirres Zeug mehr, dafür sagte er kaum noch was. Man hatte den Eindruck, er empfand überhaupt nichts mehr.

Mama sprach seinen Psychiater darauf an. Der sagte, das sei normal, man müsse erst die richtige Dosierung für ihn finden, das dauere immer eine Weile. Wir warteten und warteten und warteten. Und dann hängte er sich eines Tages auf.

Auch rückblickend weiß ich nicht, was man hätte tun sollen. Sein Selbstmord war, glaube ich, unabwendbar. Wir haben ihn sterben lassen, weil wir nicht mehr konnten, aber es hätte nicht auf diese Art und Weise passieren dürfen. Wir konnten ihm nichts Besseres bieten, hätten das jedoch nicht einfach so hinnehmen dürfen …

So laufen die Dinge eben, Mattia. Die Richter nehmen für sich in Anspruch, Recht zu sprechen, die Bullen, Gewalt anzuwenden, und die Ärzte, zu beurteilen, wer gesund ist und wer nicht. Verrückte gehören in die Anstalt, und maß dir bloß nicht an, einen Platz einzunehmen, der dir nicht zusteht.

Und dann bringen sie Gabrielle raus.

Sie wehrt sich nicht. Sie geht allein. Die Bullen gehen neben ihr, der Psychiater vorne weg, Zé hinter ihr. Unter seinen hilflosen Blicken wird sie zum Krankenwagen geführt. Der Krankenpfleger lächelt mir aufmunternd zu, ich reagiere nicht darauf. Dann lässt er mich stehen, steigt hinter dem Psychiater und Gabrielle in den Krankenwagen. Sie hebt kurz die Hand zum Abschied, versucht Zuversicht auszustrahlen, aber ich bin ja nicht blöd.

Zé steht beim Wagen, eingerahmt von den Bullen, für den Fall, dass er in letzter Minute versuchen würde, sie zu kidnappen.

»Keine Sorge, wir holen dich da wieder raus!«

Sie nickt. Die Türen schließen sich. Es ist ein äußerst dramatischer Moment, und mir kommt es vor wie ein Abschied für immer.

Der Krankenwagen fährt los. Ich gehe zu Zé herüber, der ihm mit finsterem Gesicht hinterherblickt. Die Bullen sind immer noch da. Einer fragt Zé:

»Ist das der Sohn von Mademoiselle Ross? Sind Sie in der Lage, sich um ihn zu kümmern?«

Zé verzieht verächtlich das Gesicht.

»Seit wann macht ihr Bullen denn einen auf Fürsorge?«

Er verkneift sich eine Beleidigung und fügt hinzu:

»Das ist mein Mündel, und ich bin sehr gut in der Lage, mich um ihn zu kümmern, danke.«

Der Polizist mustert uns beide, er scheint da seine Zweifel zu haben angesichts von Zés Alter und natürlich seiner Psychiatrie-Vergangenheit, die der Arzt vorhin erwähnt hatte, ohne sich um das Arztgeheimnis zu scheren. Mein Vormund steckt sich eine Zigarette an. Er nimmt mich an der Hand – wahrscheinlich nur, um sich aus der Affäre zu ziehen – und führt mich zum Auto. Gleich fängt die Schule an.

»Monsieur Palaisot«, ruft der Bulle uns nach.

»Wir haben bereits einen Termin beim Familiengericht«, gibt Zé zurück, ohne sich umzuwenden. »Ihre Kumpels waren schneller, danke.«

Während er den Wagen anlässt, blicke ich noch einmal an der Fassade hoch. Viele Nachbarn hängen an ihren Fenstern und hüllen sich wie üblich in Schweigen. Auch sie hasse ich in diesem Moment.