Zwanzigstes Kapitel

Ich gedachte der Asche zerstörter Imperien: In die geweihten Gräber Roms stieg ich hinab, beseelt vom heiligsten Gedenken, und störte ihre kalte Ruhe, in meinen Händen wog ich die Asche der Helden.

de Lamartine, Der Mensch

Es ist nach Mitternacht. Ich liege mit weit geöffneten Augen in meiner improvisierten Bude in der Spielzeugabteilung und höre Zé dabei zu, wie er Gedichte vorträgt, die andere sich ausgedacht haben. Seine Stimme hat etwas Tröstliches. Sie ist warm, ruhig und klar. Sie beruhigt mich, selbst wenn Lamartine uns bei der Lösung unserer Probleme auch nicht wirklich weiterhilft.

Es ist Freitagabend, Gabrielle ist seit zwei Tagen in der Psychiatrie. Sie darf noch keinen Besuch bekommen. Zé ruft täglich an, um zu hören, wie es ihr geht, aber sie geben ihm keine Auskunft, weil er kein Angehöriger ist, und sie hat auch nicht das Recht zu telefonieren.

Ich bin ungeheuer erleichtert, dass endlich Wochenende ist. Beim Gedanken daran, wie viele Jahre ich noch zur Schule gehen muss, habe ich das Gefühl, ein Abgrund tue sich vor mir auf. Und dabei zähle ich nur die Jahre bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr, wenn die Schulpflicht endet. Länger gehe ich da bestimmt nicht hin, das ist schon das Äußerste. Und mal vorausgesetzt, Zé behält das Sorgerecht, dürfte es ihm schwerfallen, mich davon abzubringen. Schließlich hat er selber die Schule vorzeitig geschmissen. Hätte er es schon früher getan, wäre er womöglich nie hinter diesen hohen Mauern gelandet.

Und wir wären uns vielleicht nie begegnet.

Von ihrer leeren Asche wollte ich jene Unsterblichkeit erbitten, die jeder Sterbliche sich erhofft! Was sage ich da? Ich hing am Bett der Sterbenden, meine Blicke suchten sie in erlöschenden Augen.

Seine Stimme kommt näher. Dann erscheint sein Kopf im Zelteingang. Er lächelt.

»Schläfst du nicht?«

»Nein, rezitier weiter, das ist schön.«

Aber er duckt sich, bis er ins Zelt hineinkrabbeln kann. Er setzt sich im Schneidersitz auf die Decke und kratzt sich ein paar Mal am Kopf – ein Zeichen für seine Verlegenheit. Ich stütze mich auf meine Ellbogen, ich ahne, dass gleich irgendein Geständnis kommt. »Ich habe heute Nachmittag mit deinem Bruder gesprochen. Ich wollte wissen, warum du eigentlich neulich bei ihm warst.«

Stille.

»Er hat gesagt, du hättest ihn gelöchert, wie das damals mit Saïd Zahidis Tod war.«

Stille.

»Und dass er dir die Wahrheit gesagt hat.«

»Im Gegensatz zu dir!«

Er sieht mich groß an.

»Ich habe dich nie angelogen.«

»Nein, die Erwachsenen lügen Kinder ja nie an, das ist ja bekannt. Als ich dich gefragt habe, was die wollten, hast du mir geschworen, du hättest keine Ahnung.«

»Das stimmt ja auch«, beharrt er.

Ich blicke ihn prüfend an. Er klingt so aufrichtig, dass es mir schwerfällt, das anzuzweifeln. Es stimmt. Bisher hat er mir immer die Wahrheit gesagt.

»Ich habe dir Dinge verheimlicht«, gibt er zu. »Aber ich hätte dir die Wahrheit gesagt, wenn du mich danach gefragt hättest.«

»Super! Wie hätte ich denn bitte ahnen sollen, dass das schon mal passiert ist?«

»Es hätte dich auch nicht weitergebracht, wenn du es gewusst hättest. Also, hör mir zu.«

Er legt sich neben mich, stützt den Kopf in die Hände.

»Dein Vater hat mir von diesen Bullen erzählt, die ihn verfolgt haben, als wir zusammen in der Klinik waren, aber da er dazu neigte zu fantasieren, hielt ich das für Paranoia. Vielleicht hat er mir wirklich wichtige Dinge anvertraut, die ich damals nicht für voll genommen habe. Deine Mutter hat mir dann später diese Geschichte erzählt. Aber ich weiß auch nicht mehr darüber als dein Bruder. Die Bullen dachten, dein Vater besäße irgendeine Information, die ihrer Version des Tathergangs widersprach. Sie hatten Angst, diese Information könnte den internen Ermittlern der Polizei in die Hände fallen, daher die Einbrüche. Und dann muss etwas passiert sein, dass diese Angst erneut in ihnen geweckt hat. Offenbar glauben sie, dass diese Beweise, oder um was auch immer es sich handelt, immer noch existieren. Vermutlich denken sie, dass dein Vater sie jemandem gegeben hat, zum Beispiel deiner Mutter oder auch mir, weil ich sein Zimmernachbar war und das Sorgerecht für dich bekommen habe.«

Er seufzt einmal tief, klemmt sich eine Zigarette zwischen die Lippen, sieht mich an und überlegt es sich anders. Durch den Qualm würde die Luft im Zelt schnell unerträglich stickig. Also schiebt er sich die Kippe hinters Ohr. »Und, ist das der Fall?«, frage ich, da er ja offenbar nur bereit ist, die Wahrheit zu sagen, wenn ich ihn ausfrage.

»Nein, ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Meiner Ansicht nach ist Amélia die Einzige, die das weiß.«

»Und die ist verschwunden …«

»Ja …«

Einen Moment lang herrscht Stille. Auf einmal bin ich müde, ich zwinkere, um nicht einzuschlafen. Es kommt schließlich nicht oft vor, dass er mit mir reden möchte. Er dreht sich auf den Rücken und verschränkt die Arme unterm Nacken.

»Denkst du, sie haben sie getötet?«

»Hä?«

»Die Bullen. Denkst du, die haben meine Mutter getötet?«

Er richtet sich blitzartig auf und blickt mich furchtbar ernst an.

»Mattia, sieh mir in die Augen!«

Ich gehorche.

»Natürlich nicht. Sie ist am Leben. Nach dem Einbruch ist sie sicher von sich aus weggegangen. Wahrscheinlich fühlte sie sich bedroht. Die Bullen töten nicht einfach so jemanden.«

»Saïd haben sie schon einfach so getötet.«

»Ich meine, sie bringen niemanden kaltblütig um, jedenfalls nicht wegen so einer Nichtigkeit. Der Mord an dem Jungen ist verjährt, der Prozess ist gelaufen, die Frist, Revision einzureichen, ist verstrichen. Der Bulle kann nicht mehr verurteilt werden, egal was passiert, selbst wenn es Beweise dafür gäbe, dass es sich anders zugetragen hat, als er behauptet.«

»Warum suchen sie dann noch danach?«

»Vielleicht haben sie Angst vor Unruhen, falls diese Informationen an die Medien weitergegeben würden …«

Ich blicke auf die Zeltwand, die mich von der Kamera abschirmt. Ich frage mich, wie er es erträgt, bei seiner Arbeit permanent gefilmt zu werden. Wahrscheinlich nimmt er die Kameras überhaupt nicht mehr wahr.

»Deine Mutter kommt sicher bald zurück oder lässt uns zumindest irgendwie eine Nachricht zukommen. Aber jetzt schlaf, es ist spät.«

Ich nicke. Er streicht mir übers Haar, statt »Gute Nacht« zu sagen, dann setzt er seine Runde fort. Ich schließe die Augen und höre ihn sein Gedicht rezitieren.

Ich wollte weiter in dieses dunkle Grauen eintauchen. Aber vergeblich, die Ruhe war bleiern, all mein Feuer prallte an ihr ab. So suchte ich nach dem großen Geheimnis und konnte es nicht finden. Überall um mich herum sah ich einen Gott, aber ich verstand ihn nicht!

Er hat den Tennisball wieder an meinen Pyjama genäht, damit das Ding mich nicht mehr aufsuchen kann. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass permanent etwas Schweres auf meiner Brust lastet, selbst wenn ich nicht im Schlaf halluziniere.

Der Familienrichter sieht aus wie der Weihnachtsmann. Er ist alt, ganz gebeugt, hat einen weißen Bart und runde, rote Bäckchen, als wäre er einer Coca-Cola-Werbung entsprungen. Er wirkt viel sympathischer als Zés Eltern, überhaupt nicht so streng wie sie. Nacheinander empfängt er uns in seinem Büro im Amtsgericht. Unser Anwalt ist auch da. Er hat zwei Leumundszeugnisse dabei, eins von meinem Bruder und eins von Nouria. Gegen uns sprechen der Bericht der Polizei, die Aussage der Ärztin und die meiner Grundschullehrerin, die der Meinung ist, Zé hätte einen schlechten Einfluss auf mich. Ich warte geduldig auf einer roten Sitzbank in der riesigen Eingangshalle des Gerichts. Da gibt es so einiges zu sehen. Die Decken sind bestimmt fünf Meter hoch, sodass man sich im Vergleich dazu ganz klein fühlt. Das ist sicher Absicht. Überall stehen irgendwelche Statuen herum, die Justitia darstellen, und Sockel mit der Büste der Marianne drauf und hochtrabende Zitate zu den Rechten und Pflichten eines jeden Bürgers.

Treppen aus falschem Marmor führen in die oberen Stockwerke. Die Geländer sind durchsichtig, als wolle man dem Benutzer damit suggerieren, hier gehe alles transparent zu. Aber wer gezwungen ist, diese Treppen hochzusteigen, sitzt eh in der Scheiße und die ganzen Statuen, die Marianne und die schlauen Sprüche können einem dann auch gestohlen bleiben.

Ich beobachte eine Weile das Kommen und Gehen der Richter, Anwälte, Beschuldigten, Opfer mit ihren Angehörigen und Angestellten. Dieser Ort ist eine Welt für sich, ein abgeschlossener Kosmos, genau wie ein Krankenhaus, aber ich hoffe, dass ich nicht in die Verlegenheit komme, nähere Bekanntschaft mit ihm zu machen. Ich schaue auf die Türen, die in die Gerichtssäle führen. Wurde hier der Mörder von Saïd freigesprochen?

»Mattia?«

Ich blicke überrascht auf. Die weibliche Stimme kommt aus Richtung des Getränkeautomaten, der sich vor den Toiletten befindet, nur ein paar Meter entfernt. Sie gehört einer Frau um die fünfundzwanzig. Sie trägt Jeans und einen schwarzen Mantel und wartet darauf, dass ihr Kaffeebecher sich langsam füllt. Ihr Gesicht kommt mir zwar bekannt vor, aber ich weiß nicht, wer sie ist. Sie lächelt mich an. Sie wartet, bis der Automat das Wechselgeld ausgespuckt hat, dann kommt sie zu mir rüber.

»Siham«, sagt sie. »Ich bin eine Freundin deiner Schwester. Kennst du mich noch? Ihre Augen sind mit Kajalstift umrandet, der leicht verwischt ist. Dadurch wirkt sie erschöpft, irgendwie habe ich den Eindruck, die halbe Stadt ist gerade von dieser Erschöpfung ergriffen worden.

Wir küssen uns auf die Wangen. Sie setzt sich neben mich auf die Bank, pustet auf ihren Kaffee. »Was machst du hier?«, fragt sie. »Bist du etwa allein?«

Ich habe keine Lust, ihr die ganze Geschichte zu erzählen, zucke nur mit den Schultern, als wollte ich sagen, »halb so wichtig«, und sie fragt nicht weiter nach. Ich gebe die Frage zurück.

»Ich begleite einen Freund. Er hat bald einen Prozess und ist gerade bei seinem Pflichtverteidiger.«

»Und was wirft man ihm vor?«

Sie lächelt.

»Er macht Graffiti.«

»Das ist alles?«

»Die Bullen scheinen nichts Besseres zu tun zu haben.«

Aber ich höre ihr gar nicht mehr zu. Ich muss an die Nacht denken, als ich Karim gesehen habe, Karim und seinen Kumpel, die von den Bullen gejagt wurden. Ich traue mich nicht zu fragen, ob es um ihn geht.

Es folgt ein verlegenes Schweigen. Unsere Schicksale berühren sich zwar, aber ansonsten verbindet uns eigentlich nichts, nur der Tod unserer Angehörigen. Ich wünschte, ich wäre damals dabei gewesen, als Jugendlicher, als die Hochhäuser von Verrières noch standen. Ich hätte gerne etwas von dem Aufstand mitbekommen, der damals in der Luft lag und rund um die Hochhäuser wehte, nachdem sie Saïd getötet hatten. Und auch von ihm hätte ich gerne mehr mitbekommen als nur ein mit roter Farbe an die Wand gespraytes Gesicht.

Siham rührt in ihrem Kaffee. Sie starrt auf die leeren Augen der Justitia-Büste, die mehrere Meter über unseren Köpfen an der Wand hängt. »Hast du Gina kürzlich mal gesehen?«, frage ich.

Sie schaut weiter unverwandt nach oben.

»Vor ein paar Wochen.«

»Weißt du, wo sie jetzt ist?«

Sie zuckt die Schultern.

»Nein.«

»Und meine Mutter?«

»Amélia? Die habe ich schon ewig nicht mehr gesehen.«

»Hat Gina dir gesagt, dass sie verschwunden ist?«

Sie zögert unmerklich, dann nickt sie.

Und ich habe immer mehr das doofe Gefühl, dass sie mir etwas verheimlicht, so wie alle um mich herum. Ich würde gerne mit ihr über meinen Vater sprechen, sie fragen, ob sie eine Ahnung hat, was es mit diesem angeblichen Beweis auf sich hat, den die Bullen selbst nach seinem Tod immer noch suchen. Aber ich weiß, dass sie mir eh nicht antworten würde. Es gibt halt Dinge, die man Kindern lieber vorenthält.

Die Tür des Richters geht auf, Zé und sein Anwalt kommen heraus, in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Siham steht auf. Sie wuschelt mir kurz mit einer Hand durch die Haare wie alle Erwachsenen, wenn sie nicht mehr wissen, was sie sagen sollen.

»Ciao, Mattia.«

»Ciao …«

Sie nickt Zé kurz zu, er nickt zurück. Mein Vormund kommt zu mir rüber.

»Du bist dran.«

»Und, lief es gut?«

»Keine Ahnung.«

Der Richter bietet mir einen gut gepolsterten Stuhl an. Er lächelt und versucht den Eindruck zu vermitteln, dass er das nicht aus bloßer Höflichkeit tue, aber es wirkt dennoch leicht gezwungen. Ich kenne dieses Lächeln bereits vom Krankenhauspersonal und von den Mitarbeitern des Jugendamtes. Sie wollen angeblich immer nur das Beste für einen, nur haben sie in all den Jahren etwas aus dem Blick verloren, nämlich, was das Beste überhaupt ist.

Auf seinem Schreibtisch steht ein Computer, gerahmte Fotografien, hinter ihm an der Wand hängen Kinderzeichnungen, die in krakeliger Schrift signiert sind. Häuser, Wälder, kleine Familien, Mama, Papa, Geschwister und der glückliche Künstler selbst, der übers ganze Gesicht strahlt.

»Hallo Matéo. Ich heiße Frank Kowalski. Hat dein Vormund dir erklärt, warum ich euch einbestellt habe?«

»Ja.«

»Ich stelle dir jetzt ein paar Fragen und bitte dich, sie so ehrlich wie möglich zu beantworten. Du weißt, was »ehrlich« heißt, oder?«

Ich verdrehe die Augen.

»Ja.«

»Das Ziel dieser Fragen ist, dass du mir dabei hilfst, die beste Lösung für dich zu finden.«

Ich nicke und schiebe meine Hände unter meine Oberschenkel, um nicht zu zeigen, wie nervös ich bin. Er tippt eine Weile auf seiner Tastatur herum, dann verschränkt er die Arme auf seinem Schreibtisch und gibt sich betont entspannt. »Dein Vormund kümmert sich seit fünf Jahren um dich. Was hältst du von ihm?«

Ich überlege.

»Keine Ahnung, er ist nett.«

»Nett.«

»Ja.«

»Versteht ihr euch gut?«

»Ja.«

»Wird er manchmal wütend?«

»Nicht oft, ich bin brav.«

Er lächelt.

»Das glaube ich dir. Und wenn du mal nicht brav bist? Du machst doch sicher auch mal eine Dummheit wie alle Kinder.«

»Dann bekomme ich eine Strafe.«

»Und was für eine?«

»Dann darf ich nicht fernsehen oder er zwingt mich, in meinem Zimmer zu bleiben, solche Sachen halt.«

»Er zwingt dich?«

»Ich meine, ich darf nicht raus.«

»Schreit er dich denn nie an?«

»Nein, er ist sehr ruhig.«

»Versohlt er dich, gibt er dir mal eine Ohrfeige …«

»Nie.«

»Kein einziges Mal?«

»Nie.«

Er wirft einen prüfenden Blick auf seinen Bildschirm. Auf einmal fällt mir wieder ein, dass die Notärztin angekündigt hatte, eine Meldung zu machen.

»Einmal«, korrigiere ich mich schnell. »Das ist noch nicht lange her, da hat er mir eine Ohrfeige gegeben.«

»Hat das wehgetan?«

»Ein bisschen.«

»Warum hat er dich geschlagen?«

»Weil ich ihn Mörder genannt habe.«

Er trommelt mit den Fingern gegen sein Brillengestell.

»Ich war sauer wegen der Schule, meine Noten sind nicht so besonders, obwohl ich mir Mühe gebe.«

»Und deshalb warst du sauer auf ihn? Findest du, er hilft dir nicht genug?«

»Doch, er hilft mir.«

»Und warum hast du ihn dann beleidigt?«

»Um davon abzulenken, dass es mein eigener Fehler war.«

Er schaut mich an. Ich setze ein reuevolles Lächeln auf, als wäre ich ein armer kleiner Junge, der nicht weiß, was er tut. Das funktioniert. Er lächelt zurück.

»Dein Vormund hat mir gesagt, du wüsstest darüber Bescheid, dass es in seinem Leben … äh … mal eine schwierige Phase gab.«

»Ja.«

»Ist das ein Problem für dich?«

»Nein.«

»Fühlst du dich bei dir zu Hause nie in irgendeiner Form bedroht?«

»Nein, es ist alles in Ordnung, Zé beschützt mich.«

Dann kommt er auf die Nacht zu sprechen, in der die Bullen mich gefunden haben, im tiefsten Winter, aufgeputscht durch Energydrinks. Ich versuche bei der Wahrheit zu bleiben, aber spare aus, dass Zé mich darum gebeten hatte, auf Gabrielle aufzupassen, für den Fall, dass sie einen erneuten Selbstmordversuch unternehmen würde. Er stellt mir zwei, drei Fragen zu ihr. Ich hatte mit Zé besprochen, was ich darauf sagen soll. Also beteuere ich, nicht zu wissen, dass sie sterben wollte, und sage, Zé hätte mir gegenüber von einem Unfall gesprochen. Der Richter verzichtet darauf, mir die Wahrheit zu sagen. Ich tue so, als hätten ihre diversen Krankenhausaufenthalte mich nicht weiter beunruhigt.

Am Ende knackt er mit den Fingern.

»Sehr gut, vielen Dank, Matéo.«

»Ich heiße Mattia, Monsieur, aber ist egal.«

Er begleitet mich zurück in die Eingangshalle. Dort wartet Zé, der überarbeitete Anwalt ist bereits verduftet. Schweigend gehen wir zum Auto.

»Ich besuche Gabrielle in Charcot«, sagt er nach ein paar Minuten. »Willst du mitkommen?«

Ich denke an die Mauern, an das Zimmer, in dem mein Vater sich erhängt hat, in dem immer ein bestialischer Gestank herrschte, an die weißen Kittel und die leeren Blicke, an die wackeligen Schritte. Eigentlich möchte ich nicht mit, aber ich sage ja.

Da ist sie. Gabrielle wirkt sehr zierlich in ihrem blauen Pyjama. Seit einer Woche ist sie hinter den hohen Mauern von Charcot auf der Orchideen-Station, von Eingeweihten auch schlicht »C4« genannt. Hier haben Zé und mein Vater sich damals ein Zimmer geteilt, als sie beide den Boden unter den Füßen verloren hatten. Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Gänge. Das Zimmer, in dem er sich umgebracht hat, liegt gegenüber von ihrem.

Gabrielle sitzt im Schneidersitz auf dem Bett und schaut aus dem Fenster. An der Wand hängt ein Fernsehapparat, aber er ist nicht angeschlossen. Ein Nachttisch. Ein Telefon. Ein Schreibtisch unter dem Fenster, das auf den Raucherhof rausgeht, wo ein paar Insassen, die den gleichen Pyjama tragen wie sie, auf und ab gehen. Es hat sich seit damals nicht viel verändert, außer dass es jetzt Kameras gibt.

Zé sitzt rechts neben ihrem Bett auf einem Stuhl, hat seine Hand auf ihre Hand gelegt und blickt ins Nichts. Ihre Augen wirken müde, sind rot gerändert, geschwollen, man meint, sie wäre in dieser einen Woche um zehn Jahre gealtert. Hier altert man schneller, im Herzen dieser Anstalt, die einem jeden Tag ein Stückchen mehr Substanz raubt, weil man der Meinung ist, diese Substanz würde nur Schmerzen verursachen.

Ich lehne an der Tür, die Hände in den Jackentaschen vergraben, und beobachte die Leute, die draußen vor dem Fenster wie in Zeitlupe vorbeigehen.

Zwischen uns Dreien herrscht natürlich mal wieder Stille, eine Stille, die uns nicht vereint, sondern trennt.

Nach einer guten halben Stunde bricht Gabrielle endlich das Schweigen.

»Du hättest sie daran hindern sollen.«

Sie sieht ihn nicht an. Ich spüre förmlich, wie jede einzelne Silbe Zé mitten ins Herz trifft. Er drückt ihre Hand noch ein wenig fester.

»Ich habe es versucht.«

»Von wegen.«

Ihre Stimme klingt schleppend. Das sind die Medikamente. In den fünf Jahren, die mein Vater unter Medikamenteneinfluss stand, hat er diese unnatürlich langsame Art zu sprechen nie abgelegt. »Wenn du das gewesen wärst, dann hätte ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, dass sie dich hierherbringen. Ich dachte, ich bin dir wichtig.«

»Bist du ja auch!«

»Dann hol mich hier raus, verdammte Scheiße!«

Verblüfftes Schweigen. Sie flucht nicht besonders oft. Und normalerweise schreit sie auch nicht, aber jetzt hat sie geschrien. Zé schaut zu Boden, er kämpft mit den Tränen. Sie entzieht ihm ihre Hand.

Ich verdrücke mich, ich würde gerne vor der Tür etwas frische Luft schnappen, aber ich kann die Klinik nur verlassen, wenn mir ein Pfleger die Tür öffnet, und es ist keiner zu sehen. Also begnüge ich mich mit dem rundum eingezäunten Raucherhof. Ein Mann um die zwanzig ist damit beschäftigt, den Efeu abzureißen, der am Zaun hochwächst, eine Frau, die im Gras kauert, schaut ihm aus einigem Abstand dabei zu. Als sie mich sieht, lächelt sie. Ich zwinge mich dazu, ihr Lächeln zu erwidern. Es ist offensichtlich, dass sie Hilfe braucht, aber ich kann nichts für sie tun, ich kann für niemanden etwas tun.

Ich stelle mich in die Mitte des Hofes und bemühe mich, an nichts zu denken. Nicht so einfach, während der Typ neben mir sich an dem Gitter abarbeitet und dabei ein Grunzen von sich gibt, das immer schriller klingt, je mehr er sich anstrengt. Eines Tages werde ich hier sicherlich auch landen, auf der falschen Seite des Zauns. So gesehen kann ich mich auch schon jetzt daran gewöhnen.

Ich versuche mir vorzustellen, wie mein Alltag aussehen würde, aber es gibt hier schlicht nichts zu tun. Also rauchen die Leute. Sie gehen auf und ab. Sie langweilen sich. Medikamente, Mahlzeiten, Schritte auf dem Gang, Stille.

Ich hocke mich ins Gras. Am liebsten würde ich heulen. Wütend wische ich die Tränen weg. Die Frau fragt mich, ob alles okay ist, ich sage ja. Ich habe keine Lust, mit ihr zu reden. Sie verschwindet im Gebäude. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bis Zé sich neben mich hockt. »Komm Mattia, wir gehen«, sagt er mit einer sehr sanften Stimme.

Ich klammere mich an seinen Ärmel. Er zieht mich hoch, ist überrascht, dass ich ihn anfasse, wir berühren uns sonst nicht so oft. Ich hänge mich an seinen Arm, von der irrationalen Angst getrieben, irgendjemand könnte uns daran hindern zu gehen, die Pfleger könnten uns den Weg versperren und sagen: »Sie bleiben für immer hier.« Denn wenn das passieren sollte, wer würde uns dann hier rausholen?

Aber niemand stellt sich uns in den Weg.