Einundzwanzigstes Kapitel

»Das überlebt sie nicht.«

»Du verstehst das nicht richtig, Mattia.«

»Ich sage dir, sie krepiert da. Zé ist der Einzige, der sie davon abhalten kann, und selbst dem gelingt es nicht immer. Mit irgendwelchen Pillen wird man sie kaum davon überzeugen, dass sie im Grunde glücklich ist.«

»Darum geht es auch nicht.«

»Worum dann?«

Nouria seufzt. Sie steht auf, um aus dem Fenster zu schauen, wie immer, wenn sie mit einem Problem konfrontiert ist. Ich blicke zu ihr herüber, aber stelle mich nicht neben sie. Aus lauter Nervosität habe ich so an meinen Fingern gezerrt, dass sie mir wehtun. Nun gehe ich dazu über, mich heftig an der Innenseite meiner Handgelenke zu kratzen, und zwar dort, wo die Narben noch immer weiß und leicht erhaben zu sehen sind. »Sie geben ihr nicht nur Medikamente, sie bekommt sicher auch eine Psychotherapie.«

Ich lache schrill auf.

»Sie spricht doch noch nicht mal mit uns!«

»Manchmal ist es leichter, mit einem Therapeuten zu reden. Sieh uns an, was du mir hier erzählst, erzählst du das vielleicht Zé oder Gabrielle?«

»Nein, das stimmt.«

»Siehst du? Vielleicht tut es ihr am Ende doch gut, in der Klinik zu sein.«

»Sie will nur eins, aus diesem Leben verschwinden. Und die wollen sie zwingen zu leben.«

»Wer?«

»Na alle, Zé, die Ärzte, ihr Bruder …«

»Ihr Bruder?«

Ich berichte ihr von der Nacht, in der ich ihn bei uns überrascht habe. So nach und nach erzähle ich ihr alles, was ich in den letzten Tagen in Bezug auf meinen Vater und den Wahnsinn, den sie ihm eingeimpft haben, in Erfahrung gebracht habe. Sie können erzählen, was sie wollen, ich bin überzeugt, dass das alles mit diesen Beschattungsmaßnahmen angefangen hat. Durch sie hat sich sein natürliches Misstrauen in eine »paranoide Schizophrenie« verwandelt. Man mag die Halluzinationen und Wahnvorstellungen für alles Mögliche verantwortlich machen, Einbrüche begehen die in der Regel aber nicht.

Sie setzt sich wieder in ihren Sessel.

»Also … das ist ja geradezu filmreif.«

»Papa hat sich das Leben genommen«, gebe ich zurück. »Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Aber sie haben alles dafür getan, ihn so weit zu bringen.«

»Du meinst, sie sind schuld daran, dass er den Boden unter den Füßen verloren hat?«

»Das hat mit dem Mord an Saïd zu tun, mit der Reaktion der Richter darauf, mit der ganzen Scheiße, die uns umgibt.«

»Ich wusste bisher gar nicht, dass du ein kleiner Revolutionär bist.«

»Darum geht es nicht, ich rede nicht über Politik, ich rede über das, was hier los ist.«

»Das ist Politik.«

»Es ist mir völlig egal, wie das heißt. Ich durchschaue das auch nicht alles. Ich lebe hier, seit ich denken kann, und habe bisher nicht besonders viel mitbekommen. Noch habe ich nicht genug Lebenserfahrung, um zu wissen, wie das ganze Leben so läuft. Aber das bisschen, was ich sehe … Ich verstehe Gabrielle und ich verstehe meinen Vater. Man muss schon irre sein, um in dieser Welt leben zu wollen. Eigentlich gehören wir alle in die Anstalt.«

Sie sieht mich forschend an.

»Möchtest du etwa sterben?«

Ich zucke zusammen. Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Dann fällt mir wieder ein, dass ich das erste Mal bei Nouria war, nachdem ich mit diesem verdammten Messer herumhantiert hatte, mit der Folge, dass meine Mutter mir ihre Liebe entzogen hat. Und da wird mir klar, dass das ihre große Angst ist. »Nein«, sage ich. »Aber ich verstehe diejenigen, die das wollen.«

»Verstehen kann das jeder, darum geht es nicht.«

»Und worum geht es dann?«

»Das Leben …«

»… ist ein kostbares Gut, ich weiß.«

Sie wischt meine Bemerkung mit einer wütenden Handbewegung weg.

»Wenn alle, die die Welt um sich herum nicht ertrugen, sich das Leben genommen hätten, statt zu kämpfen, dann hätte sich nie etwas geändert!«

»Dann sieh dir doch mal an, wie es heute um sie steht.«

Ich deute nach draußen. »Es verändert sich nie irgendetwas, das ist nur eine Illusion, weil das Leben sich weiterbewegt, weil die Erde sich dreht. Und sonst? Es ist eine einzige Scheiße, und es war schon immer eine einzige Scheiße. Punkt. Was willst du denn bitte ändern? Und wie?«

Sie lächelt mich traurig an.

»Einige suchen ihr Leben lang nach einer Antwort.«

»Kein Wunder, weil es nämlich keine Antwort gibt. Es ändert sich nichts. Nie. Man tritt immer nur auf der Stelle. Zumindest das habe ich kapiert.«

Eine ganze Weile herrscht Stille. Ich kratze heftig an meinen Handgelenken. Nouria starrt mich an, mit leerem Blick. Sie seufzt erneut auf. »Wenn es stimmt, was du sagst, dann bleibt dir nur noch, irgendwie durch die Maschen des Netzes zu schlüpfen.«

Wenn du die Dinge nicht mehr ertragen kannst, musst du den Blickwinkel ändern. Wo bist du, Gina? Hilf mir, ich brauche dich.

Zé hält sein Versprechen, er tut, was er kann, um Gabrielle da rauszuholen. Er fährt täglich nach Charcot, nimmt Kontakt zu einer Anwältin auf, die spezialisiert ist auf solche Fälle. Sie erklärt ihm, dass nur zwei Personen Gabrielles Entlassung anordnen können, ihr Psychiater oder die Person, die sie zwangseinweisen ließ. Ihm sind die Hände gebunden, und da er verrückt ist oder es zumindest war, kann er quasi gar nichts tun. Es ist immer das gleiche Problem: Er gilt als nicht vertrauenswürdig.

Also macht er sich auf die Suche nach Gabrielles Bruder, weil er denkt, der hätte den Schlüssel, um Gabrielle da rauszuholen. Das Problem ist nur, Thomas ist unauffindbar. Er steht nicht im Telefonbuch, er ist nirgendwo gemeldet, weder in der Region noch außerhalb. Als Zé im Krankenhaus nach Thomas’ Telefonnummer fragt, wimmelt man ihn ab und sagt, das sei eine vertrauliche Information. »Warum gehst du nicht zur Polizei?«, frage ich eines Abends, als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hat.

Anscheinend hat er mich gar nicht gehört. Zwischen seinen Lippen verglimmt eine Zigarette. Vor ihm steht ein Teller Bohnen aus der Konserve, den er nicht angerührt hat. Ich habe heute gekocht. Im Zuge von Gabrielles Selbstmordversuchen habe ich das lernen müssen. Immer wenn sie im Krankenhaus ist, hört Zé auf zu essen. Selbst wenn sie schon auf dem Weg der Besserung ist, rührt er nichts an. Er leidet so sehr mit ihr mit, dass er noch nicht mal an das denkt, was überlebenswichtig ist.

Das nennt man wohl Liebe – schön und zugleich ziemlich plemplem.

Nachdem ich aufgegessen habe, wende ich ihm den Rücken zu, um meinen Teller abzuwaschen. Dabei wiederhole ich meine Frage. Dieses Mal etwas lauter.

»Die Bullen halten zusammen«, antwortet er. »Seine Kollegen denken sicher, ich will ihm ans Leder. Da würden sie nur misstrauisch werden.«

»Meinst du, es ging ihnen bei der Beschattung eigentlich um Gabrielle?«

»Vielleicht. Ihr Bruder wusste nur, dass ich mit ihr zusammenlebe. Der Mietvertrag ist auf den Mädchennamen meiner Mutter abgeschlossen und mein echter Name steht nur auf dem Briefkasten. Es war also nicht leicht herauszufinden, wo ich wohne.«

»Und warum benutzt du nicht deinen richtigen Namen?«, frage ich und setze mich wieder ihm gegenüber.

Er stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ich habe immer Angst, dass eines Tages Angehörige von Émilie …«

Das Mädchen, das er getötet hat. Zé beendet seinen Satz nicht. Ich schaue verlegen zur Seite. Er erwähnt sie eigentlich nie. Ich warte kurz, bevor ich das Thema wieder aufgreife. »Wo arbeitet Gabrielles Bruder denn?«

»Keine Ahnung, nicht in dieser Stadt.«

»Und was machen wir nun?«

Er zuckt mit den Schultern, erinnert sich an seine Zigarette und drückt sie im Aschenbecher aus. »Wenn es keine andere Lösung gibt, dann holen wir sie da ohne offizielle Erlaubnis raus.«

»Sie haben sie schon mal abgeholt.«

»Dann ziehen wir eben um.«

»Das ist ein Bulle, der findet jede Adresse heraus.«

»Er hat ziemlich lange gebraucht, um diese herauszufinden.«

»Er weiß aber, in welche Schule ich gehe, und selbst wenn du mich ummeldest, kommt er sicher schnell dahinter.«

Darauf antwortet er nicht, sondern brütet schweigend vor sich hin. Ich überlasse ihn seiner Verzweiflung. Mir ist schon klar, dass ihm diese Unterhaltung seine ganze Ohnmacht vor Augen geführt hat. Später, nachts, als ich aufstehe, um ein Glas Wasser zu trinken, sitzt er immer noch in der Küche und kritzelt etwas auf lose Blätter. Er merkt nicht mal, dass ich da bin. Aus dem Augenwinkel sehe ich Zahlenfolgen und abstrakte Zeichen, eine unendlich lange Gleichung.

Er hatte sich doch geschworen, sich nach Émilies Tod nie wieder mit Mathematik zu beschäftigen. Klar, die Mathematik war nicht schuld an ihrem Tod, aber ich vermute Zé brauchte etwas, auf das er es schieben konnte, egal was. Und da es keine Person gab, stürzte er sich ausgerechnet auf die Zahlen, die nun wirklich nichts dafür konnten. Aber wie auch immer, ich halte das für ein schlechtes Zeichen.

Zwei- oder dreimal fragt Zé mich, ob ich ihn in die Klinik begleiten will, aber ich lehne unter dem Vorwand ab, ich müsse Hausaufgaben machen. Er tut so, als würde er mir glauben.

Im Moment läuft einfach alles schief. Ich stelle meine Bemühungen, mich in der Schule zu verbessern, ein. Da wir die Anhörung hinter uns haben, erlaube ich mir zu meiner gewohnten Mittelmäßigkeit zurückzukehren. Als meine Lehrerin mir damit droht, Zé einzubestellen, stecke ich ihr, dass Gabrielle in der Psychiatrie ist. Bei der Gelegenheit erwähne ich auch noch, dass mein Vater sich in derselben Klinik das Leben genommen hat und Zé ihn damals gefunden hat. Sie nuschelt irgendwas, das sich wie eine Entschuldigung anhört, und redet nicht mehr davon, dass sie mit ihm ein pädagogisches Gespräch führen müsse.

Meine Mutter bleibt verschwunden. Ich beginne mich ernsthaft mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass sie tot sein könnte, so wie ich mich damals innerlich auf den Tod meines Vaters vorbereitet hatte, um nicht unvorbereitet getroffen zu werden. Jeden Morgen beim Zähneputzen wiederhole ich im Flüsterton: »Sie ist tot, Mama ist tot!« Und nach und nach gewöhne ich mich an die Vorstellung. Allmählich vergesse ich auch, wie sie aussah. An das Gesicht meines Vaters erinnere ich mich überhaupt nicht mehr.

Eines Nachts, als ich allein bin, kehre ich zu der Baustelle zurück, die dort ist, wo mal Verrières war. Die Arbeiten schreiten voran. Da, wo einst die Hochhäuser standen, ist nur noch ein riesiger Krater zu sehen … Sie haben das Graffito von der Werbetafel entfernt.

Ich steige auf den Kran und sehe mir die Welt von oben an, aber selbst von oben kann ich nichts Schönes daran entdecken. Also steige ich wieder herunter. Niemand hat mich bemerkt. Ich laufe kreuz und quer durch die Stadt, nehme aber nur kleine Nebenstraßen, damit ich keiner Patrouille begegne. Irgendetwas ist anders, plötzlich weiß ich, was es ist. Sie haben Saïds Gesicht von sämtlichen Fassaden entfernt, wie schon so oft. Aber dieses Mal hat keiner versucht, es wieder zu erneuern. Diese Tatsache ist wie eine kalte Dusche für mich, man könnte meinen, sie hätten gewonnen.

Um Punkt sechs Uhr bin ich wieder zu Hause, kurz bevor Zé kommt. Im dunklen Treppenhaus stoße ich nichtsahnend vor unserer Tür mit dem Fuß gegen einen Körper, da bekomme ich einen Mordsschreck. Ich höre eine Frauenstimme, die wilde Flüche ausstößt.

Die Stimme kenne ich. Ich beuge mich hinunter, halte den Atem an.

»Gina?«

»Kannst du nicht aufpassen, wo du hintrittst, du kleiner Idiot?«

Kein Zweifel, das konnte nur meine Schwester sein. Ich spare mir eine Entschuldigung und komme erst recht nicht auf die Idee, sie zu umarmen. Nachdem der erste Schreck überwunden ist, steige ich mit etwas Mühe wortlos über sie hinweg und stecke den Schlüssel ins Schloss.

Da steht sie auf.

»Ich habe auf Zé gewartet. Was treibst du denn allein da draußen um diese Zeit?«

Ich antworte nicht, ignoriere sie einfach und verschwinde auf direktem Weg in mein Zimmer. Sie will mir nachgehen. Ich lehne mich von innen gegen die Tür, damit sie nicht reinkommen kann. Sie klopft vorsichtig.

»Mattia …«

Stille.

»Mattia, nun sei doch nicht beleidigt.«

»Du kannst mich mal …«, antworte ich, ohne den Satz zu beenden, schließlich rede ich immer noch mit meiner Schwester, da will ich nicht total unflätig werden.

Sie antwortet nicht. Ihre Schritte entfernen sich. Ich sehe nicht nach, ob sie weg ist. Stattdessen lege ich mich ins Bett, um wenigstens noch eine Stunde Schlaf zu bekommen.

Kurz darauf weckt Zé mich, um mich zur Schule zu bringen. Ich stelle fest, dass Gina auf dem Sofa eingeschlafen ist. Mein Vormund gibt während der Fahrt zur Schule mal wieder kein einziges Wort von sich. Ich frage ihn nicht, ob er mit Gina gesprochen hat.

Insgeheim hatte ich zwar erwartet, dass Gina mir einen Besuch in der Schule abstattet, aber als sie dann in der Mittagspause auftaucht, bin ich doch überrascht. Sie steht hinterm Zaun und winkt mich heran. Ich schlendere betont lässig zu ihr herüber und klettere auf eine Bank, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. »Zé hat mir das von Gabrielle erzählt.«

Ich nicke traurig.

»Ich würde sie gerne besuchen«, fährt sie fort. »Willst du mich nach der Schule dorthin begleiten?«

Ich reagiere nicht, steige von der Bank und will zurückgehen, da ruft sie:

»Oder wir gehen jetzt gleich hin und ich schreibe dir eine Entschuldigung.«

Da mache ich augenblicklich kehrt. Sie lacht laut und fährt mir mit der Hand durch die Haare.

»Ich weiß eben, wie du tickst.«

Hand in Hand gehen wir auf die hohen Mauern zu. Ich frage mich, warum Gina eine Frau besuchen möchte, die sie kaum kennt. Anscheinend hat Charcot ihr nicht so zugesetzt wie mir, es sei denn, sie will sich bewusst den Geistern der Vergangenheit stellen.

Sie trägt immer noch die gleiche graue Jogginghose und den gleichen weißen Kapuzenpulli. Nur ihre Haare sind etwas länger. Ansonsten sieht sie genauso aus wie vorher. Und wieso habe ich dann das Gefühl, sie jahrelang nicht gesehen zu haben?

»Tut mir leid, dass ich einfach weggegangen bin, ohne Dir vorher Bescheid zu sagen«, sagt sie. »Zé und ich haben uns nicht verstanden, da bin ich lieber gegangen, bevor er mich vor die Tür setzen konnte.«

Und wieso weiß ich, dass sie mich anlügt?

Eine Krankenschwester verweigert uns den Zutritt. Die Besuchszeit beginnt erst um vierzehn Uhr. Deshalb gehen wir wieder nach draußen und setzen uns auf eine der Parkbänke, die nicht weit von der Orchideen-Station entfernt steht. Gina hat auf dem Weg zur Klinik Sandwiches gekauft. Wir gönnen uns also ein kleines Picknick unter den Augen von ein paar Patienten, die meine Schwester um Zigaretten anbetteln. Sie verteilt sie so großzügig, dass ihr Päckchen danach fast leer ist.

Mehrmals bin ich kurz davor, das Thema anzusprechen, das mich die ganze Zeit beschäftigt: die Sache mit dem angeblichen Beweis, aber irgendwie will es mir nicht über die Lippen kommen. Zu meiner eigenen Überraschung fühle ich mich sehr wohl, wie ich da so neben ihr sitze. Es ist schon eine Weile her, dass ich mit einem Erwachsenen zu tun hatte, der nicht am Rande der Verzweiflung steht. Die Selbstsicherheit meiner Schwester ist ansteckend und ich möchte diesen ersten unbeschwerten Moment seit Gabrielles Einweisung in die Psychiatrie nicht kaputtmachen. Als Gina sieht, wie eine Familie auf die Orchideen-Station zusteuert, schaut sie auf ihre Uhr. »Es ist halb drei, gehen wir?«

Ich stehe zuerst auf. Gina will mir gerade folgen, hält dann aber wie vom Blitz getroffen inne. Ich folge ihrem Blick. Sie späht zum Raucherhof herüber. Der ist eigentlich nicht einsehbar wegen des Efeus, aber der Typ neulich hat eine ganze Menge davon abgerissen. Und durch diese Lücke sieht man zwei Personen mit Kippe im Mund nebeneinander hergehen. Die eine von beiden ist Gabrielle und die andere ist ihr Bruder. »Das ist Gabrielle«, sage ich, um irgendwas zu sagen.

»Und der Typ?«

»Ihr Bruder. Hat Zé dir die Geschichte nicht erzählt? Er war es, der sie in die Psychiatrie eingewiesen hat, er hat zwei Jahre lang nach ihr gesucht …«

»Ihr Bruder?«

Ginas Stimme klingt brüchig. Meine Schwester ist mit einem Mal kalkweiß geworden. Nachdem sie sich die Kapuze ihres Pullovers tief ins Gesicht gezogen hat, richtet sie sich schwankend auf.

»Mattia, sag mir die Wahrheit, das ist wichtig. Ist das wirklich ihr Bruder?«

»Na klar, er ist Bulle, kennst du ihn?«

»Ich weiß, dass er Bulle ist!«

Gina steckt sich eine Zigarette in den Mundwinkel und redet nun extrem schnell, als wollte sie eine Sache loswerden, die eigentlich zu belastend ist, um sie auszusprechen:

»Er heißt Thomas Ross. Er hat Saïd getötet.«

In meinem Kopf macht sich Nebel breit. Ich drehe mich zum Raucherhof um. Thomas Ross. Ich kenne diesen Namen, er weckt schlechte Erinnerungen, das ja, aber bisher hatte niemand Gabrielles Bruder bei seinem vollen Namen genannt. Insofern habe ich ihn nie in Verbindung mit dieser Person gebracht. Im Übrigen habe ich versucht, diesen Namen ebenso zu vergessen wie den meines Vaters. Das ist mir offenbar gut gelungen, denn ich wäre niemals darauf gekommen, dass es irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Zés Freundin und dem Mörder geben könnte, der Saïd ins Grab gebracht hat und meinen Vater in die Psychiatrie.

Mir wird mit einem Mal übel. Ich fixiere den Bullen aus der Ferne. Weder er noch Gabrielle haben uns bemerkt. Vor meinem inneren Auge ziehen all die Situationen vorüber, in denen ich ihr oder Zé gegenüber Saïd erwähnte. Ich entsinne mich, dass sie sich dabei manchmal merkwürdige Blicke zuwarfen, und ich nicht verstand wieso. Damals dachte ich, es sei aus Mitgefühl für Saïd, tatsächlich aber hatte es mit dem Geheimnis zu tun, das sie vor mir verbargen. Wann haben sie wohl entschieden, dass ich das nicht wissen soll?

Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich gerne auf jemanden einprügeln. Ich meine richtig, nicht nur zum Spaß. Es könnte von mir aus sogar jemand sein, der mir nichts getan hat, nur um das Geräusch von brechenden Knochen zu hören. Ich habe mich selbst nie geschlagen. Bisher hatte ich nie das Bedürfnis und hätte es auch nie für sinnvoll gehalten, so etwas zu tun. Aber jetzt sehe ich diesen Bullen da vorne und empfinde nicht nur den Drang, jemanden zu schlagen, sondern, viel schlimmer noch, jemanden zu töten, und zwar jetzt in diesem Moment.

Gina nimmt meine Hand und holt mich dadurch schlagartig in die Realität zurück. »Komm, ich habe keine Lust, ihm über den Weg zu laufen.«

Sie klingt wutentbrannt. Offenbar empfindet sie das Gleiche wie ich, nur im Unterschied zu mir fühlt sie sich nicht auch noch betrogen. Aber sie dürfte das alles trotzdem noch tausendmal stärker empfinden als ich, sie hat die Sache ja schließlich hautnah mitbekommen.

Wir machen kehrt. Sie zieht mich hinter sich her durch den Park, ohne sich noch einmal umzuwenden. Ich wundere mich, dass sie ihn nicht zur Rede stellen will. Vielleicht hat sie Angst, dass sie die Fassung verliert und irgendetwas tut, was nicht wiedergutzumachen ist. Schließlich ist sie ja immer weggelaufen …

Als wir die Bushaltestelle neben der Klinik erreichen, bin ich ganz außer Atem. Zu meinem großen Erstaunen drückt Gina mir eine Busfahrkarte in die Hand:

»Du musst alleine nach Hause fahren, ich muss jetzt los.«

»Was?!«

»Erzähl mir nicht, du wärst noch nie Bus gefahren!«

»Aber wo willst du denn hin?«

Sie geht vor mir in die Hocke und ergreift meine Hände.

»Ich kann dir das jetzt nicht alles erklären. Aber ich muss ganz dringend jemanden treffen.«

»Hat das was mit dem Bullen zu tun?«

Sie zögert unmerklich.

»Ja.«

»He, warte! Es ist inzwischen einiges passiert … bei Mama wurde eingebrochen, bei uns auch und Stefano hat mir gesagt, dass das schon mal passiert ist nach Saïds Tod und dass Papa einen Beweis hatte …«

Gina richtet sich auf und klopft sich den Staub von ihrer Jogginghose. Genau in dem Moment kommt der Bus, sie gibt dem Fahrer ein Zeichen. »Wir sprechen später darüber, versprochen. Ich bleibe jetzt so oder so in der Stadt. Wir sehen uns also bald wieder. Komm gut nach Hause und halt die Ohren steif.«

Ich habe keine Ahnung, ob sie damit auf die depressive Stimmung anspielt, die in der Wohnung herrscht, auf die Erinnerungen, die durch Gabrielles Zwangseinweisung wieder hochgekommen sind, oder auf das Leben im Allgemeinen. Aber ich frage sie nicht. Es ist noch nie irgendjemandem gelungen, Gina zum Bleiben zu bewegen. Sie entfernt sich Richtung Stadtzentrum, während ich schweren Herzens in den Bus steige und versuche, meine Wut herunterzuschlucken.