Zweiundzwanzigstes Kapitel

Gina

Gina läuft und versucht, dabei nicht an ihren kleinen Bruder und seinen anklagenden Blick zu denken. Wann hatte er wohl aufgehört, sich noch irgendetwas vom Leben zu erhoffen? Und seit wann zwang er sich, jede nähere Berührung mit dem Leben zu vermeiden, als könne er so sämtliches Unglück abwehren?

Wenn all das vorbei wäre, würde sie sich um ihn kümmern. Vorerst hatte sie Wichtigeres zu tun.

Gina läuft und sieht im Geiste immer wieder zwei Gestalten vor sich: eine Frau und einen Mann, die in einiger Entfernung auf dem Raucherhof auf- und abgehen. Sie ist unglaublich wütend auf Zé, unglaublich wütend auf Gabrielle, unglaublich wütend auf die Justiz, eigentlich ist sie wütend auf alle.

Das Erreichen des Supermarkts reißt sie aus ihren Grübeleien. Hinter dem Schaufenster erkennt sie Siham. Sie geht rein, stöbert eine Weile in den Regalen herum, nimmt schließlich eine Tüte Chips und geht damit zur Kasse. Siham blickt ihr lächelnd entgegen. »Der Bulle ist immer noch in der Stadt«, sagt Gina. »Ich habe ihn gesehen, das ist keine Stunde her.«

»Wo denn?«, fragt Siham hastig, während sie die Chips über den Scanner zieht. »In Charcot, seine Schwester ist in der Psychiatrie, ich erklär’s dir.«

»Um acht habe ich Schluss, wir treffen uns bei mir. Sagst du Karim Bescheid?«

»Nadir nicht?«

Die junge Frau schüttelt den Kopf. »Sein Bewährungshelfer ist ihm ständig auf den Fersen, er meint es ist besser, wenn wir uns erst mal nicht bei ihm melden.«

Die Kunden hinter Gina werden langsam ungeduldig. Sie verlässt den Laden mit der Tüte Chips in der Hand, ein paar Straßen weiter drückt sie auf eine Klingel mit Gegensprechanlage, keine Reaktion. Karim ist offenbar nicht zu Hause. Sie läuft eine Weile ziellos durch die Stadt, dann betritt sie eine Telefonzelle, steckt die Karte in den Schlitz, wählt eine Nummer, nach längerem Klingeln nimmt schließlich jemand ab.

»Latifa? Hallo, hier ist Gina. Ist meine Mutter da? Eine Minute später hört sie Amélias Stimme.

»Hallo, Gina.«

»Ich habe gerade Mattia gesehen, dem geht es wirklich gar nicht gut. Willst du dich nicht mal bei ihm melden? Nur damit er weiß, dass bei dir alles okay ist?«

Stille am anderen Ende der Leitung. »Ich habe keine Ahnung, was ich ihm sagen soll, sag du ihm doch einfach, dass es mir gut geht.«

»Er wird mir nicht glauben, er hat festgestellt, dass man ihm alles Mögliche verheimlicht hat, er vertraut mir nicht mehr.«

»Sag ihm einfach, dass es mir gut geht«, wiederholt sie und legt auf.

Gina starrt eine Weile auf den Hörer in ihrer Hand und kämpft gegen das in ihr aufsteigende Gefühl von Bitterkeit an. Es war unschwer herauszuhören, dass ihre Mutter von Schuldgefühlen geplagt wird, aber das änderte trotzdem nichts an der Tatsache, dass sie noch nicht einmal wissen wollte, wie es den anderen um sie herum ging.

»Verdammte Egoistin«, murmelt sie und wirft den Hörer auf die Gabel.

Sie lässt sich noch ein wenig durch die Straßen treiben, dann versucht sie erneut ihr Glück. Dieses Mal öffnet Karim ihr die Tür. Wenig später trifft auch Siham ein.

»Was soll diese Geschichte mit Nadir?«, fragt Gina ohne weitere Einleitung.

»Sein Bewährungshelfer setzt ihn unter Druck, er soll sich schnell einen Job suchen und darf sich nicht die kleinste Dummheit erlauben, solange er auf Bewährung ist. Wir müssen es halt ohne ihn machen«, erklärt Karim ihr.

»Wir brauchen ihn nicht«, fährt Siham dazwischen.

Sie wendet sich an Gina.

»Und, was ist nun mit dem Bullen?«