Wenige Stunden nachdem ich das Krankenhaus verlassen habe, begleite ich Zé wieder dorthin. Er motzt mich an, weil ich die Schule geschwänzt habe. Ich sage, das sei Ginas Schuld, er fragt nicht weiter nach. Seit wir die Anhörung hinter uns haben, ist die Schule ihm im Grunde genauso egal wie mir.
Die Krankenschwester, die uns öffnet, zieht erstaunt die Augenbrauen hoch, als sie mich das zweite Mal an diesem Tag sieht, aber sie spart sich einen Kommentar dazu. Bevor wir das Zimmer betreten, packe ich Zé am Ärmel.
»Kann ich später mal kurz mit ihr allein sein?«
Er nickt und ist wohl zu sehr in seine Gedanken vertieft, als dass er auf die Idee käme, mich zu fragen, warum.
Einen Moment lang rechne ich damit, Thomas Ross neben Gabrielles Bett vorzufinden, aber sie ist allein, sitzt an ihrem Schreibtisch und betrachtet die Welt vor ihrem Fenster oder vielmehr das bisschen davon, das man ihr zugesteht. Als wir reinkommen, fährt sie herum. Sie sieht müde aus, ihr Gesicht ist aufgedunsen.
»Hallo«, sagt Zé und lächelt.
Sie antwortet nicht. Ihr Schweigen ist für Zé die schlimmste Strafe. So wie beim ersten Mal überlasse ich sie ihrem Tête-à-Tête, laufe in den Gängen herum und mache dabei einen möglichst großen Bogen um das Zimmer gegenüber. Schließlich setze ich mich auf einen Stuhl in der Nähe des Besprechungszimmers und beobachte das Kommen und Gehen des Krankenhauspersonals. Ich würde gerne an gar nichts denken, aber es gelingt mir nicht. Zu viele Gedanken spuken in meinem Kopf herum, zu viele unbeantwortete Fragen.
Man wirft mir wieder einmal erstaunte Blicke zu. Ich habe inzwischen so viel Zeit hier verbracht, dass diese Station mittlerweile zu einem integralen Bestandteil meiner Kindheit geworden ist, auch wenn ich nicht behaupten würde, dass ich mich hier zu Hause fühle.
Ich blicke jedem weißen Kittel hinterher auf der Suche nach dem Pfleger, der mir mit seiner Bemerkung eine solche Angst eingejagt hat, und mir diese Angst eingebrannt hat, meinem Schicksal nicht entrinnen zu können, aber ich kann ihn nicht entdecken. Vielleicht arbeitet er ja gar nicht mehr hier. Ich weiß ja noch nicht mal seinen Namen.
Nach einer halben Ewigkeit setzt Zé sich neben mich. »Ich warte hier auf dich«, sagt er.
Gabrielle hat sich nicht von ihrem Schreibtisch wegbewegt. Sie zeichnet mit dem Finger unsichtbare Muster auf den Plastiktisch, der extra abgerundete Ecken hat, um bei einem möglichen Gewaltausbruch des Patienten die Verletzungsgefahr zu minimieren. Sie bekommt auch keinen Rasierer in die Hand, noch nicht einmal einen BH, sie könnte sich ja daran aufhängen. Das können sie sich echt sparen. Wie ich aus Erfahrung weiß, macht der Wunsch zu sterben, erfinderisch. Selbst in einem komplett ausgepolsterten Raum findet man, wenn nötig, noch eine Möglichkeit, sich das Leben zu nehmen.
Ich schließe leise die Tür hinter mir. Als mein Vater sich in sein Schweigen zurückgezogen hatte, war ihm jedes Geräusch zu viel.
Ich räuspere mich.
»Zé hat gesagt, du wolltest mich alleine sprechen?«, fragt sie, ohne sich umzudrehen.
Ihre Stimme klingt fast normal. Die Medikamente haben sie noch nicht völlig benommen gemacht. »Ja.«
Ich zögere, denke an Gina, daran, wie sie mich fragte, ob ich etwa mit Leuten reden könnte.
Nein, deshalb weiß ich auch nicht, wie ich anfangen soll. Schließlich entscheide ich mich dafür, direkt zur Sache zu kommen.
»Ich wollte vorhin schon kommen, aber da hattest du Besuch.«
Sie zuckt zusammen.
»Gina war bei mir, sie hat ihn auch gesehen und mir gesagt, wer das ist.«
Stille.
»Gabrielle!«
Ich mache ein paar Schritte auf sie zu. Sie fährt herum, bevor ich bei ihr bin. Womöglich hat sie gehört, wie meine Stimme vor Wut zittert.
»Dein Bruder ist der Bulle, der Saïd getötet hat.«
Sie lacht – es klingt künstlich – und nickt.
»Was glaubst du wohl, warum ich den Kontakt zu ihm abgebrochen habe?«
»Ich dachte, weil er dich in die Psychiatrie schicken wollte.«
»Nein, damals ging es mir noch besser. Da konnte ich noch arbeiten und das Haus verlassen, ohne eine Panikattacke zu bekommen. Wegen dieser Sache habe ich ihn nicht mehr gesehen. Also schau mich nicht so anklagend an, Mattia, er war es, der ihn getötet hat, nicht ich. Und dann beginnt sie zu erzählen, sie hat keine andere Wahl, das ist sie mir schuldig.