Verrières gleicht einem riesigen Grab.
Das letzte Mal war Thomas Ross zur Rekonstruktion des Tathergangs bei den Wohnblöcken gewesen, das ist einige Jahre her. Man hatte ihn vorgewarnt, es hätte sich ziemlich verändert, aber er hatte nicht damit gerechnet, vor einer Baugrube zu stehen. »Die Dinger gehörten echt abgerissen«, sagt sein früherer Partner Rassiat.
Er sitzt am Steuer des Zivilfahrzeugs und sieht genauso aus wie früher, als sie noch zusammengearbeitet haben. Rassiat ist von bulliger Statur und trägt seine übliche khakifarbene Jacke, sein Nacken ist dick wie ein Baumstamm. Die Kids von Verrières wussten, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Thomas hat den Vorteil, dass er ein eher unauffälliger Typ ist. Die Kleinganoven aus dem Viertel bekamen oft genug gar nicht mit, dass er ein Bulle war, dabei erkannten sie jedes Zivilfahrzeug der Polizei auf Anhieb. Das Auto bremst vor dem letzten, noch stehenden Hochhaus ab.
»Da hat Younès gewohnt«, stellt Thomas fest. »Sie wohnt immer noch da«, sagt Rassiat.
»Wer?«
»Amélia Lorozzi, die Lebensgefährtin des Sozialarbeiters. Sie hat alle Angebote, anderswo hinzuziehen, abgelehnt. Seltsam, oder? Die Zahidis sind ziemlich schnell weggezogen. Ich an ihrer Stelle hätte sofort das Weite gesucht, der Ort hier war doch mit zu vielen schlechten Erinnerungen belastet. Na ja, vielleicht ist sie ja irgendwann dann doch weggegangen, jedenfalls ist sie verschwunden.«
»Und ihr habt bei ihr nichts gefunden …«
»Nada, vielleicht ist sie auch gar nicht eingeweiht.«
»Und warum ist sie dann weg, ohne eine Adresse zu hinterlassen?«
Rassiat schweigt. Wie jeder Bulle, der ein Mindestmaß an Menschenkenntnis hat, weiß er, dass Unschuldige in der Regel nicht die Flucht ergreifen. Er wendet den Wagen, sie lassen Verrières hinter sich.
»Nach dem Tod von Younès war sie völlig von der Rolle. Sie hat sogar das Sorgerecht für ihren Jüngsten an den Sohn von Palaisot übertragen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass von ihr irgendeine Bedrohung ausgeht.«
»Ich weiß, die Bedrohung geht sicher nicht von ihr aus, aber ich glaube dennoch, dass sie mit denen unter einer Decke steckt.«
Thomas Ross wirkt abwesend, als er antwortet. Er ist mit den Gedanken gerade ganz woanders: in Charcot, auf der Orchideen-Station. Er sieht erneut Gabrielle vor sich, hört ihre unerbittlichen Worte, ihren Hass – Gott weiß, wie viel Hass ihm schon entgegengeschlagen ist, aber er hätte es nie für möglich gehalten, diesen Hass einmal in den Augen seiner eigenen Schwester zu sehen.
»Ich frage mich, ob ich die Anordnung zur Zwangseinweisung nicht zurückziehe«, merkt er an, während sein Kollege Richtung Stadtzentrum fährt. »Für deine Schwester? Aber hast du nicht gesagt, sie würde sonst …«
»Wenn sie sich wirklich das Leben nehmen will, dann gelingt ihr das auch in der Klinik.«
Thomas schließt die Augen und presst die Finger gegen seine Schläfen. Er würde jetzt gerne etwas frische Luft schnappen. »Ich möchte einfach nur verstehen, warum sie …«
Er schafft es nicht, den Satz zu beenden.
»… warum sie sterben will«, ergänzt Rassiat leise.
»Das geht nun schon ewig so und sie hat mir nie erklären können, warum. Ich meine … unsere Eltern … Sie wurde geliebt, sie hat keine schlimme Kindheit gehabt, es gibt eigentlich keinen … es gibt keinen Grund.«
Sein Kollege starrt verlegen auf die Straße vor sich. Er weiß nicht, was er sagen soll, weil es darauf keine Antwort gibt. Thomas hatte auch nicht wirklich eine erwartet. Seit zwanzig Jahren stochert er in Bezug auf Gabrielle im Nebel, seit zwanzig Jahren ist er mit nichts als Fragezeichen konfrontiert.
Er hat einen Kloß im Hals, und als die Ampel auf Rot springt, legt er Rassiat eine Hand auf die Schulter.
»Lass mich hier bitte raus.«
»Was?«, protestiert dieser. »Du spinnst ja! Bei der aufgeheizten Stimmung solltest du dich lieber nicht in der Stadt blicken lassen.«
»Ich muss mal frische Luft schnappen, und ich weiß mich zu verteidigen.«
Unter dem Protest seines Kollegen öffnet er die Autotür. Gerade geht die Sonne unter. Vielleicht hat Rassiat recht und er muss wirklich, um sein Leben fürchten. Andererseits haben sie Verrières ja hinter sich gelassen, und er bezweifelt, dass sich außerhalb des Viertels noch viele Leute an sein Gesicht erinnern. Sein Foto war nie in der Zeitung, aus Sicherheitsgründen. Es könnte ihm höchstens passieren, dass er jemandem aus dem Umfeld von Saïd Zahidi über den Weg läuft oder jemandem, der ihn noch aus der Zeit kennt, als er in Verrières häufig Ausweiskontrollen durchführte. Egal. Seine Energie reicht noch nicht einmal mehr aus, um sich Sorgen um seine eigene Existenz zu machen.
Er läuft los, die Hände in den Taschen seiner Wildlederjacke vergraben – die hatte ihm seine Schwester mal geschenkt, als sie noch mit ihm sprach – und sucht nach einem einzigen, verdammten Grund, warum er seinen Kampf fortsetzen sollte. Gegen wen kämpft er eigentlich? Gegen was? Das hat er nie wirklich gewusst.
Eigentlich wollte er in Richtung Klinik laufen, aber ohne genau zu wissen, wie er dorthin gekommen ist, steht er auf einmal vor dem Zaun des Friedhofs. Er blickt zu dem riesigen, zweigeteilten Eingangsportal hoch, greift mit leicht zitternder Hand nach der Klinke. Der Friedhof ist schon geschlossen. Also klettert er, ohne sich darum zu kümmern, ob er dabei beobachtet wird, über das Tor. Es ist kinderleicht. Auf der anderen Seite angekommen betritt er einen der gewundenen Wege, die sich um die Gräber schlängeln.
Schon bald findet er das muslimische Gräberfeld mit den Dutzenden von Halbmonden. Er irrt eine Weile herum, bis er schließlich vor dem Grab steht, das er gesucht hat. Es ist besser in Schuss als die Nachbargräber, obwohl es schon fünfzehn Jahre alt ist.
Sahïd Zahidis Name steht über zwei Daten und einem Satz auf Arabisch, den er nicht lesen kann. Thomas Ross kniet sich hin, um die Inschriften auf den Marmorsteinen, die unten auf der Stele liegen, besser entziffern zu können. Da sind auch Blumen und eine kleine Porzellanskulptur, ein offener Koran, der auf einer bestimmten Seite aufgeschlagen ist.
Der Lieutenant schließt die Augen und denkt zurück an diese Nacht. Selbst mit fünfzehn Jahren Abstand kann er nicht begreifen, was damals eigentlich passiert ist – warum er derart die Kontrolle verlor und so auf den Jungen einschlug, dass dieser dabei tödlich verletzt wurde.
Die Männer in seiner Familie waren alle bei der Polizei, angeblich schon zu Zeiten der Revolution. Thomas konnte also nicht wirklich frei entscheiden, was er später einmal werden wollte. Sobald er alt genug war, um über seine berufliche Zukunft nachzudenken, drängte sein Vater ihn dazu, ebenfalls zur Polizei zu gehen.
Rückblickend war es vermutlich ein Fehler gewesen, auf den Rat der Familie zu hören.
Als er dann, ausgestattet mit lauter guten Bewertungen, die Polizeischule verließ, hatte Thomas Ross das große Privileg, sich sein Betätigungsfeld frei aussuchen zu können. Zur allgemeinen Überraschung ließ er sich dann ausgerechnet hier nieder in diesem »gottverlassenen Nest«, wie sein Vater es nannte, ein eingefleischter Pariser. Aber Thomas wollte gerne in der Nähe seiner Schwester wohnen.
Gabrielle war damals Jugend-Betreuerin. Für sie war das eher ein Broterwerb als ein Job, den sie aus Begeisterung gewählt hätte. Sie hatte sich vor allem deshalb dafür entschieden, weil die Ausbildung nur ein paar Wochen dauerte und sie an keinen festen Ort gebunden war. Sie arbeitete oft für das Stadtteilzentrum von Verrières. Dort hatte sie auch den Streetworker kennen und schätzen gelernt, der bei der Polizei dafür verschrien war, dass er mit Tränen in den Augen auf dem Kommissariat erschien, sobald eins seiner Kids verhaftet worden war.
Bruder und Schwester waren politisch nicht auf der gleichen Wellenlänge, aber sie verstanden sich trotzdem ganz gut. Thomas war der Kontakt zu Gabrielle sehr wichtig, wegen ihr hatte er eine Menge aufgegeben.
Nur die Polizei nicht.
»Du wirst noch genauso ein Idiot wie Papa«, prophezeite sie ihm.
Wenn sie sich nach Feierabend ein- zweimal die Woche im Café trafen, amüsierten sie sich darüber. Das war eine schöne Zeit, die leider nicht von langer Dauer war.
Sobald Thomas seine Uniform trug, schlug ihm Hass entgegen.
Und der saß tief. Schon die Kids, deren Kindheit viel zu kurz war, sahen ihn hasserfüllt an. Viel zu früh mussten sie bei den Großen mitmischen, entweder weil sie darauf angewiesen waren oder unter schlechtem Einfluss standen, aus purer Langeweile oder schlicht weil ihre Zukunft eh nicht rosig aussah.
Er dachte, er könne damit fertigwerden, aber er hatte sich überschätzt.
Nachdem er sich einige Monate lang zurückgehalten hatte, überkam auch ihn der Hass. Es war ein schleichender Prozess. Er spürte ganz deutlich, wie sich nach und nach ein Gefühl von Verachtung in ihm breitmachte, das seinen Verstand ausschaltete. Ein Blick auf seine Kollegen genügte, um zu ahnen, wo er in einigen Jahren stehen würde, wenn er erst einmal seine einstigen Ideale über Bord geworfen hätte und nur noch Verbitterung empfinden würde. Er versuchte, sich davon nicht mitreißen zu lassen. Doch das war nicht einfach. Nach seinem Weggang aus Paris hatte er es nicht geschafft, sich einen neuen Freundeskreis aufzubauen. Das hatte zur Folge, dass er in seiner Freizeit bald nur noch Arbeitskollegen traf und ab und zu mal Gabrielle. Dadurch verengte sich sein Horizont immer mehr, das konnte kein gutes Ende nehmen.
Das Undenkbare passierte an einem Dezembertag und trug den Namen Saïd Zahidi. Erst beleidigte er ihn, dann schlug er ihn und dann war überall nur noch Blut, sehr viel Blut.
Die Patrouille, mit der er unterwegs war, nahm sich der Sache an. Er stand unter Schock, war unfähig, irgendetwas zu tun. Sie dachten sich eine Version des Tathergangs aus, die ihn möglichst wenig belastete, und forderten ihn auf, diese Version so lange laut vor sich hinzusagen, bis er sie im Schlaf herunterbeten könnte. Diese Geschichte tischten sie dann den internen Ermittlern der Polizei, den Medien, dem Anwalt und dem Ermittlungsrichter auf.
Und alle glaubten ihnen.
Als Thomas vor dem Prozess für unbestimmte Zeit vom Dienst suspendiert wurde, entdeckte er mit einem Mal sein Faible für Whisky und tat tagelang nichts anderes als zu saufen, bis Rassiat, sein engster Kollege, eines Tages bei ihm auftauchte. Während Rassiat die leeren Flaschen aufklaubte, erklärte er ihm, die Sache wäre noch nicht erledigt. Es gäbe noch ein paar Dinge zu regeln, deshalb dürfe er sich jetzt nicht einfach so gehenlassen.
Es gab einen Beweis, einen Beweis dafür, dass Saïd ihn nicht zuerst angegriffen hatte, sondern sich nur zur Wehr gesetzt hatte. Der für Verrières zuständige Sozialarbeiter war im Besitz dieses Beweisstückes. Man musste es ihm abnehmen, bevor er es der Anklagebehörde übergeben konnte.
Anfangs wollte Thomas den Dingen ihren Lauf lassen. Er hatte einfach nicht die nötige Kraft, um all das zu ertragen und bei den diversen Befragungen immer weiter zu lügen. Was ist erniedrigender für einen Bullen, als verhört zu werden? Aber seine Kollegen hielten zu ihm, vor allem Rassiat. »Wir lassen nicht zu, dass du in den Knast wanderst, nur weil du bei diesem kleinen Idioten die Kontrolle verloren hast.«
Schließlich hatte Thomas sich von ihnen überzeugen lassen. Er selbst konnte nichts tun, da man ihn überwachte. Und es war wichtig, keinen Verdacht zu erregen. Aber er gab den Kollegen grünes Licht. Rassiat und ein paar andere übernahmen es, den besagten Beweis verschwinden zu lassen und den Sozialarbeiter so einzuschüchtern, dass er bis zum Prozess die Klappe halten würde. »Was suchen Sie hier?«, sagt eine Stimme hinter ihm und reißt ihn aus seinen Gedanken. Thomas schreckt hoch. Reflexartig geht seine Hand zum Gürtel, bevor er sich umdreht. Vor ihm steht eine Frau zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Ihr Gesicht kommt ihm bekannt vor und erst recht dieser Hass in ihren dunklen Augen.
Ihr Blick geht zu der Waffe, die er gerade ziehen wollte. »Na los, knall mich ruhig ab, du weißt ja, dass du straffrei davonkommst!«
Sie breitet herausfordernd die Arme aus. Thomas zieht die Hand zurück. Er kramt in seinem Gedächtnis nach ihrem Namen, aber er kommt nicht darauf. Dabei erinnert er sich noch genau daran, wie sie damals den Polizeikordon durchbrechen wollte, der ihn schützte. Fast hätte man sie deshalb verhaftet. Und an ihre Schreie: »Das war mein Bruder!«
Siham. Siham Zahidi.
»Tut mir leid«, sagt er, »ich hatte nicht damit gerechnet, Ihnen hier zu begegnen.«
»Und wieso nicht? Das ist schließlich das Grab meines Bruders.«
»Sie haben mich also erkannt.«
»Aber Sie mich nicht. Verschwinden Sie von hier, Lieutenant. Selbst wenn Sie Bulle sind und deshalb das Sagen haben, sollten Sie wissen, wann man besser die Klappe hält und verduftet.«
Erst will er auf diesen Affront reagieren, aber gibt die Idee sogleich wieder auf. Was soll er darauf auch antworten?
Thomas macht einen Bogen um die junge Frau und geht zum Ausgang zurück. Dabei behält er unauffällig die Schatten auf dem Boden im Blick, um sicherzugehen, dass sie ihm nicht folgt. Falls er es also vergessen haben sollte, er ist hier unerwünscht und es ist gefährlich für ihn, allein durch diese Straßen zu laufen.
Das Gittertor des Friedhofs ist immer noch verrammelt. Sie hat sich also auch nicht an die Öffnungszeiten gehalten. Er klettert wieder über den Zaun und entfernt sich mit großen Schritten, dabei wendet er sich immer wieder um. Zu seiner Erleichterung ist sie ihm nicht gefolgt. Vielleicht haben er und Rassiat, den Graffiti und dem, was ihnen vorausging, doch zu viel Bedeutung beigemessen.
Vielleicht haben die allermeisten hier diese Geschichte wirklich längst vergessen.
Aber irgendetwas in ihm sagt ihm, dass dem nicht so ist.