Fünfundzwanzigstes Kapitel

Siham

Sie blickt ihm nach und versucht, ihre Wut herunterzuschlucken. Es fühlt sich so an, als ob ihr Oberkörper in einem Schraubstock steckt. Sie kennt dieses Gefühl zu ersticken nur allzu gut. Nach dem Tod ihres Bruders hat sie das oft empfunden, Morgen für Morgen, über Wochen.

Die Versuchung, ihm nachzulaufen, ist groß, aber was würde sie tun, wenn sie ihn eingeholt hätte? Sie war hierhergekommen, um Saïd einen Besuch abzustatten und nicht um Rache zu üben. Mit ihren bloßen Händen kann sie nicht viel ausrichten. Er ist bewaffnet und auf der Hut.

Siham atmet mehrmals hintereinander tief ein. Der Bulle ist nicht mehr zu sehen. Sie wendet sich wieder dem Grab zu, mit Tränen in den Augen.

»Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich es getan, das schwöre ich dir.«

Wie ist dieses Arschloch nur darauf gekommen, auf den Friedhof zu gehen? Wollte er nochmal seinen Triumph auskosten? Oder bedauert er womöglich, was er getan hat? Und selbst wenn er deshalb nachts nicht mehr schlafen kann, würde das nichts ändern. Saïd ist tot und niemand hatte dafür gesorgt, dass sein Mörder bestraft wurde. Denn dann hätte er zwanzig Jahre bekommen und würde jetzt im Gefängnis schmoren. Falls er sich entschuldigen wollte, konnte er sich das gerne sparen, das kam fünfzehn Jahre zu spät. Siham verharrt noch einen Moment am Grab ihres Bruders. Sie spürt, wie ihre Knie nachgeben wollen, und muss ihre ganze Kraft zusammennehmen, um stehen zu bleiben. Dann klettert sie behände über den Friedhofszaun. Sie blickt die Straße herunter, keine Spur von einem Bullen, weder links noch rechts.

Eigentlich wollte sie im Anschluss an ihren Besuch bei Saïd wieder nach Hause gehen, denn dort warten Gina und Karim auf sie. Aber sie macht kehrt und geht zu dem Mietshaus, in dem ihre Eltern wohnen. Sie hat sie seit Wochen nicht mehr gesehen, obwohl sie fast Nachbarn sind.

Latifa und Tayeb Zahidi leben in einer Sozialwohnung im Zentrum. Das Gebäude ist modern, ihre Wohnung viel komfortabler als die vorherige in Verrières. Glücklicher sind sie deshalb trotzdem nicht. Sihams Vater hat über Nacht weiße Haare bekommen, überflüssig zu erwähnen in welcher Nacht. Das Gesicht ihrer Mutter ist von tiefen Sorgenfalten durchzogen. Mühsam ringt sie sich ein Lächeln ab, als sie Siham vor der Tür stehen sieht.

Sie trinken einen Kaffee, die Stille wird nur vom Geräusch des Fernsehers unterbrochen, gerade laufen Nachrichten. »Ist Amélia nicht da?«, fragt die junge Frau und verfolgt dabei mit einem Auge das Geschehen auf dem Bildschirm.

»Sie schläft«, antwortet Latifa.

Sie senkt die Stimme.

»Ich mache mir große Sorgen um sie, kannst du nicht mal Gina bitten, vorbeizukommen?«

Siham schüttelt den Kopf. Dafür kennt sie ihre Freundin gut genug. Der Groll zwischen Mutter und Tochter ist zu groß, es steht zu viel Unausgesprochenes zwischen ihnen, deshalb tut Gina sich einen solchen Besuch nicht an. Gina ist wie ein Wirbelwind, der kommt und geht, wie es ihm gerade gefällt.

»Sie entwickelt langsam eine Paranoia«, fährt Madame Zahidi fort. »Sie redet ständig von irgendwelchen Bullen und darüber, was vor fünfzehn Jahren passiert ist. Seit diesem Einbruch …«

»Ich weiß, sie will nicht mehr in ihre Wohnung zurück.«

»Sie kann ja solange hierbleiben, wie sie möchte, aber ich habe Angst, dass sie irgendwann auch noch in der Psychiatrie endet.«

Siham lächelt traurig.

»Sie ist nicht verrückt«, Mama. »Das war kein Einbruch. Es war wirklich die Polizei.«

»Was redest du denn da?«

Die junge Frau beschließt, ihnen alles zu sagen. Ihr Vater stellt den Ton des Fernsehers leiser und sie berichtet ihnen, was alles passiert ist: Wie Lieutenant Ross erst im Laden aufgetaucht ist, dann auf dem Friedhof, von der Zwangseinweisung seiner Schwester, vom Einbruch beim Vormund von Mattia.

Je mehr sie erzählt, desto blasser werden ihre Eltern.

»Warum hast du uns das alles nicht erzählt?«

»Ihr habt wegen dieser Sache schon genug gelitten.«

Latifa lacht bitter auf.

»Es ist nicht an dir, uns zu beschützen, Siham.«

Doch, das ist es. Ihre Eltern sind bei Saïds Tod zusammengebrochen, sie nicht. Sie steht noch und ist in der Lage sich dem Ganzen zu stellen. Siham wird diesen Kampf auch dann noch weiterführen, wenn ihre Eltern längst keine Kraft mehr dazu haben.

»Und was hast du nun vor?«, fragt Tayeb plötzlich.

Siham sieht die Angst in seinen Augen. Sie will gerade antworten, da greift Latifa nach der Fernbedienung und stellt den Ton wieder laut. Die Stimme des Sprechers dringt bis in die letzte Ecke des Zimmers und hallt in ihren Köpfen nach.

»… Urteil ist gefallen. Eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse: Vor vier Jahren ist der damals dreiundzwanzigjährige Baptiste Diuoury im Polizeiwagen auf dem Weg ins Kommissariat des zwanzigsten Arrondissements erstickt. Die drei bei seinem Ableben anwesenden Polizisten, der vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt, sind wieder auf freiem Fuß. Wir schalten zu unserer Kollegin vor dem Justizpalast …«

Siham springt auf.

»Verdammt noch mal! Wie viele Tote soll es denn noch geben, bis irgendjemand mal was tut?«, schreit sie.

Über ihnen schlägt jemand mit einem Besenstil auf den Boden. Siham schaut nacheinander ihre Eltern an, sie weiß nicht, was sie in ihren Augen sucht, aber sie findet darin nichts als Müdigkeit. Sie haben schon lange resigniert, seit dieser einen Nacht im Dezember. Plötzlich wird ihr klar, dass sie von ihnen keine Unterstützung erwarten kann.

Sie sind wütend, klar, aber sonst?

»Was kann man denn tun, Siham?«

Diesen Satz wiederholte ihre Mutter im Jahr nach dem Prozess Abend für Abend, in der vergeblichen Hoffnung, damit die Wut ihrer Tochter zu dämpfen.

»Was kann man denn tun?«Siham zieht ihren Mantel über, schlägt die Tür hinter sich zu und springt die Treppenstufen herunter. Unten auf der Straße fängt sie an zu rennen. Sie rennt, bis sie bei ihrer Wohnung angekommen ist. Gina und Karim sind immer noch da. Sie stehen neben dem Radio und drehen sich zu ihr um.

»Habt ihr das gehört?«, fragt sie ganz außer Atem.

Ja, sie haben es gehört. »Das kann nicht so weitergehen«, sagt Gina.

Sie sehen sich an und wissen in dem Moment beide instinktiv, dass es kein Zurück mehr gibt. Karim ist außen vor. Dahin, wo sie jetzt hingehen wollen, kann er nicht mitkommen.