Lieutenant Rassiat raucht am Fenster seines Büros eine Zigarette, obwohl im ganzen Haus Rauchverbot herrscht. Eigentlich raucht er schon seit sechs Jahren nicht mehr, aber Ausnahmesituationen erfordern Ausnahmen von der Regel.
Er wirft einen prüfenden Blick auf das Spiegelbild von Karim Benafa im Fenster. Der Kopf des jungen Mannes sinkt Richtung Schulter. Er schläft permanent ein. Es gelingt dem Beamten nicht, irgendetwas Wichtiges aus ihm herauszubekommen. Rassiat beobachtet Karim nachdenklich, während über der Stadt ein heftiger Regenschauer niedergeht. Der Beschuldigte beantwortet Fragen, er kooperiert, weil ihm klar ist, dass er dieses Mal mit mehr rechnen muss als mit ein paar Sozialstunden, wie zuletzt bei dieser dummen Sache mit den Graffiti. Er kooperiert, aber verrät ihm dennoch nichts. Schwer zu sagen, ob er lügt.
Rassiat stößt einen tiefen Seufzer aus und wirft seine Kippe aus dem Fenster. Er setzt sich erneut Karim gegenüber. Ein stechender Schmerz durchzuckt sein Knie, ein Andenken an einen schlecht verheilten Bruch. Deshalb hat er manchmal auch Probleme beim Laufen. Die Schmerzen sind erst seit Kurzem wieder da. »Willst du eine Fluppe?«
»Ich rauche nicht«, sagt der junge Mann leise.
»Vielleicht einen Kaffee …«
»Oh ja, einen Kaffee …«
Rassiat kettet ihn mit Handschellen am Heizkörper fest, bevor er auf den Flur geht.
Er lehnt sich für einen Moment an die Tür und schließt die Augen. Ein Gefühl unendlicher Erschöpfung macht sich in ihm breit. Dabei hat er immer dagegen angekämpft, dass es so weit kommt. Er reißt sich zusammen, schlendert träge zum Kaffeeautomaten, steckt die Münzen in den Schlitz und drückt zweimal auf Espresso. Dann geht er zurück in sein Büro, stellt die Becher auf dem Schreibtisch ab und setzt sich. Mit einem Finger wischt er sich den Schweiß von den Schläfen, der dort ständig perlt. Er ist einfach nur noch müde.
Eine ganze Weile vernimmt man nur die Schluckgeräusche und das Klappern der Tastatur, als Rassiat die Aussage noch einmal durchgeht. »Jetzt sag mir noch mal, wo du am achten März zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht warst.«
Karim hebt mühsam den Kopf. Er wiederholt Wort für Wort, was er, seitdem er in Polizeigewahrsam ist, schon mindestens zehnmal erzählt hat. Rassiat hört zu, aber schreibt nicht mit. »Das ist verrückt«, merkt er an.
»Was?«
»Du sagst jedes Mal exakt das Gleiche, aufs Wort genau.«
»Weil es die Wahrheit ist, können Sie gerne überprüfen.«
»Wir sind schon dabei, denn wir haben verdammt das Gefühl, dass du deine Geschichte einstudiert hast.«
»Ich sage einfach nur die Wahrheit«, wiederholt Karim.
Um wieder richtig wach zu werden, kneift er mehrmals die Augen zusammen. Da klopft es plötzlich, eine Frau steckt den Kopf durch den Türspalt. Rassiat geht zu ihr auf den Flur.
»Monsieur Palaisot ist gerade gekommen. Wollen Sie ihn befragen oder soll ich das übernehmen?«
»Ich übernehme das, kümmern Sie sich dann um Benafa?«
»Okay, bleibt er bei seiner Version?«
»Ja, er hat sich auf die Befragung vorbereitet, das merkt man. Ich glaube nicht, dass man ihm noch irgendetwas anderes entlocken kann.«
»Reicht es, um ihn dem Untersuchungsrichter zu übergeben?«
»Sein Alibi klingt überzeugend.«
»Denken Sie, er war es?«
»Nach der Sache mit den Graffiti war klar, dass der Verdacht zuerst auf ihn fallen würde. Also fast ein bisschen zu naheliegend das Ganze … So langsam glaube ich zu verstehen, wie er tickt. Der ist nicht auf den Kopf gefallen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein solches Risiko in Kauf genommen hätte.«
Rassiat nickt seiner Kollegin zu und geht in die Eingangshalle. Dort wartet Palaisot Junior bereits auf ihn, er steht mit einem Becher in der Hand neben dem Wasserspender. Dem Lieutenant fallen sogleich seine tiefen, violettfarbenen Augenschatten auf. Palaisot hat offenbar Mühe, die Augen offen zu halten. Jeder seiner Bewegungen merkt man eine ungeheure Müdigkeit an. Noch einer, der schon lange nicht mehr gut geschlafen hat.
»Monsieur Palaisot?«, fragt er und blickt sich suchend um, als hätte er ihn nicht längst entdeckt.
»Ja«, sagt der Angesprochene.
Das Kind ist dieses Mal nicht dabei. Der Lieutenant führt seinen Gast in ein freies Büro. »Setzen Sie sich«, sagt er und zieht seine Jacke aus. »Danke, dass Sie der Vorladung gleich gefolgt sind.«
»Sonst hätten Sie mich abgeholt, nehme ich mal an.«
Rassiat ringt sich ein Lächeln ab. Der junge Mann nimmt ihm gegenüber Platz, er hat Mühe, seine langen Beine unterzubringen.
»Sie gehören also auch zu den Bullen-Hassern?«
»Bullen-Hasser?«
»Sie mögen die Polizei nicht?«
Palaisot scheint ernsthaft über die Frage nachzudenken, die eigentlich nur als Provokation gemeint war. »Nicht mehr oder weniger als irgendjemanden sonst«, sagt er schließlich.
»Ausgezeichnete Antwort.«
Rassiat öffnet eine neue Datei, Zé betet brav seinen Zivilstand herunter und zuckt zusammen, als der Beamte seine juristische Vorgeschichte erwähnt. »… vom Schwurgericht freigesprochen.«
»Haben Sie mich deshalb kommen lassen?«
»Ihre Eltern sind bei Gericht tätig, richtig?«
»So ist es …«
»Das heißt, Sie können im Grunde tun und lassen was Sie wollen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, sehe ich das richtig? Das kann einem leicht zu Kopf steigen.«
Der junge Mann schüttelt energisch den Kopf.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Was haben Sie am achten März zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht gemacht?«
»Gearbeitet.«
»Das wissen Sie auf Anhieb, obwohl das eine Woche her ist?«
»Ich arbeite jeden Abend in der Woche von zwanzig Uhr dreißig bis sechs Uhr fünfundvierzig, da muss ich nicht lange überlegen, wo ich zu dieser Uhrzeit war. Rufen Sie gerne meinen Arbeitgeber an, oder, wenn Ihnen das nicht genügt, bitten Sie ihn um die Bänder der Videoaufzeichnung des Ladens.«
Rassiat notiert sich den Namen des Geschäftsführers und seine Telefonnummer. Er wird das der Vollständigkeit halber überprüfen, aber er weiß jetzt schon, dass die Aussagen des Nachtwächters sicher bestätigt werden. Er reibt sich die Augen und mustert sein Gegenüber von Kopf bis Fuß. »Ihr Adoptivsohn hat Ihnen sicher gesagt …«
»Er ist mein Mündel, nicht mein Adoptivsohn.«
»Wie auch immer, er hat Ihnen sicher gesagt, dass wir letzte Nacht bei Ihnen waren.«
»Ja.«
»Wir waren auf der Suche nach Mademoiselle Gina Lorozzi, um ihr ein paar Fragen zu stellen. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Kurz nach den Weihnachtsferien im Januar, so um den Vierten herum, glaube ich. Sie hat Weihnachten und Silvester mit uns verbracht und ist dann wieder abgereist.«
»Wohin?«
»Keine Ahnung. Sie macht das immer so, sie kommt und geht, meldet sich zwischendurch nicht bei uns. Ich weiß nie, wo sie ist, wenn sie nicht gerade bei mir zu Hause ist, und da ist sie ziemlich selten. Ab und zu kommt sie vorbei, um den Kleinen zu sehen. Ansonsten führt sie ihr eigenes Leben.«
»Ruft sie nie an?«
»Nein, sie reist sehr viel.«
»Wohin?«
»Wie schon gesagt, ich weiß es nicht.«
Rassiat massiert sich die Schläfen, er spürt eine aufkommende Migräne.
Schnell liest er die Zeugenaussage noch einmal durch. Sein Gesprächspartner zeigt keinerlei Emotionen. »Und wo ist Ihre Lebensgefährtin, Gabrielle Ross?«
Palaisot Junior lächelt gequält.
»Das ist Ihnen doch bekannt, Sie sind mit ihrem Bruder befreundet, oder etwa nicht?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich kann es nicht beweisen und habe auch nicht die Absicht, das zu tun, aber ich weiß, dass Sie beide mich mehrfach beschattet haben.«
»Wo ist sie?«, fragt er und betont dabei jede Silbe.
»In Charcot, auf Antrag ihres Bruders. Dabei fällt mir ein, dass ich seit einem Monat versuche, ihn zu erreichen. Ich vermute mal, ich kann es mir sparen, Sie nach seiner Telefonnummer zu fragen, aber vielleicht können Sie ihn bitten, sich bei mir zu melden, es ist wirklich dringend.«
»Warum?«
»Seine Schwester kann die Psychiatrie erst wieder verlassen, wenn er mit den Psychiatern gesprochen hat.«
Rassiat wirft ihm einen langen prüfenden Blick zu, bevor er seine Antwort eingibt. Er versucht im Gesicht seines Gegenübers zu lesen, was gerade in ihm vorgeht, aber er sieht dort nichts als eine unendliche Müdigkeit.
»Denken Sie, Ihre Freundin wäre in der Lage, befragt zu werden?«
»Nein«, antwortet Zé, ohne zu zögern.
»Ich werde ihr trotzdem mal einen kleinen Besuch abstatten, Sie können gerne mitkommen, wenn Sie wollen. Vielleicht ist sie auskunftsfreudiger, wenn Sie dabei sind.«
»Warum? Meinen Sie nicht, sie hat schon genug Probleme?«
»Ihr Bruder, Thomas Ross, wurde letzte Woche mit acht Schüssen getötet. Und in einem solchen Mordfall ist es üblich, die Familie zu befragen, auch wenn mir klar ist, dass seine Schwester damit nichts zu tun haben kann.«
Rassiat blickt seinem Gegenüber direkt ins Gesicht, um zu sehen, wie dieser die Nachricht aufnimmt. Zé reißt die Augen auf. Er wollte gerade aufstehen, gerät ins Schwanken. »Ist das Ihr Ernst?«, murmelt er.
»Ja, kommen Sie nun mit oder nicht? Ich denke es ist besser, Sie sind dabei, wenn sie vom Tod ihres Bruders erfährt.«
»Natürlich …«
»Wo ist ihr Mündel gerade?«
»Zuhause. Wollen Sie Mattia etwa auch befragen?«
»Das haben wir gestern schon getan, folgen Sie mir.«
Die beiden Männer steigen in ein Zivilfahrzeug. Bis nach Charcot fährt man nur eine Viertelstunde. Zu Beginn der Fahrt herrscht Schweigen im Wagen. Nach einer Weile ergreift der Polizist erneut das Wort.
»Tun Sie nicht so bedrückt, das ist lächerlich. Ich weiß, dass Sie Lieutenant Ross gehasst haben, und da er nun tot ist, wird ihre Lebensgefährtin die Klinik verlassen können. Sie dürfen also gerne lächeln, keine Sorge, ich verdächtige Sie deshalb nicht.«
»Ich lächele nicht, wenn jemand stirbt.«
Gabrielle hört Lieutenant Rassiat zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Schreibtisch, hat die Hände in den Falten ihres übergroßen Pyjamas verborgen. Mit einem Mal schaut sie dem Beamten direkt in die Augen, bis dieser den Blick senkt. Ab und zu blickt sie zu Zé herüber, als erwarte sie von ihm eine Bestätigung für das, was der Beamte ihr erzählt. Zé lehnt an der Tür und nickt nur, seine Miene verrät ebenso wenig wie die von Gabrielle.
Sie nickt nun ebenfalls, um ihrem Gegenüber zu zeigen, dass sie verstanden hat. Der Bulle mustert sie fassungslos.
»Das ist alles?«
»Tut mir leid«, sagt die Patientin, »ich stehe unter Antidepressiva.«
Gabrielle faltet ihre Beine auseinander und lässt sich vorsichtig zu Boden gleiten. Ihre nackten Füße landen geräuschlos auf dem Fliesenboden. Sie ist genauso groß wie ihr Bruder, sie hat seine Augen, seine Haare, aber nicht den gleichen Blick. Sie mag so um die fünfunddreißig sein, etwas jünger als Thomas, denkt der Lieutenant. Was für ein trauriger Anblick.
»Was erwarten Sie von mir?«, sagt sie mit schleppender Stimme.
»Nichts, ich wollte Ihnen nur den Tod Ihres Bruders mitteilen. Wir standen uns ziemlich nahe«, ergänzt er nach kurzem Zögern. Falls er gehofft hatte, bei ihr irgendwelche Anzeichen von Trauer zu finden, hatte er sich getäuscht. Das war zu erwarten gewesen. Thomas hatte ihm von ihrem extrem schwierigen Verhältnis berichtet. »Denken Sie, ich habe etwas damit zu tun?«
»Keine Ahnung, haben Sie denn etwas damit zu tun?«
»Wenn ich aus diesem verfluchten Krankenhaus herauskönnte, dann hätte ich sicher anderes im Sinn, als jemanden umzubringen, das können Sie mir glauben!«
Sie hält Lieutenant Rassiat ihre Hände hin, er wirft einen verstohlenen Blick auf ihre zitternden Finger.
»Mit diesen Händen kann man niemandem etwas zuleide tun.«
Sie legt sich auf ihr Bett, oben auf die Decke.
»Jetzt würde ich gerne ein wenig schlafen, wenn es Sie nicht stört.«
Der Beamte zögert kurz, ob er noch etwas sagen soll, entscheidet sich aber dagegen. Er erzählt ihr nicht, dass Thomas kurz nach seinem letzten Besuch bei ihr getötet wurde, dass er ein großes Risiko eingegangen war, um sie zu sehen. Eigentlich hätte er nie wieder einen Fuß in diese Stadt setzen dürfen. Die Vorstellung, dass Thomas’ Schwester das alles kalt lässt, kann er nicht ertragen.