Epilog

»Was, sie haben Siham und Gina auf freien Fuß gesetzt?«, fragt Nouria, und kann ihre Neugier nur schwer verhehlen.

Ich lächele, koste diesen Moment aus, es kommt schließlich nicht oft vor, dass man mir so interessiert lauscht, ich mache eine kleine Kunstpause, um die Spannung noch zu steigern. Dabei ist das alles andere als komisch. Aber ich habe mich schon vor geraumer Zeit dafür entschieden, mich nur noch auf die schönen Dinge zu konzentrieren und die schlechten zu ignorieren, auch wenn man dafür permanent auf der Hut sein muss und mir dazu oft die Kraft fehlt.

»Ja, sie stehen unter Hausarrest, dürfen das Departement nicht verlassen und müssen sich jede Woche auf dem Kommissariat melden, aber ihre Anwältin meint, der Hausarrest würde bald aufgehoben.«

»Und deine Mutter?«

Ich starre nach unten auf das staubige Linoleum. Nouria hat sich nie großartig um die Sauberkeit ihres Sprechzimmers geschert. Sie sagt, es koste sie schon genug Zeit, die Köpfe zu entstauben.

»Ist im Knast. In sechs Monaten wird sie dem Ermittlungsrichter vorgeführt. Ihr Anwalt meint, sie könne bis zu Prozessbeginn auf freien Fuß gesetzt werden, auch wenn sie mit Sicherheit zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Aber vielleicht bekommt sie mildernde Umstände und die Strafe fällt nicht so hart aus,.«

»Nicht so hart … das heißt?«

Ich verziehe das Gesicht.

»Es geht um einen Bullen, also mindestens zehn Jahre.«

Nouria schweigt. Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her.

»Das heißt, bei guter Führung fünf Jahre, und Mama ist sicher nicht der Typ, der im Gefängnis eine Revolte anzettelt, vielleicht ist sie an meinem sechzehnten Geburtstag wieder draußen.«

Meine Psychologin lächelt matt. Umso besser, so habe ich das Gefühl, ich müsste sie aufmuntern, das zwingt mich dazu, das Positive zu sehen, was nicht gerade einfach ist in dieser Situation.

»Das Gericht hat meinem Besuchsantrag stattgegeben. Ich kann sie mit Zé zusammen besuchen, das tun wir bald.«

»Und deine Schwester? Wie verkraftet sie das?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Das ist Gina, Gina ist unbezwingbar, wie eine Mauer.«

»So wie du, oder?«

»Wenn ich groß bin, möchte ich so sein wie sie.«

Wir schauen aus dem Fenster, im Gegensatz zum Zimmer sind die Fenster immer penibel geputzt.

»Und die Pistole? Wie ist die zu deiner Mutter gekommen?«

Ich senke sicherheitshalber die Stimme. Sie beugt sich zu mir herüber, um mein Flüstern zu hören.

»Gina wusste nicht, was sie danach damit machen sollte … nach dem, was passiert war. Sie ist in Panik geraten, hat meiner Mutter alles erzählt und Mama hat die Waffe dann sofort an sich genommen, als sie von Ginas Verhaftung hörte.«

Meine Psychologin pfeift bewundern durch die Zähne.

»Ganz schön mutig, deine Mutter.«

»Kommt immer drauf an.«

»Und Gabrielle?«

»Sie haben sie entlassen und ihr tonnenweise Pillen mitgegeben, die sie nicht nehmen wird.«

»Zé?«

»Neulich habe ich gesehen, wie er in Gabrielles Armen geweint hat. Da wiederholte er dauernd den Namen dieses Mädchens, Émilie.«

Sie lächelt.

»Du solltest das Spionieren sein lassen.«

»Aber es ist sehr nützlich, die Leute zeigen sich immer nur von ihrer besten Seite oder auch ihrer schlechtesten, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Seit ich weiß, wie traurig er wegen diesem Mädchen ist, fühle ich mich ihm viel näher, jetzt kann ich ihn besser verstehen.«

»Ganz schön reif für dein Alter!«

»Ist nicht immer von Vorteil.«

»Und wie fühlst du dich so insgesamt? Mir scheint, es geht dir deutlich besser als beim letzten Mal.«

Ich lächele.

»Schon okay.«

»Und die Schule?«

»Läuft schlecht, aber ist mir egal.«

Ich muss auf einmal grundlos lachen. Sie wirft mir einen fragenden Blick zu.

»Ich habe auf einmal haufenweise Freunde.«

»Warum?«

»Weil meine Mutter den Mörder von Saïd Zahidi getötet hat, die Hälfte der Schüler kommt aus Verrières, meine Mutter ist in unserer Schule eine Heldin.«

Ich übertreibe etwas. Es gibt auch viele andere, die mich als Sohn einer Mörderin bezeichnen, darunter auch einige, die in Verrières aufgewachsen sind. Aber das ist mir egal. Ich weiß, was gerecht ist und was nicht. Siham, meine Mutter und meine Schwester sind die Einzigen, die versucht haben, ein Unrecht wiedergutzumachen. Gina mag eine Mörderin sein, trotzdem schlafe ich besser, seit Papa und Saïd gerächt wurden. Das Ding ist auch nicht mehr aufgetaucht, ich brauche keinen Tennisball mehr an meinem Pyjama. »Und dein Bruder?«

»Stefano kennt die Wahrheit nicht, aber er hat sicher so eine Ahnung. Er schickt meiner Mutter jede Woche Geld ins Gefängnis.«

Nachdem Nouria mich in die Eingangshalle begleitet hat, ruft sie mich noch mal zurück. »Ach ja, Mattia, du hast mir nie gesagt, wie dein Vater heißt.«

Ich lächele.

»Ryad, er heißt Ryad.«

Zé und Gabrielle warten in einem Café um die Ecke, sie stoßen gerade auf Amélia an. Heute Abend sind wir bei den Eltern von Siham zum Essen eingeladen. Sie fühlen sich wegen der Tat meiner Mutter mir gegenüber in der Pflicht. Ich habe keine Ahnung, ob ihre Tochter ihnen die Wahrheit gesagt hat, oder ob sie es ahnen, oder ob sie tatsächlich nicht wissen, was wirklich passiert ist. Manchmal bleibt Monsieur Zahidis Blick jedoch an Siham und Gina hängen, ein fragender, ängstlicher Blick.

Bevor Mama ins Gefängnis ging, hat Gina ihr versprochen, auf mich aufzupassen. Sie nimmt diese Aufgabe sehr ernst. Seit sie in der Region bleiben muss, lebt sie mit Siham in einer WG. Eines Abends hörte ich, wie Gina mit Zé sprach. Sie sagte, sie könne mich gerne zu sich holen, wenn er das wolle und ich einverstanden sei. Er sagte nur: »Kommt nicht infrage«, und dabei klang eine leichte Panik an, da musste ich lächeln. Das kommt mir gelegen. Sie arbeitet nicht und hat viel Zeit, mit mir rumzuhängen.

Nachdem Karim ein Alibi anführen konnte, wurde er aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Ich sehe ihn manchmal, ihn und Nadir, wenn meine Schwester mich einlädt.

Gabrielle will immer noch sterben. Ich glaube, sie bleibt nur noch so lange bei uns, wie Zé braucht, um sich ganz langsam an diese Idee zu gewöhnen. Ich möchte nicht daran denken, aber ich glaube, ich bin darauf vorbereitet. Bleibt abzuwarten, wie Zé das verkraftet. Er akzeptiert so langsam, dass er nichts dagegen tun kann. Wie sagte meine Mutter noch? Man kann nicht aus Liebe zu einem anderen am Leben bleiben.

Ich werde für ihn da sein, wenn sie uns verlässt.

Und dann blicke ich an dem trostlosen Frauengefängnis hoch. Überall Stacheldraht, Wachtürme, bewaffnete Aufseher.

Bevor man das Sprechzimmer erreicht, muss man unter den argwöhnischen Augen der Gefängniswärter eine Sicherheitsschleuse passieren und einen engen Flur durchqueren.

Da sitzt Mama, etwas abgemagert, aber sie lächelt. Ein Wunder ist passiert, während der halben Stunde, die uns zur Verfügung steht, tritt kein einziges Mal Stille ein oder nur für einen ganz kurzen Moment. Sie sagt, es gehe ihr gut, endlich könne sie sich ausruhen, es sei dort gar nicht so übel, sie sei nicht unglücklich.

Als ich auf der Fahrt zurück in die Stadt Zés Blick im Rückspiegel auffange, weiß ich, dass er nicht darauf hereingefallen ist und sich fragt, ob ich auch gemerkt habe, dass sie gelogen hat. Hey, ich bin vielleicht erst elf, aber ich bin nicht bescheuert. Trotzdem tue ich so, als würde ich ihr glauben. Ich bin ein Kind, ich habe das Recht auf noch ein paar Jahre Unbeschwertheit.

Mir geht’s okay, ehrlich. Die ganze Gemeinheit der Welt kann mir nichts anhaben. Dafür habe ich meine Mauer.

Ende