Der Schweiß rinnt mir über den Rücken. Es fühlt sich an, als hätte ich eine Stunde in der Sauna getanzt. Ich lasse mich auf eines der Sofas an der Wand fallen. Anouk und Mabel tanzen total verrückt auf einen Song, und Bo steht wieder ganz zufällig bei ihrem blonden Typen. Ich muss keine Hellseherin sein, um zu wissen, wie das endet.
Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Mein Herz klopft allmählich etwas ruhiger, meine Atmung verlangsamt sich. Noch sechs Tage, dann ist dieser elende Urlaub vorbei. Wäre es nur …
»Darf ich mich setzen?« Eine dunkle, schwere Stimme dringt in mein Bewusstsein.
Erschrocken schaue ich auf.
Ein männliches Gesicht schwebt über mir. Dunkle Augen, breite Kinnlinie, Millimeterschnitt. Ich erkenne ihn als einen der Jungs von der Bar, mit denen Bo vorhin gequatscht hat.
»Oh, äh, ja, natürlich.« Ich rücke ein Stück und schaue mich dabei um. Alle anderen Sofas sind noch leer. Warum will er ausgerechnet hier sitzen?
Er setzt sich neben mich. Sein Bein berührt meins. Es dauert etwas zu lang, bis er es wegzieht.
»Du gehörst auch zu den Mädels, oder?« Er macht eine Kopfbewegung zur Tanzfläche hinüber.
»Meinst du Bo, Anouk und Mabel?«
»Ja, genau.«
Er trinkt einen Schluck von seinem Bier. Ich sehe, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpft, als hätte er einen Tischtennisball verschluckt.
»Zach«, sagt er und streckt die Hand aus.
»Lilly.« Meine Hand verschwindet fast vollständig in seiner.
»Lilly, schöner Name.«
Er lächelt mich an, wodurch er gleich um einiges freundlicher aussieht.
»Lilien sind die Lieblingsblumen meiner Mutter«, erzähle ich. »Zu meiner Geburt bekam sie einen großen Strauß von meinem Vater. Wusstest du, dass weiße Lilien am häufigsten bei Begräbnissen verwendet werden? Eigentlich ist das ziemlich schade, denn …« Ich schließe abrupt meinen Mund, weil mir bewusst wird, dass ich mich gerade total lächerlich mache.
»So ein Zufall – Lilien sind auch meine Lieblingsblumen … Lilly.« Zach legt lässig einen Arm auf die Lehne hinter mir. Ich rutsche ein Stück vor auf dem Sofa, um Abstand zu halten. Er scheint es nicht zu merken.
»Ihr kommt doch auch aus Amsterdam?«, fragt er, und nimmt einen weiteren Schluck Bier.
»Ja.«
»Dann haben wir ja auf jeden Falls eins gemeinsam«, sagt er und zwinkert mir zu. »Ich habe doch gleich gemerkt, dass uns was verbindet.«
Das geht ihm ein bisschen zu leicht von den Lippen – bestimmt hat er den Spruch schon öfter bei anderen Mädchen in Diskotheken geprobt.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Bo zu mir herüberschaut. Mein Mund formt ein lautloses Hilfe.
Sie grinst nur und hebt einen Daumen, als sei sie der Ansicht, ich wäre auf der richtigen Spur.
»Vielleicht können wir uns in Amsterdam ja mal verabreden«, sagt Zach langsam. »Ich studiere Betriebswirtschaft im zweiten Jahr.«
Ich nicke, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll.
»Auf welche Schule gehst du eigentlich?«
»Auf das Amsterdams Lyceum.«
Er tut so, als würde er angestrengt nachdenken. »Ist das nicht auch die Schule von dem Mädchen, das vor Monaten verschwunden ist?«
Ich weiß nicht, wie lange ich ihn anschaue. Es können Sekunden sein, aber auch Minuten. Mein Kopf ist wie leergefegt. Was soll ich machen? Einfach die Wahrheit sagen.
»Ja, das stimmt«, sage ich mit rauer Stimme.
»Kanntest du sie?«
Von ganz weit weg höre ich meine eigenen Worte kommen. »Ja, sie war eine meiner besten Freundinnen.«
»Wirklich?«
Etwas in Zachs Gesicht verändert sich. Seine Augenbrauen schießen aufeinander zu, und seine Pupillen werden klein, nicht vor Schreck, sondern von einer Art neu angefachtem Interesse. Ich fühle mich unbehaglich.
Wahrscheinlich muss etwas von dieser Verwirrung auf meinem Gesicht zu sehen sein, den Zach sagt: »Ich glaube, das hat in so ziemlich jeder Zeitung gestanden, echt heavy, die Geschichte. Das muss ja ein richtiger Psycho gewesen sein, der sie entführt hat. Wie schrecklich, dass sie deine Freundin war.«
Zach sieht mich mit einem neutralen Blick an, als hätte jemand sein Gesicht wieder glattgebügelt. Habe ich mir den Ausdruck von eben nur eingebildet?
Ich spüre, wie er seinen Arm locker um meine Schulter legt.
»Ich wüsste gern mehr von dir«, flüstert er mir ins Ohr. »Du bist sehr … interessant.«
»J-ja.« Meine Muskeln spannen sich wie bei einem Tier, das in der Falle sitzt.
»Hier ist es sehr warm.« Zachs Finger bewegen sich über meinen Rücken nach unten. »Sollen wir rausgehen?«
Mein Hirn sucht fieberhaft nach Ausreden. »Ich, äh, ich m-muss …«, stottere ich.
Es passiert blitzschnell. Zachs Arme ziehen mich an sich, und seine Zunge schiebt sich in meinen Mund.
Ich bin zu perplex, um zu reagieren. Völlig überrumpelt lasse ich seinen Kuss über mich ergehen. Seine Zunge zuckt hin und her, als hätte Zach etwas in meinem Mund verloren. Ich schmecke seinen Speichel, dick und schleimig, und ich rieche sauren, abgestandenen Schweiß. Ein Würgereiz steigt von meinem Magen nach oben.
»Nein!«
Ich winde mich aus seinen Armen. Zachs Blick ist so distanziert, dass ich ihn fast nicht wiedererkenne. Der nette, interessierte Junge von eben ist verschwunden.
»S-sorry, aber ich habe einen Freund«, lüge ich und versuche, seinen Geschmack runterzuschlucken.
»Das ist für mich kein Problem«, sagt er tonlos.
Eilig springe ich auf. »Also, ich gehe dann mal«, rattere ich hinunter. »Nett, dass wir uns unterhalten haben.«
»Du brauchst nicht wegzugehen«, sagt Zach.
»Das weiß ich, aber ich muss zur Toilette.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, mache ich mich davon. Meine Wangen brennen, und mein Herz wummert. Ich schlüpfe in die Damentoilette. Zum Glück ist da gerade niemand. Ich lehne mich an die kalte Fliesenwand. O mein Gott, was ist da eben passiert?
Stell dich nicht so an, sage ich zu mir selbst. Es war nur ein Kuss. Wahrscheinlich hat Zach dich jetzt schon vergessen.
Ich gehe zum Waschbecken und betrachte mich im Spiegel. Meine Augen wirken panisch, und an meinem Hals sind rote Flecken. Warum musste Zach ausgerechnet von Emma anfangen? Es ist, als würde sie mich überallhin verfolgen.