Ich drehe mich noch einmal um. Der Schlafsack hat sich wie eine Zwangsjacke um meine Beine gewickelt. Wütend versuche ich, ihn abzustreifen, aber dadurch zurrt er sich nur noch fester. Mistding.
Neidisch lausche ich den ruhigen Atemzügen von Lilly, Anouk und Mabel. Es ist fast halb drei, und ich habe noch kein Auge zugemacht. Ich wünschte, ich hätte dieses verdammte Gläserrücken nie vorgeschlagen.
Ob es wirklich Emmas Geist war? Nein, natürlich nicht, Bo, rede ich mir zum hundertsten Mal ein. Geister gibt es nicht. Du brauchst keine Angst zu haben, dass jemals jemand dahinterkommt, was du getan hast. Bleibt jedenfalls zu hoffen …
Ich rolle mich auf den Rücken. Meine Blase protestiert. Mist, auch das noch. Ich versuche, den Drang zu ignorieren, aber sie ist zu voll und tut nach ein paar Minuten richtig weh.
Verdammt. Ich winde mich aus dem Schlafsack und schlüpfe in meine Flipflops. Sie sind kalt und feucht an meinen bloßen Füßen. Zitternd öffne ich den Reißverschluss und schließe ihn wieder hinter mir. In der stillen Nacht klingt das sehr laut.
Draußen ist es so dunkel, dass ich von nichts mehr als verschwommene Konturen unterscheiden kann. Mit ausgestreckten Armen, Schritt für Schritt, um Zeltleinen und andere Hindernisse zu meiden, gehe ich zu den Toiletten. Grelle Außenlampen beleuchten das Backsteingebäude. Nachtfalter und andere Insekten prallen gegen die Leuchten. Tock. Tock. Tock. Es klingt unheilvoll.
Hör auf, Bo, schimpfe ich mit mir selbst, jetzt werd mal nicht paranoid.
Ich betrete eine der Toilettenkabinen und ziehe meinen Slip hinunter. Ohne mich auf die Brille zu setzen, lasse ich es einfach laufen. Ich kann den Strahl hören und spüre warme Tröpfchen an den Oberschenkeln. Schließlich ziehe ich meinen Slip wieder hoch.
Und dann höre ich etwas. Ein leises Schlurfen, als würde jemand auf der anderen Seite der Klotür stehen. Ein anderer Camper? Angespannt lausche ich. Es herrscht Totenstille. Habe ich mir das nur eingebildet?
Ja, natürlich, rede ich mir wieder gut zu. Stell dich nicht so an!
Aber es klingt um einiges weniger überzeugt als eben.
Vorsichtig drücke ich die WC-Tür einen Spalt auf. In meinem Kopf spielen sich so allerlei Unheilszenarien ab. Ein Mann mit einem Messer. Ein Vergewaltiger. Ein Psychopath. Würde mich jemand vermissen, wenn ich jetzt ermordet würde? Meine Eltern und meine Schwester jedenfalls nicht. Und Mabel, Anouk und Lilly? Es bleibt beängstigend still in meinem Kopf.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich über die Schwelle trete. Mein Blick schießt durch den Raum. Die einzige Person, die ich sehe, bin ich selbst im Spiegel. Im grellen Neonlicht wirkt mein Gesicht blass und verängstigt. Trottel, denke ich.
Ohne mir die Hände zu waschen, renne ich raus. Fast könnte man meinen, die Nacht wäre noch dunkler geworden. Ich schaue nach oben. Alle Sterne sind verschwunden.
Komm schon, du bist gleich am Zelt. Was kann schon groß passieren? Nichts. Also los!
Vorsichtig laufe ich in die Dunkelheit. Warum habe ich nicht einfach neben unserem Zelt gepinkelt? Das hätten Lilly, Mabel und Anouk doch nie spitzgekriegt. Aber nein, ich Trottel mache mich ohne Taschenlampe auf …
Ein Seufzer. Als würde jemand hinter mir ausatmen. Stocksteif bleibe ich stehen und schaue in die Richtung, aus der dieser Laut kam. Sehen kann ich nichts, aber irgendwie habe ich das Gefühl, nicht allein zu sein.
Wieder muss ich an das Schlurfen im Toilettengebäude denken. Ich weiß, dass ich mich anstelle. Dass selbst wenn da jemand ist, mir auf einem ausgebuchten Campingplatz keiner was antun kann. Aber das hilft nicht. Alle Ängste, die ich ein halbes Jahr unterdrückt habe, steigen wieder hoch.
Ohne nachzudenken fange ich an zu rennen. Zwischen allen Zelten hindurch, an Stühlen und Tischen vorbei. Mein Mund ist staubtrocken, und meine Atmung pfeift. Aber ich bin fast da. Nur noch …
Ich höre etwas hinter mir! Ich werfe einen Blick zurück … und bleibe mit dem Fuß an etwas hängen.
Mit einem dumpfen Knall schlage ich auf den Boden. Verwirrt und außer Atem bleibe ich liegen.
Ein Schatten löst sich aus dem Dunkel.
»N-nein!«, stammele ich. »Nein!«
Auf allen vieren versuche ich wegzukriechen.
Kalte Finger auf meinem Arm, eine große Hand, die mich festhält. Der Schatten flüstert mir etwas ins Ohr, kaum hörbar. Es ist zu Ende. Vorbei …
Wieder sagt der Schatten etwas, jetzt aber deutlicher. «Ça va?«
Schwindelig vor Angst schaue ich über meine Schulter. Ein älterer grauhaariger Mann schaut mich an, seine Hand liegt auf meinem Arm.
»Are you okay?«, fragt er.
Ich will etwas sagen, aber stattdessen fange ich an zu weinen. Große warme Tränen kullern über meine Wangen.
»Ne pleure pas, Mademoiselle.« Seine Augen sehen freundlich aus. »Tout va bien.«
»D-da war jemand im D-Dunkeln«, weine ich. »W-wirklich.«
Er nickt, obwohl ich weiß, dass er mich nicht verstehen kann. »Où est votre tente? Where is your tent?«
»D-dort.« Ich zeige in die Richtung unseres Zelts.
»I’ll bring you.«
Ohne ein weiteres Wort nimmt er meine Hand. Ich umklammere seine ganz fest und lasse mich wie ein kleines Kind mitführen. Es fühlt sich sicher an, fast vertraut. Papa, denke ich im Stillen, als würde mein Vater neben mir gehen und nicht dieser fremde Mann. Dieser Gedanke lässt mich noch mehr weinen.
Wir bleiben vor unserem Zelt stehen.
»Here you are.«
»M-merci.« Ich lasse ihn los und schlucke meine Tränen hinunter. Gebückt schlüpfe ich unter der herabhängenden Zeltplane durch.
»Au revoir«, murmele ich mit einem Blick über die Schulter.
Der Mann ist verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
Ein paar Sekunden lang spähe ich ins Dunkel. Werde ich allmählich verrückt? Wieder bleibt es erschreckend still in meinem Kopf.
Ich gehe weiter ins Zelt hinein. Sie schlafen noch alle. Das beruhigt mich. Wenn Anouk, Lilly und Mabel schlafen können, brauche ich vor nichts Angst zu haben. Oder? Ich schlüpfe aus den Flipflops und taste mich kriechend zu meinem Schlafsack. Der Stoff ist kühl und klamm an meiner Haut. Zitternd schließe ich den Reißverschluss.
Der Reißverschluss!
Ich schnappe nach Luft. Der Reißverschluss vom Zelt war offen, als ich gerade hineinschlüpfte … Dabei bin ich mir sicher, dass ich ihn vorhin zugemacht habe.
VOLKSKRANT 28.03.19
Möglicher Zusammenhang in Vermisstenfällen Emma Timmers und Annelies Wilson
Von unserem Korrespondenten
AMSTERDAM – Die Amsterdamer Polizei vermutet einen Zusammenhang zwischen der vermissten 16-jährigen Emma Timmers und der 17-jährigen Annelies Wilson.
Emma Timmers verschwand vor drei Monaten, als sie nach einem Schulfest auf dem Heimweg war. Seither gab es von ihr kein Lebenszeichen. Nur ihr Fahrrad, ihr Handy und ihre blutige Winterjacke wurden gefunden.
Die Sache scheint eine auffällige Ähnlichkeit mit einem Vermisstenfall im Oktober letzten Jahres in Rotterdam aufzuweisen. Damals verschwand Annelies Wilson spurlos – ebenfalls nach einem Schulfest. Auch von Wilson wurden nur ihr Fahrrad, ihr Handy und eine blutige Jacke gefunden. Die Spurensuche hat weiter nichts ergeben.
Laut einer Polizeisprecherin muss noch untersucht werden, inwiefern die beiden Vermisstenfälle tatsächlich zusammenhängen.
SIE HABEN DIE VERBINDUNG HERGESTELLT …
MUSS ICH MIR SORGEN MACHEN?